Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 23.01.2025 – B 7 K 23.30046
Titel:

Asyl, Äthiopien: Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer weiblichen Genitalverstümmelung

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3 Abs. 1, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
Leitsätze:
1. Vor allem in urban geprägten Regionen ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Mutter der Klägerin gegen ihre eigentliche Einstellung eine Beschneidung zulassen oder gar veranlassen werde. Wenn bereits aktuell bei der überwiegenden Anzahl von Mädchen keine Beschneidung mehr durchgeführt wird, so ist auch nicht zu erwarten, dass die der Beschneidung grundsätzlich ablehnend gegenüberstehende Mutter der Klägerin eine solche tolerieren werde. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es gibt keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien gegenwärtig landesweit, derart desolat wäre, dass der Klägerin der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass erhebliche Hilfsgelder – nicht zuletzt auch von Deutschland – bereitgestellt werden. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Äthiopien, beachtliche Wahrscheinlichkeit einer weiblichen Genitalbeschneidung (verneint), Angaben zur Herkunft und Fluchtgeschichte nicht glaubhaft, Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis während des laufenden Asylverfahrens an den Vater der Klägerin (bejaht) und die Klägerin selbst (verneint), Berücksichtigung familiärer Belange im Asylverfahren, Asylverfahren, familiäre Bindungen, Genitalverstümmelung, Rückkehrprognose, minderjährige Frau
Fundstelle:
BeckRS 2025, 3587

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist äthiopische Staatsangehörige und wurde am …2021 in Deutschland geboren.
2
Die Asylanträge beider Elternteile (U.v. 29.1.2020 – B 7 K 17.32300) und der beiden Brüder der Klägerin (U.v. 29.1.2020 – B 7 K 19.31515 und Bescheid v. 27.11.2019 – Gz. …*) sind ohne Erfolg geblieben. Gleiches gilt für einen Folgeantrag der Eltern und Geschwister der Klägerin (Az. B 7 K 20.31365 und nachfolgend BayVGH, B.v. 26.7.2021 – 23 ZB 21.30665).
3
Aufgrund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 1, 2 AsylG galt mit dem 25.11.2021 ein Asylantrag für die Klägerin als gestellt. Am 16.12.2021 erteilte das Bundesamt der Mutter der Klägerin diverse Belehrungen und gab ihr – soweit nicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens verzichtet wird – auf, innerhalb von zwei Wochen schriftlich die Asylgründe für die Klägerin mitzuteilen.
4
Daraufhin wurde schriftlich geltend gemacht, in Äthiopien sei der Ausnahmezustand erklärt worden, es drohe Hungersnot und eskalierende Gewalt. Eine Rückkehr nach Äthiopien sei den Eltern der Klägerin nicht möglich. Zudem drohe der Klägerin in Äthiopien die Beschneidung. Ohne diese würden sie als Familie in Äthiopien geächtet.
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Die Mutter gab in ihrer Anhörung betreffend das Asylverfahren der Klägerin am 25.05.2022 u.a. an, sie habe vor ihrer Abreise aus Äthiopien für zwei Tage in … gelebt. Ursprünglich komme sie aus …, das sei eine große Stadt, aber geboren sei sie in …, das sei ein kleines Dorf, befinde sich aber in … An Verwandten im Heimatland habe sie ihre Eltern, Mutter und Vater, drei Schwestern, vier Brüder und eine Tante. Aber die Mutter habe keinen Kontakt mehr zu denen. Sie habe zu niemandem der Familienangehörigen mehr Kontakt. Alle Verwandten hätten damals in … gelebt.
6
Befragt nach den Asylgründen ihrer Tochter gab sie an, es gebe in Äthiopien keine Frauenrechte sowie Frauenunterdrückung. Die Mädchen würden im minderjährigen Alter unfreiwillig verheiratet. Sie müssten sich unfreiwillig beschneiden lassen. Außerdem dürfen sie nicht in die Schule gehen wie sie wollten. All diese Dinge seien ihr persönlich passiert und sie wolle nicht, dass das auch ihrer Tochter passiere.
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Auf Frage, wer bezüglich künftiger Ehe, Beschneidung und Schulbesuch entscheide, gab sie an, zum größten Teil werde es als Kultur angesehen, dass die Mädchen beschnitten werden sollten, dass sie unfreiwillig einmal heiraten müssten, genau wie die Schule auch. Auf Frage, wer den Ehemann aussuche, gab sie an, also wenn ein Mann eine Frau gut finde, sage er seiner Familie Bescheid und die gingen zu den Eltern der Frau und wenn die Eltern ja sagten, dann würden sie die Frau nehmen. Wenn nicht, dann werde sie entführt aus der Schule. Die Eltern dürften nicht nein sagen, weil sie sonst gegen die Kulturgesetze verstießen. Auf Nachfrage, was sie damit meine, dass gegen die Kulturgesetze verstoßen werde, gab sie an, sie habe damit gemeint, dann werde die Regel gebrochen und man werde von der Gesellschaft ausgeschlossen. Dann würde die Gemeinde dazu kommen und die Entscheidung treffen und die Tochter weggeben. Auf Frage, ob man dem nicht durch einen Umzug in eine größere Stadt entgehen könne, gab sie an, erstens werde es sehr schwierig woanders zu wohnen und zweitens wisse sie nicht, ob sich was geändert habe, aber egal, wohin man ziehe, es werde dort keinen großen Unterschied geben. Angesprochen auf das Thema der Beschneidung gab die Mutter an, sie persönlich sei dagegen. Sie sei persönlich nicht beschnitten worden, aber es sei versucht worden. Als es versucht worden sei, sei die Mutter verschwunden und zu ihrer Tante gegangen, da sei sie neun Jahre alt gewesen. Es sei die Gesellschaft und die Nachbarn, die über die Beschneidung entschieden. Auf Frage, ob die Eltern Entscheidungsmacht hätten, gab sie an, die hätten ein Recht dazu, aber es werde ihnen weggenommen. Auf Nachfrage, was sie damit meine, gab sie an, die Frauen wüssten, dass die Beschneidung schrecklich und schmerzhaft sei und trotzdem müssten sie sie durchführen und wenn nicht, würden sie die Kulturgesetze und Regeln brechen.
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Auf Frage, wie es gekommen sei, dass die Mutter bei der Tante sicher vor Beschneidung gewesen sei, gab sie an, ihre Tante sei absolut gegen die Beschneidung gewesen, sie würde die Beschneidung nur durchführen, wenn die Männer oder die Gesellschaft es verlangten. Die Mutter der Klägerin sei weiter gesucht worden, aber habe sich bei ihrer Tante versteckt. Auf Nachfrage, weshalb die Tante die Mutter dann nicht einfach der Gesellschaft übergeben habe, nachdem sie gerade gesagt habe, wenn dies verlangt werde, dann hätte auch die Tante keine andere Wahl gehabt, führte sie aus, die Tante habe ihnen gesagt, dass sie die Mutter der Klägerin zur Beschneidung bringen werde und dann hätten sie auf die Tante gehört. Die Tante habe das nur gemacht, um die Mutter der Klägerin zu schützen, damit sie nicht unter diesen Schmerzen leiden müsse. Die Tante habe denen auch versprochen, dass sie die Mutter der Klägerin wieder zurückbringe, wenn die Wunde verheilt sei. Dadurch habe sie dann Glück gehabt, bei der Tante zu bleiben und nicht beschnitten zu werden.
