Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 18.02.2025 – 204 StObWs 557/24
Titel:

Disziplinarmaßnahme gegen Strafgefangenen wegen verspäteten Erscheinens zum sog. Einschluss

Normenketten:
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1
StVollzG § 115 Abs. 3
BayStVollzG Art. 88, Art. 110 Abs. 1 Nr. 2, Art. 184 Abs. 2 Nr. 2, Art. 208
Leitsätze:
1. Im Fall einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Strafgefangenen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, tritt mit Ablauf der Bewährungszeit Erledigung ein, so dass der Strafgefangene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme beantragen kann. (Rn. 17)
2. Wegen ihrer Folgewirkung für künftige Disziplinarmaßnahmen, Lockerungsentscheidungen und Stellungnahmen zu Anträgen nach § 57 StGB besteht auch nach dem Vollzug der Disziplinarfolge ein Feststellungsinteresse daran, die Rechtmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen. (Rn. 28)
1. Dass sich ein Strafgefangener bei Ertönen eines sog. Einschlusssignals außerhalb seines Haftraums befindet, vermag die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme nur zu rechtfertigen, wenn in der Hausordnung (Art. 184 Abs. 2 Nr. 2 BayStVollzG) ausdrücklich angeordnet ist, dass sich die Gefangenen bereits zu Beginn des Signaltons am oder im eigenen Haftraum befinden müssen, dem akustischen Signal also nicht lediglich die Funktion einer Vorwarnung vor dem unmittelbar bevorstehenden bzw. demnächst stattfindenden Einschlusses zukommt. (Rn. 39 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch wenn die Hausordnung die Gefangenen ausdrücklich dazu verpflichtet, bereits zu Beginn des Signaltons am oder im eigenen Haftraum zu sein, ist in einer geringfügigen Verspätung noch keine Pflichtverletzung zu sehen, wenn die Tolerierung kurzfristiger Zeitüberschreitungen durch die zuständigen Vollzugsbediensteten zu einer allgemeinen Übung in der Anstalt geführt hat. Gegebenenfalls kann sich die Anstalt nicht auf den Grundsatz „keine Gleichheit im Unrecht“ berufen. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Disziplinarmaßnahme, Aussetzung zur Bewährung, Ablauf der Bewährungszeit, Erledigung, Feststellungsinteresse, geordnetes Zusammenleben in der Anstalt, Hausordnung, Ruhezeit, Einschluss, allgemeine Übung, keine Gleichheit im Unrecht
Vorinstanz:
LG Augsburg vom -- – 1 LL StVK 337/24
Fundstelle:
BeckRS 2025, 3520

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Landsberg am Lech vom 20. September 2024 in Ziffer 1 aufgehoben.
2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens – an die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Landsberg am Lech zurückverwiesen.
3. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 500 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt L.
2
Diese ordnete nach Anhörung des Beschwerdeführers mit der diesem am 18.06.2024 eröffneten Entscheidung eine Disziplinarmaßnahme in Form einer einmonatigen Beschränkung/Entzug der Verfügung über das Hausgeld und des Einkaufs/Sondereinkaufs gemäß Art. 110 Abs. 1 Nr. 2 BayStVollzG wegen eines schuldhaften Verstoßes gegen Art. 88 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG i.V.m. Nr. 2.1 und 1 der Hausordnung an, weil der Gefangene Anordnungen nicht befolgt und damit das geordnete Zusammenleben gestört habe. Die Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme wurde auf einen Zeitraum von drei Monaten zur Bewährung ausgesetzt. Die Anstalt berücksichtigte zu Gunsten des Antragstellers, dass es sich um das erste Disziplinarverfahren gehandelt habe und dass dieser geständig gewesen sei. Zu Lasten des Antragstellers wurde nichts angeführt.
3
Dem lag zugrunde, dass der Antragsteller sich am 15.06.2024 gegen 15:30 Uhr zum Zeitpunkt des allgemeinen Einschlusses nicht in seinem Haftraum befand. Er sei – so die Antragsgegnerin – vier Minuten zu spät erschienen, so dass es nach Meldung der Bediensteten S. durch die verursachte Verzögerung zu einer Störung des geordneten Zusammenlebens gekommen sei. Der Ablauf des Einschlusses habe sich verzögert, da sich die Standmeldung der Bediensteten verspätet habe. Somit habe der sog. Nachverschluss erst zeitverzögert vorgenommen werden können. Der Gefangene habe bei seiner Anhörung angegeben, sich zum Zeitpunkt des Einschlusses „zwei Türen weiter“ befunden zu haben. Er sei 30 Sekunden bis eine Minute zu spät zum Einschluss zu seinem Haftraum gekommen und habe nicht gedacht, dass es hierdurch zu Verzögerungen in den Abläufen der Justizvollzugsanstalt kommen könne.
