Titel:
Polizeiliche Maßnahme unter Einsatz unmittelbaren Zwangs zur Verhinderung weiterer Störungen auch ohne Androhung rechtmäßig
Normenketten:
StGB § 113, § 114
StPO § 163b Abs. 1, § 164
BayPAG Art. 81 Abs. 1
Leitsätze:
1. I. Damit die Diensthandlung rechtmäßig ist, ist es grundsätzlich erforderlich, dass unmittelbarer Zwang vor seiner Anwendung angedroht wird; dies ist eine Ausprägung des mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. (Rn. 17)
2. II. Zur Einhaltung und Ausgestaltung dieses Grundsatzes können als Orientierungsmaßstab die für das jeweilige Handeln der besonderen Beamtengruppe erlassenen Vorschriften herangezogen werden (hier das BayPAG). (Rn. 18)
1. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in die Beweiswürdigung ist nur zulässig, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein vom Revisionsgericht nachprüfbarer Verstoß gegen Erfahrungssätze kann darin liegen, dass das Gericht bestehende Erfahrungssätze ohne hinreichenden Grund missachtet oder umgekehrt zu Unrecht einen allgemeingültigen, nicht begründbaren Erfahrungssatz annimmt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Begriff der Diensthandlung iSd §§ 113, 114 StGB erfasst alle gezielten Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung des bereits durch Gesetz, Verordnungen, Gerichtsbeschlüsse, Verwaltungsakte oder Allgemeinverfügungen festgelegten staatlichen Willens in einem konkreten Einzelfall. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Ausübung unmittelbaren Zwangs hat sich in Wahl und Ausmaß des angewandten Mittels nach dem in der konkreten Situation Erforderlichen zu richten. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
5. Im Polizeirecht handelt es sich bei der Androhung des unmittelbaren Zwangs um eine wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens, wenn die Diensthandlung gerade in dessen Anwendung besteht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
6. Eine vorherige Androhung des unmittelbaren Zwangs ist nicht erforderlich, wenn eine Androhung aufgrund des bereits gezeigten Verhaltens des Betroffenen von vornherein keinen Erfolg verspricht, etwa weil dieser sich bereits nicht durch ein erstes Wegstoßen durch einen Beamten der Polizei von der Durchführung weiterer Störungsversuche abhalten lässt. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diensthandlung, unmittelbarer Zwang, Erfahrungssätze, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, tätlicher Angriff
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 09.09.2024 – 15 NBs 803 Js 20786/23
Fundstelle:
BeckRS 2025, 3527
Tenor
I. Die Revision der Angeklagten G. gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 09. September 2024 wird als unbegründet verworfen.
II. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
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Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
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Zur Begründung wird auf die auch unter Berücksichtigung der Gegenerklärung der Verteidigung vom 13.02.2025 zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft M. in ihrer Antragsschrift vom 08.01.2025 Bezug genommen.
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Ergänzend bemerkt der Senat im Hinblick auf die Gegenerklärung der Verteidigung vom 13.02.2025:
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1. Soweit die Revision im Wege der allgemeinen Sachrüge die Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung rügt, hat die Generalstaatsanwaltschaft M. zu Recht darauf verwiesen, dass die Revision nur versucht, ihre eigene Beweiswürdigung anstelle der des Berufungsgerichts zu setzen.
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Ein Eingriff des Revisionsgerichts in die Beweiswürdigung ist nur zulässig, wenn sie widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (BGH, Urteil vom 08.02.2000, 5 StR 310/99, NStZ-RR 2000, 171; st. Rspr.).