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Auf Frage, ob im Falle der Rückkehr die Mutter ihre Töchter beschneiden lassen würde, gab sie an, sie werde alles tun, damit ihre Tochter nicht beschnitten werde. Aber sie könne es dem Bundesamt nicht versprechen, dass das nicht durchgeführt werde. Auf Nachfrage, was sie damit meine, sie könne das nicht versprechen, gab sie an, erstens, wie sie schon gesagt habe, gebe es keine Frauenrechte, die Verantwortung der Eltern werde nicht geachtet. Sie würden ihr die Tochter wegnehmen und sie beschneiden lassen, wenn sie nicht das tue, dann sagten sie, sie verstoße gegen die Kulturgesetze und das habe sie damit gemeint, wenn sie gesagt habe, sie könne es nicht versprechen. Auf Frage, was so schlimm wäre, gegen die Kulturgesetze zu verstoßen und damit seine eigene Tochter zu retten, gab sie an, dann müsse sie das Dorf oder die Stadt verlassen. Dann werde sie verachtet, weil sie das Gesetz gebrochen habe. Dann werde sie auch von der Gesellschaft gehasst. Dann ließen sie auch ihre Tochter nicht mehr in die Schule gehen. Dann gebe es auch in der Gesellschaft keine sozialen Kontakte, man sei dann auf sich alleine gestellt und lebe in Einsamkeit. Die Mutter bejahte die Frage, ob sie von der Gesellschaft ausgeschlossen worden sei. Für die Mutter der Klägerin sei es schwierig gewesen dort zu leben, ihre Tochter dürfte nicht heiraten, habe keine Möglichkeit die Schule zu besuchen und man werde nicht geachtet, weil man jemand sei, der von der Gesellschaft verachtet werde. Auch die allgemeine Situation in Äthiopien sei schlecht und ihrer Tochter könne so viel passieren. Auf Frage, ob die Mutter gewusst habe, dass die Beschneidung seit dem Jahr 2005 auch in Äthiopien bestraft werde, gab sie an, es gebe eine Theorie davon, aber in der Praxis werde es nie umgesetzt. Dass die Beschneidung in Deutschland strafrechtlich verfolgt werde, sei der Mutter der Klägerin bekannt.
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Der Vater der Klägerin gab in der Anhörung betreffend die Asylgründe der Klägerin an, er habe zuletzt in … gelebt. Dort habe er zwei Jahre und vier Monate im Gefängnis gesessen. Als er entlassen worden sei, sei er direkt in den Sudan weitergereist. Davor habe er in … gelebt. Das sei eine große Stadt und es gebe ein kleines Dorf namens …, wo er gewohnt habe. An weiteren Verwandten im Heimatland habe die Klägerin Vater und Mutter, zwei Schwestern und zwei Brüder, vier Tanten und einen Onkel. 2007 sei der Vater des Vaters von Polizisten abgeholt worden und seitdem wisse der Vater nicht, ob er noch am Leben sei. Ein Bruder sei 2008 von der Universität abgeholt und umgebracht worden. Zu seinen anderen Verwandten habe er keinen Kontakt mehr. Die Mutter des Vaters lebe in Äthiopien im Dorf … Die Tanten wohnten im selben Dorf.
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Asylbegründend gab er an, er wolle erstens sagen, dass es in Äthiopien keine Frauenrechte gebe. Eltern könnten die komplette Verantwortung über ihre Kinder nicht übernehmen. Er habe nur seine Kinder auf die Welt gebracht, aber die Entscheidungen über sie würden von der Gesellschaft getroffen. Die Klägerin müsse sich unfreiwillig beschneiden lassen. Es gebe keine Freiheit für sie, ihre Meinung zu äußern und für sich selber eine Entscheidung zu treffen. Die Frauen dürften auch nicht zur Schule gehen. Ihre Entscheidung oder ihr Wille werde von jemand anderem entschieden. Wenn er Kinder bekomme und für sie etwas nicht entscheiden könne, könne er sie nicht zur Schule schicken und sie selber könnten keine Entscheidung treffen und sich selber keinen Weg aufbauen, so dass er sich als Vater nicht vorstellen könne, dann dort zu leben. Diese Entscheidungen würden von anderen Personen getroffen. Er wolle nicht, dass sie ein unglückliches Leben führe. Was die Beschneidung angehe, es werde nicht nach den Eltern gefragt, das werde von den Dorfbewohnern entschieden. Das sei es erstmal.
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Der Vater der Klägerin sei seit 2011 verheiratet, er habe sie in … geheiratet, es sei dieselbe Frau, die heute hier sei. Er lebe mit ihr und den Kindern zusammen. Über die Kinder entscheide in Äthiopien die Gesellschaft aus den Dörfern. Auf Nachfrage, dass die Gesellschaft doch selber Kinder habe und ob am Ende doch die Eltern entschieden, gab er an, in dieser Gesellschaft, die dort wohne, gebe es Leute, die gewählt würden und diese Leute würden die Entscheidung darüber treffen, was mit den Kindern passiere. Auf Nachfrage, was passiere, wenn man sich als Eltern gegen die Entscheidung stelle, gab er an, wenn er nein sagen würde, würde er gegen die Kulturgesetze verstoßen. Er sei dann auch gegen die Leute, die gewählt worden seien. Es könne auch vorkommen, dass er bestraft werde, dass er Geld zahlen müsse oder sogar ins Gefängnis komme. Auf Frage, ob er gezwungen worden sei, seine Frau zu heiraten oder ob es seine eigene Entscheidung gewesen sei, gab er an, nein, sie hätten sich verliebt.
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Auf Nachfrage, ob es also seine freie Entscheidung gewesen sei und nicht die der Gesellschaft, gab er an, ja, er dürfe sich freiwillig eine Frau aussuchen und sie heiraten, aber seine Frau dürfe das nicht. In ihrem Fall sei es aber so nicht gewesen, sie hätten sich ineinander verliebt. Auf Nachfrage, ob es also doch in einer Art Entscheidungsfreiheit gebe, gab er an, allgemein sei das so, dass Frauen Männer nicht aussuchen dürften, mit ihnen beiden sei das nur Glück gewesen. Angesprochen auf seine persönliche Einstellung zur Beschneidung gab er an, damals habe er die Beschneidung in Ordnung gefunden, weil er damit aufgewachsen und nichts anderes gewohnt gewesen sei. Aber heutzutage empfinde er es so, als ob man jemand ein Leben wegnehme. Seine Tochter würde er niemals beschneiden lassen, er würde sich fühlen, als ob er sie umbringen würde. Er würde alles geben, um sie zu beschützen, aber in Äthiopien könne er es sich nicht vorstellen, sie davor zu beschützen. Auf Frage, wie er das meine, gab er an, er würde sie ja gerne beschützen, aber ihm würde die Entscheidung von der Gesellschaft weggenommen werden. Er hätte keinen Einfluss darauf. Er könne für sie dort keine Entscheidung treffen. Auf Frage, ob er bei Rückkehr nicht einfach behaupten könne, dass sie schon beschnitten sei, obwohl es nicht stimme und wer es nachprüfen können sollte, gab er an, an dem Tag, wo sie nach Äthiopien kommen würde, würde erstens von den Leuten, die eine Beschneidung durchführten, geprüft werden, ob sie schon beschnitten sei oder nicht. Außerdem gebe es in Äthiopien auch Vergewaltigungen an Frauen, bei der Vergewaltigung würde auch herausgefunden werden, ob sie beschnitten sei oder nicht.