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Der Antragsteller trägt vor, die Vollzugsbedienstete S. habe am 16.06.2024 (richtig: 15.06.2024) nach Ertönen des Einschlusssignals mit dem Einschluss der Gefangenen in die Hafträume im zweiten Stock der Justizvollzugsanstalt L. begonnen. Er habe sich auf den Weg zu seinem Haftraum begeben. Die Bedienstete S. habe diesen Haftraum jedoch erreicht, bevor er dort eingetroffen sei, diesen verschlossen und ihre Einschlussrunde fortgesetzt. Der Antragsteller sei etwa eine Minute, nachdem die Bedienstete am Haftraum des Gefangenen vorbeigekommen sei, dort eingetroffen und habe drei Minuten gewartet, bis die Bedienstete ihre Einschlussrunde beendet habe und den Antragsteller nunmehr in seinem Haftraum eingeschlossen habe. Zuvor habe sie ihm mitgeteilt, dass dieser durch sein verspätetes Eintreffen die gesamte Organisation der Anstalt erheblich gestört habe.
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Der Antragsteller ist der Ansicht, die Maßnahme sei unverhältnismäßig und habe gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, da in der Vergangenheit auch andere (von ihm namentlich bezeichnete) Gefangene verspätet an ihren Hafträumen eingetroffen seien, ohne dass gegen diese Disziplinarmaßnahmen verhängt worden seien.
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Hierzu nahm die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 17.07.2024 Stellung und beantragte, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen. Sie wies u.a. auf die Meldung der Vollzugsbediensteten S. hin, wonach der Antragsteller sich weder entschuldigt noch sonstige Anstalten des Bedauerns gezeigt habe.
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Der Antragsteller erwiderte mit Schreiben vom 25.07.2024 und vom 10.08.2024. Er brachte unter anderem vor, dass die Bedienstete S. eigenwillige Umgangsformen gegenüber den Gefangenen praktiziere, unter anderem eine eigene Einschlussroutine. Üblicherweise würden Vollzugsbedienstete ihre Einschlussrunde einige Minuten nach Ertönen des Einschlusssignals beginnen, um es den Gefangenen zu ermöglichen, ihre Hafträume in einem angemessenen Zeitrahmen zu erreichen. Hierauf seien die Gefangenen eingestellt. Die Bedienstete S. beginne ihre Einschlussrunde allerdings in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Signalton, so dass die Wahrscheinlichkeit eines verspäteten Eintreffens am Haftraum deutlich zunehme. Er berief sich auf Stellungnahmen von drei Mitgefangenen und auf die Dokumentation hinsichtlich eines weiteren Mitgefangenen.
8
Die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Landsberg hat mit Beschluss vom 20.09.2024 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 25.06.2024 als unbegründet zurückgewiesen.
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Gegen diesen ihm am 25.09.2024 zugestellten Beschluss hat der Strafgefangene am 14.10.2024 zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Landgerichts Augsburg Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er diesen im Ganzen anficht und dessen Aufhebung im Ganzen sowie Entscheidung nach seinen gestellten Anträgen beantragt. Er rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Unter anderem macht er einen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz und gegen den Gleichheitsgrundsatz durch die willkürliche Bewertung identischer Sachverhalte geltend.
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Die Generalstaatsanwaltschaft München hat mit Schreiben vom 31.10.2024 die kostenfällige Verwerfung der Rechtsbeschwerde als unzulässig beantragt und darauf hingewiesen, dass die Strafvollstreckungskammer ihre Entscheidung nach Ablauf der Bewährungszeit getroffen habe, so dass Bedenken bestehen, ob der Antrag noch zulässig war oder ob bereits Erledigung eingetreten sei. Der Antragsteller nahm hierzu mit Schreiben vom 16.11.2024 Stellung.
II.
11
Die gemäß Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 118 Abs. 1 bis 3 StVollz form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen ist auch im Übrigen zulässig, da der Beschwerdeführer schlüssig eine Verletzung der Aufklärungspflicht durch die Strafvollstreckungskammer in einem grundrechtsrelevanten Bereich rügt.