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a) Soweit die Revision im Hinblick auf die erlittenen Verletzungen des Geschädigten, die vom Berufungsgericht durch die Aussage des Geschädigten und das in Augenschein genommene Lichtbild des Geschädigten, auf das wegen der Einzelheiten in zulässiger Weise gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Bezug genommen wurde, als erwiesen angesehen werden, rügt, dass das Gericht die Angaben des Geschädigten ungeprüft zugrunde gelegt und keine objektivierbaren Verletzungsfolgen dargelegt habe, weshalb die Beweisführung lückenhaft sei, hat dies keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung, die in den Feststellungen und der den Feststellungen zugrunde liegenden Beweiswürdigung eine ausreichende objektive Grundlage findet (vgl. BGH, Beschluss vom 22.08.2013 – 1 StR 378/13 –, NStZ-RR 2013, 387, juris Rn. 7), rechtsfehlerfrei begründet.
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b) Auch soweit die Revision in Bezug auf die Annahme des Berufungsgerichts, dass der Angeklagten die Tathandlung körperlich möglich war, einen Verstoß gegen einen gesicherten Erfahrungssatz annimmt, dringt sie damit nicht durch, weil die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts insoweit nicht auf einem Erfahrungssatz beruht. Erfahrungssätze sind „generalisierende Schlussfolgerungen“ oder auch „Einsichten und Regeln“, die aus tatsächlichen Vorgängen aufgrund bestimmter Erfahrung (allgemeiner Lebenserfahrung, wissenschaftlicher Erkenntnisse oder auch empirisch aus der Beobachtung und Verallgemeinerung von Einzelfällen) gezogen werden (KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 261 Rn. 52). Ein vom Revisionsgericht nachprüfbarer Verstoß gegen Erfahrungssätze kann darin liegen, dass das Gericht bestehende Erfahrungssätze ohne hinreichenden Grund missachtet oder umgekehrt zu Unrecht einen allgemeingültigen, nicht begründbaren Erfahrungssatz annimmt (KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 261 Rn. 55 m.w.N.). Eine solche generalisierende Schlussfolgerung hat das Berufungsgericht hier aber nicht gezogen. Vielmehr hat es aufgrund der von ihm festgestellten konkreten Tatsachen, die in der zugrunde liegenden Beweiswürdigung eine ausreichende objektive Grundlage finden, rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der Angeklagten im vorliegenden Einzelfall die Tathandlung möglich war und deshalb Einwände gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage des Geschädigten nicht bestehen.
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2. Entgegen der Ansicht der Revision tragen die im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen auch die Verurteilung der Angeklagten wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 StGB) in Tateinheit (§ 52 StGB) mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 Abs. 1 StGB) und mit Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB). Vor allem ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der geschädigte Polizeibeamte POM K. eine rechtmäßige Diensthandlung im Sinne der §§ 113, 114 StGB vorgenommen hat.
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a) Der Begriff der Diensthandlung erfasst alle gezielten Vollstreckungsmaßnahmen zur Durchsetzung des bereits durch Gesetz, Verordnungen, Gerichtsbeschlüsse, Verwaltungsakte oder Allgemeinverfügungen festgelegten staatlichen Willens in einem konkreten Einzelfall (MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, § 113 Rn. 11; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl. 2019, § 113 Rn. 10). Die Tätigkeit des Organwalters (hier der genannte Polizeibeamte) muss erkennbar darauf abzielen, den durch sie für einen bestimmten Fall konkretisierten staatlichen Willen notfalls mit Mitteln des hoheitlichen Zwangs gegenüber bestimmten Personen durchzusetzen, so dass für die betroffenen Normadressaten eine Zwangslage zur Duldung des Eingriffs in ihre Rechtssphäre herbeigeführt wird (vgl. MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, § 113 Rn. 11).