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Auf Frage, ob der Vater dem nicht dadurch entgehen könne, dass er in eine große Stadt wie AA ziehe, wo ihn keiner kenne, gab er an, wenn er jetzt in eine große Stadt ziehen würde, an dem Tag, wo sie heiraten würde, der Mann der sie heiraten solle, würden sie Leute schicken und überprüfen, ob sie beschnitten sei oder nicht. Auf Frage, was passieren würde, wenn sie nicht beschnitten wäre, gab er an, erstens würde sie geschlagen werden, zweitens würde sie verachtet und unterdrückt werden. Dann müsse sie das Dorf oder die Stadt verlassen. Außerdem könne es auch vorkommen, dass sie bestraft werde. Als der Vater gesehen habe, dass seine Frau nicht beschnitten sei, sei es auch von den anderen gesehen worden. Sie sei dann auch geschlagen worden. Zudem sei ihr auch vorgeworfen worden, dass sie gegen Beschneidung sei und versuchen werde, die anderen auf ihre Seite zu ziehen, dass sie dann auch gegen die Gesetze verstoßen habe.
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Äthiopien habe der Vater im Jahr 2016 verlassen, gab er auf Frage an und führte auf weitere Frage, wie seine Frau bis zur Ausreise 2016 von der Gesellschaft behandelt worden sei, aus, nachdem sie geheiratet hätten 2012, sei er sieben Monate in Haft gewesen und dann sei er entlassen worden und er sei dann 2013 wieder in Haft gekommen und er sei dann vier Monate später wieder verhaftet worden bis 2015. Ende 2015 habe er Bestechungsgeld an einen Polizisten gezahlt und der habe ihm einen Fluchtweg organisiert und dann sei er aus der Haft geflohen und in den Sudan. Von 2012 bis Ende 2015 sei seine Frau geschlagen worden von den Polizisten, die im Dorf seien, es sei oft bei ihr zu Hause eingebrochen worden und sie habe einen kleinen Kiosk gehabt. Dort sei eingebrochen und seien Sachen entwendet worden und es sei ihr oft Angst eingejagt worden. Diese vier Jahre, in denen er im Knast gewesen sei, habe er so leben müssen, bis sie 2016 Äthiopien verlassen hätten.
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Auf Frage, ob seiner Frau dies nur passiert sei, weil er im Gefängnis gesessen habe, gab er an, der größte Teil sei gewesen, weil sie gegen die Beschneidung gewesen sei und es habe auch Verbindungen wegen ihm gegeben. Auf Nachfrage, ob sie trotz des Verstoßes gegen die Kulturgesetze einen Kiosk habe eröffnen können und ob man sich also doch ein Leben aufbauen könne, wenn man gegen die Gesetze sei, gab er an, den Kiosk habe er damals eröffnet gehabt, damit sie davon leben und sich Lebensmittel kaufen könnten und er sei auch immer neben ihr gestanden. Als er verhaftet worden sei, hätten sie herausgefunden, dass der Kiosk ihm und seiner Frau gehöre. Dann habe es im Ort oft Streit gegeben. Es habe oft Tage gegeben, wo sie zu ihren Eltern zurückgegangen sei. Auf Frage, ob seine Frau die einzige im Dorf gewesen sei, die nicht beschnitten gewesen sei, gab er an, ehrlich gesagt wisse er es nur von seiner Frau und als Leute ihn gefragt hätten, ob sie beschnitten sei, habe er gesagt, dass sie beschnitten sei, er habe sie angelogen. Auf Frage, weshalb er nicht auch bei seiner Tochter lügen könne, gab er an, bei seiner Frau sei es so gewesen, wenn es ein Problem gegeben habe, habe es Tage gegeben, wo sie zu ihren Eltern geflüchtet sei, dann sei sie wieder zu ihm gekommen. Er frage sich, wie es bei seiner Tochter gehen solle, wo er sie denn hinschicken solle. Auf Vorhalt, dass er doch als Elternteil ein Zufluchtsort wäre, so wie seine Frau zu ihren eigenen Eltern gegangen sei, um in Sicherheit zu sein, gab er an, sein Kind könne nur zu ihm zurück und er könne es nur beschützen, wenn sie beschnitten sei. Es habe Fälle gegeben, die er selber erlebt habe, dass ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt worden sei vor seinen Augen und damals habe er auch nichts sagen oder dagegen unternehmen dürfen. Diese schrecklichen Dinge gingen ihm bis heute nicht aus dem Kopf. Er bejahte die Frage, ob das Bundesamt es richtig verstehe, dass es eigentlich keinen Schutz für Mädchen und Frauen in Äthiopien gebe. Auf Frage, ob er noch etwas ergänzen wolle, gab er an, er habe selber so viele Sachen durchgemacht und erlebt, er sei auch sehr glücklich darüber, hier ein Vater zu sein in Deutschland. Wenn ihm gesagt werde, dass er für seine Tochter Reisedokumente aus Äthiopien holen solle, da habe er keine Möglichkeit. Wenn seine Tochter zurück nach Äthiopien müsste, dann wäre es so, als wenn er sie in ein Feuer werfen würde oder er quasi die Entscheidung treffe, ihr das Leben zu nehmen. Er verneinte abschließend die Frage, ob er seine Tochter in Deutschland beschneiden lassen würde. Nach der Rückübersetzung gab der Vater noch an, wenn seine Tochter nach Äthiopien zurück müsste, werde es auch schwierig werden, überhaupt Nahrungsmittel zu erhalten, die Schulbildung vor Ort sei sehr schlecht und es gebe keine richtigen medizinischen Behandlungen und momentan herrschten in Äthiopien viele Unruhen und Konflikte.
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In seinem eigenen Asylverfahren hatte der Vater der Klägerin anlässlich seiner Anhörung u.a. angegeben, er stamme aus der Region …, Bezirk …, Kreis …, Stadt …, … Er sei nach dem Gefängnis geflohen. Von … Richtung … gebe es einen bekannten Wasserfall, die Leute duschten dort. Er habe in seinem eigenen Haus gelebt mit seiner Mutter, seinen Geschwistern, seiner Frau und seinen Kindern. Die Mutter habe mit ihm gelebt, aber sie habe auch ein eigenes Haus gehabt. Die Reise von Äthiopien nach Deutschland habe ca. 3.000 Dollar für sie beide gekostet, eigentlich hätten die Schleuser mehr Geld von ihnen verlangt, aber weil sie gesagt hätten, dass sie kein Geld mehr hätten, hätten sie sie geschlagen und dann hätten sie trotzdem mitgehen können. Es seien eigene Ersparnisse des Vaters gewesen, von denen er das finanziert habe. Der Aufenthaltsort des Großvaters der Klägerin sei unbekannt, die Großmutter wohne unter der angegebenen Adresse. An weiteren Verwandten im Heimatland habe der Vater drei Brüder, drei Schwestern und eine Großfamilie. Er sei bis zur 10. Klasse in die Schule gegangen und habe sie abgeschlossen. Er habe keinen Beruf erlernt, sei aber … gewesen. In Äthiopien habe er von der Landwirtschaft seiner Familie gelebt, aber auch mitgearbeitet. Nach dortigem Standard sei es ihnen gutgegangen, weil sie viele Nutztiere und Land gehabt hätten. Der Vater habe selbst einen Laden gehabt. Sein Bruder sei an der Universität … ermordet worden. Bei dem genannten Laden habe es sich um einen Gemischtwarenladen gehandelt. Mit seinen Angehörigen habe der Kläger keinen Kontakt. Der Bruder sei bereits im Jahr 2009 ermordet worden.
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Die Mutter der Klägerin hatte in ihrer Anhörung im eigenen Asylverfahren u.a. angegeben, sie habe sich zuletzt in der Region …, Bezirk …, Kreis …, Stadt …, … bis zur Ausreise aufgehalten. Auf Frage, ob sie zusammen mit ihrem Mann eingereist sei, gab sie an, in Italien hätten sie sich getrennt und sie sei allein weitergereist. Sie benannte die Namen ihrer Eltern, diese wohnten in … im Bezirk … im Kreis … im Dorf … An Verwandten im Heimatland habe die Mutter außerdem fünf Brüder, drei Schwestern und eine Großfamilie. Sie sei bis zur 6. Klasse in die Schule gegangen, habe diese auch abgeschlossen. Sie sei Hausfrau gewesen und habe im Laden gearbeitet. In Äthiopien hätten sie von der Landwirtschaft gelebt, aber auch von dem Laden. Sie seien nicht sehr reich gewesen, aber es sei ihnen sehr gut gegangen. Die Mutter sei seit dem Jahr 2011 traditionell verheiratet. Im Heimatland habe sie weitere zwei Kinder, das älteste sei (damals) fünf Jahre alt gewesen, das zweite sei gerade ein Jahr und acht Monate alt geworden. Das erste Kind sei bei der Großmutter der Klägerin, das zweite Kind bei der Schwiegermutter.
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Im Asylfolgeverfahren wurde eine handschriftliche Äußerung der Eltern der Klägerin vorgelegt, die das Bundesamt übersetzen ließ. Beschrieben wurde u.a. die Fluchtgeschichte mit der Situation im Sudan, wo sie eineinhalb Monate inhaftiert worden seien. Es sei dann jedoch das angeforderte Geld von 30.000 Dollar von den Großeltern der Klägerin besorgt und dem Schlepper ausgehändigt worden. Angekommen in Libyen seien sie von den Schleppern in einer Militärkaserne festgehalten worden. Um von dort herauszukommen und weiterzureisen hätten sie 300.000 Dollar bezahlen sollen. Bis zur Geldübergabe seien sie wieder drei Monate in Haft geblieben (wurde näher ausgeführt). Sie hätten schließlich den Betrag von 300.000 Dollar von den Großeltern besorgt.
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Der Vater der Klägerin hatte handschriftlich geschildert, dass sein eigener Vater sich seit 2007 auf der Flucht befinde und seitdem der Kontakt abgerissen sei. Er sei Vorsitzender der Gemeinde gewesen. Auch in seiner Schilderung wird beschrieben, dass im Sudan ein Betrag von 30.000 Dollar von den Großeltern bezahlt und dem Schlepper ausgehändigt worden sei. Nachdem sie in Libyen von einem Schlepper aufgehalten worden seien und dieser 300.000 Dollar verlangt habe, hätten sie telefonischen Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen und um die Besorgung und Zusendung des geforderten Betrages gebeten. Sie seien wieder drei Monate festgehalten worden, bis das Geld angekommen gewesen sei.
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Mit Bescheid vom 05.01.2023 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (Nr. 1). Zugleich wurde der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Nr. 3) sowie festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Klageverfahrens. Sollte die Klägerin die Ausreisefrist nicht einhalten, werde sie nach Äthiopien abgeschoben. Die Klägerin könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei. Die durch die Bekanntgabe des Bescheids in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde nach § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Die Klägerin sei kein Flüchtling im Sinne der entsprechenden Definition (wird näher ausgeführt).
23
Die Furcht der Eltern der Klägerin, im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien Opfer einer Genitalverstümmelung (FGM) zu werden, sei unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage und ihrer persönlichen Situation nicht begründet. Eine erlittene Vorverfolgung könne angesichts der Tatsache, dass die Klägerin im Bundesgebiet geboren worden sei und sich zu keiner Zeit in Äthiopien aufgehalten habe, auch nicht vorliegen.
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Nicht verkannt wird jedoch, dass FGM in einigen Landesteilen, vor allem in der Region Oromia sowie in ländlichen, an Dschibuti und Somalia grenzenden Gebieten in den Regionen Somali und Afar, noch immer weit verbreitet sei und dabei von allen Gesellschaftsschichten und Religionen praktiziert werde. Tatsache sei aber auch, dass das Bemühen der äthiopischen Regierung, in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen der Genitalverstümmelung durch Aufklärung entgegenzuwirken, zu spürbaren Erfolgen geführt habe. Die Regierung habe sich zum Ziel gesetzt, Genitalverstümmelung bis zum Jahre 2025 endgültig abzuschaffen. Nach unterschiedlichen Quellen habe sich die Zahl der Neuverstümmelungen signifikant verringert. Fast 80 Prozent der Frauen seien inzwischen der Auffassung, dass FGM/C nicht länger praktiziert werden sollte. Der äthiopische Staat bedrohe die Vornahme von Genitalverstümmelung mit Geldstrafen ab 500 Birr (ca. 20 Euro) oder mit Gefängnisstrafen von mindestens drei Monaten, in besonders schweren Fällen bis zu zehn Jahren. Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse sei in Verbindung auch mit den bereits erkennbaren Erfolgen bei der Bekämpfung von FGM von einer bestehenden Schutzfähigkeit und Schutzbereitschaft seitens des Staates auszugehen. In Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sei somit die Feststellung begründet, dass auch vorliegend der Klägerin bei einer Heimreise nach Äthiopien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Beschneidung drohe. Im Falle der Klägerin sei es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ihr in Äthiopien eine Beschneidung drohe. Ihre Eltern gehörten weder der traditionell geprägten Landbevölkerung an, noch würden sie einen niedrigen Bildungsstand besitzen. Beide seien zur Schule gegangen und hätten einen Abschluss gemacht. Im Anschluss hätten beide gearbeitet und ihre wirtschaftliche Situation unter den dortigen Umständen als gut bezeichnet. Darüber hinaus spreche auch gegen eine drohende Beschneidung, dass die Mutter der Klägerin selbst nicht beschnitten sei und auch ihre Familie die Genitalverstümmelung abgelehnt habe. Somit sei die Feststellung begründet, dass vorliegend der Klägerin im Falle einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Genitalverstümmelung drohe. Auch die Angst vor einer Zwangsverheiratung sei nicht begründet. Kinderehe und Brautraub mit Zwangsverheiratung stünden unter derselben Strafe wie Genitalverstümmelung. Frauen seien nach der äthiopischen Verfassung gleichberechtigt. Sie hätten zwar in der gesellschaftlichen Realität eine schwächere Position als die Männer, jedoch drohe der Klägerin auch hier nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsverheiratung, zumal die Eltern auch schon nicht aus Zwang geheiratet hätten. Auch gelte der Vater der Klägerin laut äthiopischem Gesetz als Familienoberhaupt sowie einziger Fürsorgeberechtigter und könne sich gegen eine Zwangsverheiratung stellen.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Auch die Furcht der Eltern, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr Opfer willkürlicher Gewalt infolge eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts werden könne, sei nicht begründet. Richtig sei zwar, dass es in einigen Regionen Äthiopiens zu ethnischen Konflikten komme (Gambella, Südregion, Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somali), die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge hätten. Hintergrund dieser bewaffneten Auseinandersetzungen seien größtenteils Ressourcenkonflikte mit langer Vorgeschichte, die begünstigt durch einen Autoritätsverlust der regionalen Behörden in Folge des Machtwechsels von 2018 auf nationaler Ebene aufgeflammt seien, aber nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem stünden. Die Auseinandersetzungen erreichten jedoch – mit Ausnahme des Regionalstaates Tigray – in keiner weiteren Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände.