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b) So liegt es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hier: Zusammengefasst lag danach dem Vorgehen des Polizeibeamten POM K., der zusammen mit dem PHM E. vor Ort war, zugrunde, dass der Zeuge G. auf dem Straßenbereich vor dem Anwesen V-Straße in N. mehrere Personen mit einem abgebrochenen Flaschenhals bedroht hatte. Nachdem diese Situation entschärft war, wollten die beiden Polizeibeamten die zur Verfolgung der Straftat notwendigen Feststellungen, insbesondere zur Person, treffen. Der Zeuge G. wollte sich dem entziehen, indem er in Richtung L-Straße davonrannte. Den beiden den Zeugen G. verfolgenden Beamten stellte sich die Angeklagte entgegen, um die polizeilichen Maßnahmen zu verhindern, und, nachdem der POM K. versucht hatte, die Angeklagte aus dem Weg zu schieben, stieß diese ihrerseits den POM K. weg. Um weitere Handlungen der Angeklagten zur Verhinderung der Identitätsfeststellung des Zeugen G. zu unterbinden, brachte POM K. die Angeklagte zu Boden und hielt sie fest, wobei diese sich dagegen wehrte und POM K. hierbei mit mindestens zwei Tritten am linken Kopfbereich traf, wodurch dieser Schmerzen im Bereich des Kopfes, der Ohren und des Kiefers verspürte und in der Folge mehrere Tage lang Schluckbeschwerden hatte.
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c) Das Berufungsgericht geht aufgrund der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerfrei von einer Vollstreckungstätigkeit im Sinne der §§ 113, 114 StGB. Die zur nachvollziehbaren rechtlichen Einordnung der Diensthandlung notwendigen Feststellungen nach ihrer Art, ihrem Zweck, der Ausführung und den Begleitumständen (OLG Hamm, Beschluss vom 25.02.2016 – III – 3 RVs 11/16 –, juris Rn. 6) sind vorliegend ausreichend getroffen.
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Zu unterscheiden sind insoweit die Ausgangsmaßnahme, die sich gegen den Zeugen G. richtete, und die gegen die Angeklagte gerichtete Maßnahme der Festnahme.
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aa) Die beiden Beamten PHM E. und POM K. waren hier repressiv tätig, weil sie zur Aufklärung einer Straftat (Bedrohung durch den Zeugen G.), deren Zeugen sie waren, tätig wurden, da sie die zur Verfolgung der Straftat notwendigen Feststellungen, insbesondere zur Person des Täters, treffen wollten und hierzu dessen Verfolgung aufnahmen, nachdem dieser davonrannte. Hierbei handelt es sich um eine rechtmäßige Maßnahme nach § 163b Abs. 1 StPO.
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bb) Soweit die Angeklagte diese Maßnahme unterbinden wollte, indem sie sich POM K. in den Weg stellte und diesen sogar zurückstieß, war sie Störerin im Sinne des § 164 StPO (MüKoStPO/Kölbel/Neßeler, 2. Aufl. 2024, StPO § 164 Rn. 4; BeckOK StPO/El Duwaik, 54. Ed. 01.01.2025, StPO § 164 Rn. 5; HK-GS/Kai Ambos, 5. Aufl. 2022, StPO § 164 Rn. 3). Entsprechend § 164 StPO war POM K.auch berechtigt, die Angeklagte festzunehmen. Dies war vorliegend zur Verhinderung weiterer Handlungen der Angeklagten gegen die polizeilichen Maßnahmen gegen den Zeugen G. auch erforderlich, geeignet und angemessen (Verhältnismäßigkeit), nachdem die Angeklagte vorliegend durch aktives Tun (Wegstoßen des PHM K.) ihr Ziel verfolgte und sich durch das vorherige Aus-Dem Weg-Stoßen seitens POM K. nicht von der Durchführung weiterer Störungen hatte abbringen lassen.
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cc) Hierzu durfte POM K. auch unmittelbaren körperlichen Zwang anwenden (MüKoStPO/Kölbel/Neßeler, 2. Aufl. 2024, StPO § 164 Rn. 7; BeckOK StPO/El Duwaik, 54. Ed. 01.01.2025, StPO § 164 Rn. 8; KK-StPO/Schmitt, 9. Aufl. 2023, StPO § 164 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, 67. Auflage 2024, StPO § 164 Rn. 2), der vorliegend auch nicht angedroht werden musste.