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Es seien schließlich keine Abschiebungsverbote gegeben. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Äthiopien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt (wird eingehend erläutert). Bei Rückkehr nach Äthiopien könne im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden.
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In den vergangenen Jahren habe sich Äthiopien zu einer der am schnellsten wachsenden Ökonomien entwickelt. Offizielle Statistiken zeigten ein durchschnittliches BIP-Wachstum von rund neun bis zehn Prozent. Modernisierungen in der Landwirtschaft hätten dazu geführt, dass mehr landwirtschaftliche Güter exportiert als importiert würden. Die eigene Bevölkerung könne in aller Regel selbst ernährt werden. Das Pro-Kopf-Einkommen sei spürbar gestiegen und der Anteil der Äthiopier, denen mehr als zehn US-Dollar Einkommen am Tag zur Verfügung stünden, habe sich in den letzten Jahren verzehnfacht. Somit könne davon ausgegangen werden, dass zumindest in den meisten Regionen, in jedem Fall aber in AA , eine – wenn auch häufig sehr bescheidene – Existenzsicherung gewährleistet sei. Dies gelte insbesondere für Rückkehrer aus dem Ausland, die über besondere Qualifikationen und Sprachkenntnisse verfügten. Grundsätzlich sei es möglich, sich bereits mit geringfügigen Mitteln eine Existenzgrundlage zu schaffen. Dabei werde nicht verkannt, dass die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht in allen Landesteilen Äthiopiens und nicht zu jeder Zeit gesichert sei. Nach Regierungsangaben benötigten 20 Mio. Äthiopier humanitäre Hilfe, die aber von den äthiopischen Behörden zum Großteil selbst erbracht bzw. durch Unterstützung aus dem Ausland sichergestellt werde. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Rückkehrer von einer Nahrungsmittelhilfe ausgeschlossen wären.
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Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Für die Klägerin lägen bei Rückkehr nach Äthiopien keine individuell gefahrerhöhenden Umstände vor. Laut Angaben der Eltern hätten sie vor ihrer Ausreise aus Äthiopien einen eigenen Laden gehabt, in der die Mutter der Klägerin gearbeitet habe. Darüber hinaus habe die Mutter der Klägerin angegeben, dass ihre wirtschaftliche Situation gut gewesen sei. Des Weiteren lebten nach Aussage der Mutter in mündlicher Verhandlung am 23.03.2021 vor dem VG Bayreuth noch zwei Schwestern der Klägerin in Äthiopien, die seit Jahren von den Verwandten vor Ort versorgt würden. Es könne demnach davon ausgegangen werden, dass die Verwandten auch weiterhin ihre Unterstützung anbieten würden. Darüber hinaus könne die Mutter der Klägerin auf das Reintegrationsprogramm ERIN verwiesen werden. Die Hilfen aus diesem Programm umfassten Beratung nach der Ankunft, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei der Existenzgründung, Grundausstattung für die Wohnung sowie Beratung und Begleitung behördlicher, medizinischer und caritativen Einrichtungen. Die Unterstützung werde als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen betrage im Familienverband bis zu 4.000 EUR. Dementsprechend sei es der Mutter der Klägerin möglich und zumutbar, sich eine erneute Existenz in Äthiopien aufzubauen und sich und ihre Kinder finanziell zu versorgen.
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Auch dass sich die Situation aufgrund des Ausbruchs der Corona-Pandemie und der Heuschreckenplage sowie Überschwemmung verschärft haben könnte, sei nicht ersichtlich.
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Ferner komme die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK nicht in Betracht. Es drohe der Klägerin auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde (wurde näher ausgeführt). Auf die weiteren Ausführungen im Bescheid wird Bezug genommen.
31
Am 19.01.2023 wurde für die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 05.01.2023 erhoben mit dem Antrag:
1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 05.01.2023, Az. …, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den Flüchtlingsstatus und hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
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Über die Hintergründe, weshalb sich die kleine Klägerin – vermutlich zusammen mit Mutter und Geschwistern – im Frauenhaus in … befinde, sei dem Bevollmächtigten aktuell nichts weiter bekannt.
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Auch auf eine Anfrage des Gerichts vom 05.04.2023 wurden keine Informationen zur Wohn- und familiären Situation nachgereicht. Nach einem vorgelegten Schreiben der ZAB … vom 21.03.2023 liegt die ausländerrechtliche Zuständigkeit für die Klägerin (und ihre Mutter sowie Geschwister) ab sofort beim Landratsamt …
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 04.12.2024 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte samt Protokoll über die mündliche Verhandlung und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe

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1. Das Rubrum war in der vorliegenden Sache mit Blick auf die Anschrift der Klägerin und ihre Mutter zu ändern, nachdem die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung die aktuelle Wohnanschrift mitgeteilt hat (vgl. S. 2 des Protokolls). Hinsichtlich des Vaters der Klägerin wurde diejenige Anschrift übernommen, die sich aus einem am 22.11.2024 von Amts wegen eingeholten Auszug aus dem Ausländerzentralregister ergibt (vgl. S. 8 des Protokolls).
39
2. Die Klage ist insgesamt zulässig. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der Abschiebungsandrohung (Nr. 5 des Bescheids vom 05.01.2023) sowie der Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 6 des Bescheids vom 05.01.2023). Beide Regelungen – wie im Übrigen auch die weiteren Regelungen des Bescheids – haben sich zwischenzeitlich nämlich nicht erledigt. Eine solche Erledigung wäre etwa dann in Betracht zu ziehen, wenn der Klägerin mittlerweile eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden wäre. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Eine Aufenthaltserlaubnis ist frühestens bekanntgegeben und damit wirksam, wenn der betroffenen Person von Seiten der Ausländerbehörde ein Abholschein für den Aufenthaltstitel ausgehändigt bzw. übersandt wurde und damit gezielt zum Ausdruck gebracht ist, dass der beantragte Aufenthaltstitel erteilt wurde und lediglich der elektronische Aufenthaltstitel (eAT) als dessen „Verkörperung“ abgeholt werden muss. Dagegen führt alleine die Bekundung der Absicht, (ggf. unter bestimmten Bedingungen) einen Aufenthaltstitel erteilen zu wollen, regelmäßig nicht dazu, dass der Ausländer darauf schließen darf, die Ausländerbehörde habe den Aufenthaltstitel bereits erteilt (vgl. BayVGH, B.v. 14.10.2021 – 10 ZB 21.2260 – juris). Vorliegend war die Erteilung eines Aufenthaltstitels zugunsten der Klägerin von Seiten des Landratsamts … in der Vergangenheit geplant, doch wird daran zwischenzeitlich nicht mehr festgehalten (vgl. S. 8 des Protokolls); es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass den Eltern der Klägerin durch das Landratsamt (verbindlich) mitgeteilt worden wäre, dass sie die Aufenthaltserlaubnis der Klägerin „abholen“ könnten. Es fehlt somit an einer Bekanntgabe; die Klägerin verfügt im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht über eine Aufenthaltserlaubnis.
40
Vor diesem Hintergrund bedarf im hiesigen Verfahren keiner Vertiefung, ob die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis überhaupt mit § 10 Abs. 1 AufenthG in Einklang zu bringen gewesen wäre, nachdem doch das Asylverfahren der Klägerin noch nicht abgeschlossen war.
41
Ferner bedarf keiner Entscheidung, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann zur Erledigung der Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbots führt, wenn – wie hier – das Asylverfahren noch nicht beendet ist. Die zur Thematik der Erledigung ergangene Rechtsprechung betrifft nämlich in aller Regel den Fall, dass nach dem bestandskräftigen erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens eine Aufenthaltserlaubnis aus asylunabhängigen Gründen erteilt wird, denn dadurch entfalle die Ausreisepflicht (vgl. OVG NRW, B.v. 6.6.2012 – 18 B 301/12 – juris), die jedoch in der hiesigen Konstellation durch die Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG ohnehin (noch) nicht gegeben ist.
42
3. Die Klage ist unbegründet. Der angegriffene Bescheid vom 05.01.2023 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Diese hat keinen Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes. Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Verneinung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch die weiteren Entscheidungen im angefochtenen Bescheid erweisen sich als rechtmäßig.
43
In der Sache selbst schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
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a) Der Klägerin droht in Äthiopien nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung (in Form der Beschneidung).
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Wie sich aus dem aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 19.07.2024 ergibt, erfolgt eine Beschneidung inzwischen bei der überwiegenden Anzahl der Mädchen nicht mehr. Seit der Reformierung des Strafgesetzbuches 2005 ist die Genitalverstümmelung gemäß Art. 565 mit Geldstrafe ab 500 Birr (ca. 8,50 EUR) oder mit mindestens dreimonatiger, in besonders schweren Fällen mit bis zu 10 Jahren Gefängnisstrafe, bedroht. Die Zahl der Neuverstümmelungen hat sich hiernach inzwischen auf zwischen 25 und 40% der Mädchen verringert. Dennoch ist Genitalverstümmelung nach wie vor mit großen regionalen Unterschieden weit verbreitet (Zahlen schwanken auch hier zwischen 27 und über 90% landesweit). Am häufigsten ist sie in ländlichen Gebieten der an Dschibuti und Somalia grenzenden Regionen Somali und Afar sowie in der gesamten Region Oromia anzutreffen. In den Grenzregionen Tigray (Grenze zu Eritrea) und Gambella (Grenze zu Südsudan) ist sie am wenigsten verbreitet. Soweit in machen Quellen höhere Prozentangaben für den Anteil beschnittener Frauen angegeben werden, sind diese für eine hier notwendige prognostische Betrachtung nicht brauchbar, soweit darin auch ältere Frauen in die Betrachtung einbezogen werden, bei denen die Beschneidung bereits viele Jahre zurückliegt. Solche Zahlenangaben berücksichtigen namentlich nicht den in Äthiopien eingeleiteten und weiter fortschreitenden Einstellungswandel in nicht unbeträchtlichen Kreisen der Bevölkerung. Die Regierung sowie äthiopische und internationale Organisationen führen Kampagnen zur Abschaffung der Genitalverstümmelung durch. Die äthiopische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, schädliche traditionell oder kulturell bedingte Praktiken, wie etwa die Genitalverstümmelung bei Frauen oder Kinder- und Zwangsehen bis zum Jahre 2025 endgültig abzuschaffen.
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Berücksichtigt man die Auskunftslage und bezieht man diese auf die konkreten Umstände des vorliegenden Falles, so gelten die folgenden Erwägungen. Ausgehend von der Anhörung der Eltern der Klägerin beim Bundesamt ist festzustellen, dass diese aus ihrer persönlichen Warte eine dezidiert ablehnende Haltung gegenüber der weiblichen Genitalbeschneidung geäußert haben (vgl. S. 4 der Anhörungsniederschrift betreffend die Mutter der Klägerin und S. 4 der Anhörungsniederschrift betreffend den Vater der Klägerin, jeweils vom 25.05.2022). Darüber hinaus kommt das Gericht jedoch nicht um die Feststellung umhin, dass sich in den Angaben der Mutter der Klägerin sowohl zu ihrer Herkunft als auch zu ihrer eigenen (Flucht-)Geschichte, wie sie der ihr selbst in Äthiopien damals angeblich drohenden Genitalbeschneidung habe entkommen können, nicht unerhebliche Ungereimtheiten in Form von Widersprüchen bzw. einer Steigerung ergeben haben, die deutlich dagegen sprechen, dass ihr die referierte Geschichte wie vorgetragen abgenommen werden könnte.
47
Bereits im eigenen Asylverfahren der Mutter der Klägerin hatte sich ergeben, dass nicht beachtlich wahrscheinlich war, dass die von ihr geschilderten Erlebnisse in Äthiopien tatsächlich stattgefunden hätten (vgl. S. 12 des Urteils vom 29.01.2020 – B 7 K 17.32300).
48
Im hiesigen Asylverfahren der Klägerin hat ihre Mutter angegeben, sie komme ursprünglich aus …, das sei eine große Stadt, aber geboren sie sie in …, das sei ein kleines Dorf, befinde sich aber in … (vgl. S. 2 der Anhörungsniederschrift). Dagegen hat sie in ihrem eigenen Asylverfahren – die Akten wurde beigezogen (vgl. S. 2 des Protokolls) – das Dorf … im Bezirk …, Kreis … verortet (vgl. S. 2 der Anhörungsniederschrift vom 27.04.2017). Dies ist nicht plausibel in Einklang zu bringen, denn … (* …*) und … (siehe weiter unten) liegen nach allgemein zugänglichen Quellen (vgl. z.B. Google-Maps, Mapcarta.com) zwar in der Tat in der …-Zone, doch befindet sich … davon in einer Entfernung von mehreren hundert Kilometern. Soweit die Mutter der Klägerin sich vor ihrer Ausreise in … aufgehalten haben möchte, hat sie in der mündlichen Verhandlung angegeben, sie sei in … zu ihrem Mann gezogen, das sei direkt in … in der Stadt gewesen, während lediglich die Schwiegermutter im Dorf … gelebt habe (S. 11 des Protokolls). Dies steht in Widerspruch zu den Angaben des Vaters der Klägerin, der im Asylverfahren der hiesige Klägerin ausgeführt hat, … (* …*) sei eine große Stadt und es gebe dort ein kleines Dorf … – er habe eben dort gewohnt (und damit nicht in der Stadt … selbst) – vgl. S. 2 der Anhörungsniederschrift. Die wirkliche Herkunft der Mutter der Klägerin bleibt damit unklar – für das Asylverfahren der Klägerin ist dies insoweit nicht unbedeutend, da es durchaus auf die Herkunftsregion ankommt (vgl. oben) und u.a. geltend macht wurde, „die Gesellschaft und die Nachbarn“ würden über die Durchführung der Beschneidung entscheiden (vgl. S. 3 der Anhörungsniederschrift).