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(1) § 164 StPO bildet demnach nicht nur die Rechtsgrundlage für den dort bezeichneten Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Angeklagten, sondern darüber hinaus auch die Grundlage für die mit der Festnahme verbundenen Vorbereitungs- und Vollziehungsmaßnahmen, soweit diese notwendig und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck angemessen sind (OLG Dresden, Beschluss vom 01.08.2001 – 3 Ss 25/01 –, juris Rn. 27 für eine Maßnahme nach § 81a StPO). Mit dieser Regelung des unmittelbaren Zwangs wird die Rechtsstellung der Angeklagten nicht verletzt. Sie wird vielmehr durch den mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschützt, der für das gesamte öffentliche Recht, somit auch im Strafrecht, Geltung hat. Die Ausübung des unmittelbaren Zwangs hat sich daher in Wahl und Ausmaß des angewandten Mittels nach dem in der konkreten Situation Erforderlichen zu richten. Ein Übermaß an Gewalteinwirkung wäre hiernach rechtlich nicht gedeckt (Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, 67. Auflage 2024, Einl., Rn. 20 ff.).
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(2) Zur Einhaltung und Ausgestaltung dieser Grundsätze können in der Praxis – so wie es hier das Berufungsgericht durchgeführt hat – als Orientierungsmaßstab die für das jeweilige Handeln der besonderen Beamtengruppe erlassenen Vorschriften herangezogen werden, hier die Regelungen des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwangs (vgl. vom Rechtsgedanken her auch MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, StGB § 113 Rn. 41; Fischer/Anstötz, 72. Auflage 2025, StGB § 113 Rn. 13 m.w.N.). Sie haben die Funktion, für typisierte Fallgestaltungen der polizeilichen Tätigkeit Mindesterfordernisse bei besonders belastenden Eingriffen zu gewährleisten. Sie sind somit regelmäßig die positiv-rechtliche Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Gemäß Art. 81 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes muss unmittelbarer Zwang vor seiner Anwendung angedroht werden. Nach Satz 2 der Vorschrift kann hiervon abgesehen werden, „wenn die Umstände sie nicht zulassen“, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer Gefahr notwendig ist.
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Im Polizeirecht handelt es sich bei der Androhung des unmittelbaren Zwangs um eine wesentliche Förmlichkeit des Verfahrens, wenn die Diensthandlung gerade in dessen Anwendung besteht. Das Erfordernis der Androhung ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und bezweckt, polizeiliche Zwangsmaßnahmen, die regelmäßig mit Gefahren für den Betroffenen und für den Polizeibeamten verbunden sind, möglichst zu vermeiden. Deshalb soll der jeweils Betroffene, der nicht bloßes Objekt einer hoheitlichen Maßnahme ist, durch die Androhung des Einsatzes unmittelbaren Zwangs vor dessen Einsatz den ganzen Ernst der Situation deutlich erkennen. Er soll damit – letztmalig – die Möglichkeit erhalten, sein Verhalten selbst zu korrigieren (OLG Dresden, Beschluss vom 01.08.2001 – 3 Ss 25/01 –, juris Rn. 28 ff.).
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Eine Androhung des unmittelbaren Zwangs war vorliegend nicht notwendig. Die Kammer hat sich in ausreichender Weise mit der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder einer etwaigen Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit der vorherigen Androhung des unmittelbaren Zwangs auseinandergesetzt. In nicht zu beanstandender Weise ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass eine vorherige Androhung des unmittelbaren Zwangs nicht erforderlich war, weil eine Androhung aufgrund des bereits gezeigten Verhaltens der Angeklagten von vornherein keinen Erfolg versprach, nachdem diese sich bereits nicht durch ein erstes Wegstoßen von der Durchführung weiterer Störungsversuche abhalten ließ (BeckOK StPO/El Duwaik, 54. Ed. 01.01.2025, StPO § 164 Rn. 8; Erb in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 164 StPO Rn. 12).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.