49
Die aufgetretenen Ungereimtheiten konnte die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht ausräumen. Nach ihrer dortigen Darstellung möchte sie im Alter von ungefähr 12 Jahren von ihrer Tante lediglich mit nach … genommen worden sein, um sich dort für ca. 2 Jahre aufzuhalten (vgl. S. 5 des Protokolls). Dies passt aber wiederum nicht zu der beim Bundesamt angebrachten Version ihrer Geschichte, wonach sie im Alter von 9 Jahren (sic!) verschwunden und zu ihrer Tante gegangen sei, als die Beschneidung versucht worden sei (vgl. S. 3 der Anhörungsniederschrift vom 25.05.2022). Die beim Bundesamt referierte Geschichte dazu, wie die Mutter der eigenen Beschneidung habe entgehen können, endete schlicht damit, dass sie dann Glück gehabt habe, bei ihrer Tante zu bleiben und nicht beschnitten zu werden (vgl. S. 4 der Anhörungsniederschrift vom 25.05.2022). In der mündlichen Verhandlung erfolgt sodann dagegen erstmalig eine weitere Steigerung: Die Mutter der Kläger möchte nach ca. 2 Jahren zu ihren Eltern zurückgekehrt sein und habe dort die Schule weitergemacht, nachdem ihre eigenen Eltern verneint hätten, dass sie die Beschneidung an ihr noch hätten vollziehen wollen (vgl. S. 5/6 des Protokolls). Nachgeschoben hat die Mutter der Klägerin (erst) im weiteren Gang der mündlichen Verhandlung, dass sie die Schule nicht fertiggemacht habe. Sie habe die Schule für ein Jahr und sechs Monate besucht, als sie zu ihren Eltern zurückgekehrt gewesen sei. Dann hätten sie es erneut versucht mit der Beschneidung und dann sei die Mutter der Klägerin weggegangen, und zwar allein. Sie sei nach … gegangen, um sich dort zu einer anderen Tante zu begeben, die sie letztlich mit Hilfe ihres Mannes, den sie in … kennengelernt habe, gefunden habe (vgl. S. 9/10 des Protokolls).
50
Wäre die Mutter der Klägerin aber tatsächlich nicht nur einmal, sondern sogar wiederholt einer konkret drohenden Beschneidung bzw. einem entsprechenden Druck ausgesetzt gewesen, den sie nur durch das Weggehen zu letztlich zwei verschiedenen Tanten habe entgehen können, so hätte sie dies bereits beim Bundesamt angesprochen. Stattdessen war dort lediglich die Rede davon, dass sie – wie ausgeführt – Glück gehabt habe und sei bei ihrer Tante geblieben und nicht beschnitten worden (vgl. S. 4 der Anhörungsniederschrift vom 25.05.2022).
51
In einer Zusammenschau der hier relevanten Sachverhaltselemente kann damit den Angaben der Mutter der Klägerin eine Glaubhaftigkeit nicht zugesprochen werden. Vielmehr erreichen die Ungereimtheiten einen Grad, der erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Person der Mutter der Klägerin insgesamt aufkommen lässt.
52
Bei dieser Gesamtsituation ist keinesfalls hinreichend wahrscheinlich, dass der Klägerin bei Rückkehr nach Äthiopien eine Genitalbeschneidung droht. Dabei ist auch der weiter fortschreitende Einstellungswandel in der äthiopischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Vor allem in urban geprägten Regionen ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Mutter der Klägerin gegen ihre eigentliche Einstellung eine Beschneidung zulassen oder gar veranlassen werde. Wenn bereits aktuell bei der überwiegenden Anzahl von Mädchen keine Beschneidung mehr durchgeführt wird, so ist auch nicht zu erwarten, dass die der Beschneidung grundsätzlich ablehnend gegenüberstehende Mutter der Klägerin eine solche tolerieren werde. Eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr der Beschneidung lässt sich auch unter Berücksichtigung solcher Quellen nicht ableiten, die einen höheren Anteil beschnittener Frauen ausweisen. Jene Quellen beziehen sich – wie bereits erwähnt – auf eine Altersspanne, die auch Frauen umfasst, die z.B. längst eine Familie gegründet, ihre Familienplanung abgeschlossen haben und bereits vor vielen Jahren und sogar vor Jahrzehnten selbst beschnitten wurden. Es liegt auf der Hand, dass derart weitgefasste Vergleichsgruppen nicht geeignet sind, um die Gefahr der Beschneidung für ein Mädchen wie die Klägerin realistisch einzuschätzen, das gerade einmal das dritte Lebensjahr vollendet hat. Es trifft nach den eingeführten Quellen auch nicht zu, dass der äthiopische Staat keinerlei Sanktionen bei rechtswidrig durchgeführten Beschneidungen verhängen würde. Vielmehr wird bereits in einem Bericht aus dem Jahr 2008 betreffend ein Projekt zur Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung ausgeführt, dass es zu Verurteilungen zu nicht unempfindlichen Gefängnisstrafen gekommen ist (vgl. GTZ, Überregionales Projekt v. 02/2008, S. 6 – 8).
53
b) Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
54
aa) Bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ist ein „sehr hohes Niveau“ anzulegen und eine „besondere Ausnahmesituation“ erforderlich. Nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung mit Bild auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind, liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vor (BVerwG, B.v. 22.9.2020 – 1 B 39.20 – juris; U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris; B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; B.v. 28.7.2022 – 23 ZB 22.30547).
55
Dies ist der Fall, wenn der Schutzsuchende seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält oder sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
56
Das wirtschaftliche Existenzminimum ist bereits dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese Bereiche der so genannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angehören (BVerwG, B.v. 19.1.2022 – 1 B 83.21 – juris; BayVGH, B.v. 28.7.2022 – 23 ZB 22.30547).
57
Maßstab für die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit, das heißt bei einer auf absehbare Zeit ausgerichteten Zukunftsprognose muss aufgrund einer sorgfältigen Würdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls mehr für als gegen die Annahme sprechen, der Betreffende werde bei seiner Rückkehr einer Behandlung im oben dargelegten Sinne ausgesetzt sein (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris, BayVGH, B.v. 28.7.2022 – 23 ZB 22.30547).
58
bb) Gemessen daran ist bei der Klägerin ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht festzustellen.
59
In die Rückkehrprognose ist bei realitätsnaher Betrachtung neben der Klägerin auch ihre Mutter und die beiden in Deutschland lebenden Geschwister der Klägerin einzubeziehen, denn sie leben hier als Kernfamilie zusammen. Außer Betracht bleibt dagegen aktuell der Vater der Klägerin, da dieser mit den genannten Personen nicht in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenlebt und keinen Umgang mit der Klägerin pflegt (vgl. S. 2 – 4 des Protokolls).
60
Auch in diesem Kontext ist zu Lasten der Klägerin zu berücksichtigen, dass die Angaben der Mutter der Klägerin, insbesondere auch zur Herkunft, erhebliche Ungereimtheiten aufweisen. Möchte man gleichwohl die Angaben der Mutter der Klägerin für die Beurteilung der Situation bei hypothetischer Rückkehr zugrunde legen, kann sie für den Fall der Rückkehr auf erheblichen verwandtschaftlichen Rückhalt bauen, sie wird mit der Klägerin und deren Geschwistern von ihrem Familienverband, der Großfamilie im Heimtatland aufgefangen werden. Neben ihren Eltern hat die Mutter der Klägerin von fünf Brüdern, drei Schwestern und der Großfamilie im Heimatland gesprochen (vgl. S. 3 der Anhörungsniederschrift vom 27.04.2017), in der mündlichen Verhandlung hat sie zwei Schwestern in Dubai erwähnt, zu denen auch Kontakt bestehe (S. 3 des Protokolls). Auch wenn der Kontakt zu Verwandten in Äthiopien in der Zwischenzeit tatsächlich abgerissen sein sollte, ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass eine Wiederherstellung des Kontakts ausscheiden müsste. Unterstützung gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr ist somit von Mitglieder der Großfamilie zu erwarten, mögen sie in Äthiopien leben oder in Drittstaaten wie z.B. Dubai. Dass derlei Unterstützung jedenfalls in Notsituationen von Seiten naher Angehöriger selbst dann geleitstet wird, wenn – wie die Mutter der Klägerin geltend gemacht hat – ein gezieltes Weggehen von den Verwandten vorgelegen haben sollte, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie von ihren Eltern letztlich wegen der angeblich drohenden Beschneidung fortgegangen sein möchte, was diese aber nicht daran gehindert hat, noch auf der bereits begonnenen Reise nach Europa erhebliche Geldbeträge zu mobilisieren. Die Mutter der Klägerin selbst hat davon gesprochen, dass sie in Äthiopien zwar nicht sehr reich gewesen seien, doch sei es ihnen sehr gut gegangen (vgl. hierzu die Angaben der Eltern der Klägerin im Folgeverfahren, Gz. … dort S. 30 ff. d.A. und hierzu die Erörterung in der mündlichen Verhandlung, siehe S. 6 – 8 des Protokolls). Unabhängig davon, ob es sich bei den von den Großeltern der Klägerin aufgebrachten Beträgen von 30.000 bzw. 300.000 „Dollar“ ggf. um lybische Dinar und äthiopische Birr gehandelt haben mag, bestätigt dies den Eindruck des Gerichts, dass die Mutter der Klägerin jedenfalls aus einem – für äthiopische Verhältnisse – begütertem Umfeld stammt. Denn ein Lösegeld von 30.000 lybischen Dinar würde rd. 5.800 EUR entsprechen und die Summe von 300.000 Birr käme – bezogen auf das Jahr der Ausreise – ca. 2.000 bis 3.000 EUR gleich, was der Angabe des Vaters der Klägerin entsprechend würde (vgl. S. 3 der Anhörungsniederschrift vom 27.04.2021), wobei dieser seinerzeit nicht erwähnt hatte, dass in Libyen ein weiterer erheblicher Geldbetrag bezahlt worden sei soll – dies wurde erst im Folgeverfahren nachgeschoben.
61
Wird die Mutter der Klägerin aber mit ihren in die Rückkehrprognose einzubeziehenden Kindern – einschließlich der Klägerin – von der Großfamilie aufgegangen, so ist es ihr persönlich auch möglich und zumutbar, zum Lebensunterhalt etwas durch eigene Erwerbstätigkeit beizutragen. Immerhin verfügt sie über schulische Bildung, spricht neben oromo auch amharisch (vgl. S. 5 des Protokolls) und möchte bereits in der Vergangenheit in Äthiopien im Laden (des Ehemanns) mitgearbeitet haben (vgl. S. 3 der Anhörungsniederschrift vom 27.04.2017).
62
Mit zu berücksichtigten ist überdies, dass der rückkehrende Familienverband prognostisch betrachtet erhebliche Rückkehrhilfen beanspruchen kann. Aus dem sog. REAG/GARP-Programm können bei freiwilliger Rückkehr die Reisekosten übernommen werden. Vor allem aber können Rückkehrer eine finanzielle Unterstützung für die Reise (sog. Reisebeihilfe) sowie eine einmalige finanzielle Starthilfe erhalten, nämlich 1.000,00 EUR für volljährige und 500,00 EUR für minderjährige Personen, pro Familie maximal 4.000,00 EUR.
63
Weiterhin können Rückkehrer nach Äthiopien auch Unterstützung aus dem Programm „StarthilfePlus“ beantragen, worauf das Bundesamt die Klägerseite ebenfalls bereits hingewiesen hatte (vgl. Bl. 112/113 d.A.). In dieser Beziehung erhalten Rückkehrer, die mit dem REAG/GARP-Programm ausreisen und eine Starthilfe bekommen, weitere finanzielle Unterstützung. Schließlich kann die Mutter der Klägerin auf spezielle „Rückkehrvorbereitende Maßnahmen“ (RkVM), insbesondere auf das Programm „St...@Home“ zurückgreifen. Diese bereiten Rückkehrer auf die Existenzgründung vor, es werden fachspezifische (Online-)Coachings und Workshops in verschiedenen Sprachen angeboten. Die Beratung soll vor allem die unternehmerische Kompetenz der Teilnehmer stärken, so dass sie auf eine Existenzgründung nach der Rückkehr in ihr Herkunftsland besser vorbereitet sind. Daneben können die Teilnehmer auch weitere individuelle Anliegen mit Blick auf ihre berufliche Reintegration einbringen. Die Teilnehmer werden von mehrsprachigen Trainern gecoacht und sozialpädagogisch begleitet. Nachdem die Mutter der Klägerin bereits früher in Äthiopien im Handel tätig gewesen war, dürfte sich die fruchtbringende Inanspruchnahme dieses Programms gerade durch ihre Person anbieten.
64
Es liegt auf der Hand, dass die genannten und verfügbaren Rückkehrhilfen und Leistungen aus den Programmen gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr und vor dem Hintergrund der humanitären Lage in Äthiopien mit dazu beitragen, dass die Mutter der Klägerin mit dieser und den Geschwistern im Falle der Rückkehr in Äthiopien Fuß fassen kann. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Klagepartei nicht darauf berufen kann, dass die genannten Hilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U. v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris). Dementsprechend ist es der Klägerin (bzw. ihrer Mutter) möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Äthiopien freiwillig Zurückkehrenden gewährte Hilfe in Anspruch zu nehmen.
65
Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien gegenwärtig landesweit, insbesondere in der Region …, derart desolat wäre, dass der Klägerin der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass erhebliche Hilfsgelder – nicht zuletzt auch von Deutschland – bereitgestellt werden.
66
c) Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
67
Auch unter Einbeziehung der aktuell schwierigen Lebensbedingungen im Herkunftsland, insbesondere infolge der Corona-Pandemie, der Heuschreckenplage und verschiedener Konflikte (z.B. in der Tigray-Region), ergibt sich kein Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
68
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; VG Würzburg, Gb. v. 11.5.2020 – 8 K 20.50114 – juris).
69
Es ist für das Gericht nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung durchbrechen könnte, ausgesetzt wäre. Hierfür gibt es keine greifbaren Anhaltspunkte.
70
d) Schließlich kann weder die Abschiebungsandrohung (Nr. 5 des Bescheids vom 05.01.2023) noch die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 6 des Bescheids vom 05.01.2023) durch das Gericht beanstandet werden. Insbesondere ergibt sich – bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – aus dem Umstand, dass dem Vater der Klägerin zwischenzeitlich eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, nicht, dass familiäre Bindungen der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung entgegenstehen würden.
71
Zwar sind etwaige familiäre Bindung nach neuerer Rechtslage (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG) bereits im Asylverfahren zu berücksichtigen. Jedoch ist in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden, dass der Vater der Klägerin mit dieser derzeit überhaupt keinen Umgang pflegt (vgl. S. 3/4 des Protokolls). Die dem Vater der Klägerin erteilte Aufenthaltserlaubnis – die überdies für lediglich ein Jahr erteilt wurde und Mitte Dezember 2025 ausläuft – lässt somit keine der Regelungen im Bescheid vom 05.01.2023 als rechtswidrig erscheinen.
72
4. Nach allem ist die Klage insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.