III.
12
Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer zur neuen Entscheidung.
13
Wie bereits die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift ausgeführt hat, ist nach Aktenlage im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens vor Erlass des angefochtenen Beschlusses durch den Ablauf der Bewährungszeit eine Erledigung der angegriffenen Maßnahme gemäß Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 115 Abs. 3 StVollzG eingetreten. Die Strafvollstreckungskammer war somit gehalten, die Frage der Erledigung zu prüfen, gegebenenfalls festzustellen und dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, seinen bisher gestellten Anfechtungsantrag in einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der getroffenen Disziplinarmaßnahme umzustellen.
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1. Der Eintritt eines erledigenden Ereignisses ist im Strafvollzugsverfahren von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens, also sowohl von der Strafvollstreckungskammer, für die der Untersuchungsgrundsatz gilt, als auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.10.2001 – 1 Vollz (Ws) 201/01 –, ZfStrVo 2002, 243, juris Rn. 6) zu prüfen (vgl. nur KG, Beschluss vom 25.07.2017 – 5 Ws 157/17 Vollz –, juris Rn. 23 und 28; OLG Hamm, Beschluss vom 11.06.2015 – 1 Vollz (Ws) 163/15 –, juris Rn. 11; OLG Stuttgart, Beschluss vom 24.09.1991 – 4 Ws 212/91 –, NStZ 1992, 104; Arloth/Krä/Arloth, StVollzG, 5. Aufl. 2021, § 115 Rn. 9 und § 121 Rn. 3) und im Falle der Bejahung festzustellen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.10.2001 – 1 Vollz (Ws) 201/01 –, ZfStrVo 2002, 243, juris Rn. 6; OLG München, Beschluss vom 31.07.2012 – 4 Ws 133/12 –, juris Rn. 13; Bachmann, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/ Verrel/Baier, StVollzG, 13. Aufl. 2024, Kap. P Rn. 78; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., § 115 Rn. 1; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 26. Ed. 01.08.2024, § 115 Rn. 14). Dieser Feststellung steht auch der Verfügungsgrundsatz nicht entgegen (LG Hamburg, Beschluss vom 26.09.1991 – 613 Vollz 120/90 –, NStZ 1992, 255 f.; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., § 115 Rn. 1; Bachmann, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/ Baier, a.a.O., Kap. P Rn. 67 m.w.N.; vgl. zum Ganzen BayObLG, Beschluss vom 27.01.2021 – 204 StObWs 378/20 –, FS 2021, 218, juris Rn. 22).
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2. Nach Aktenlage war hinsichtlich der am 18.06.2024 angeordneten Disziplinarmaßnahme die Bewährungszeit von drei Monaten am 18.09.2024, also vor Erlass des angefochtenen Beschlusses am 20.09.2024 abgelaufen, zumal der gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß, Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 114 Abs. 1 StVollzG keine aufschiebende Wirkung hatte (vgl. Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 104 Rn. 2). Damit hat sich die Maßnahme – vorbehaltlich einer möglichen Verlängerung der Bewährungszeit – durch Zeitablauf erledigt.
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a) Eine Maßnahme ist erledigt, wenn die sich aus ihr ergebende Beschwer nachträglich weggefallen ist (vgl. KG, Beschlüsse vom 25.07.2017 – 5 Ws 157/17 Vollz –, juris Rn. 22; vom 13.11.2003 – 5 Ws 405/03 Vollz –, juris Rn. 5; OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.08.2014 – 1 Ws 213/14 –, StraFo 2014, 523, juris Rn. 23; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 115 Rn. 9; Laubenthal, in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Aufl. 2020, Kap. 12. Abschn. I Rn. 18) bzw. die mit dem Anfechtungsantrag angegriffene Maßnahme nicht mehr unmittelbar fortwirkt (vgl. Spaniol, in: Feest/Lesting/Lindemann, StVollzG, 8. Aufl. 2022, Teil IV, § 115 Rn. 69). Neben dem gesetzlichen Beispiel der Zurücknahme der Maßnahme ist dies u.a. bei befristeten Maßnahmen – etwa Disziplinarmaßnahmen – aufgrund Zeitablaufs der Fall (Spaniol, in Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., Teil IV, § 115 Rn. 69). Demgemäß geht die wohl überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass sich eine Disziplinarmaßnahme durch ihre Vollstreckung erledigt, wenn sie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (vgl. KG, Beschluss vom 08.12.1986 – 5 Ws 401/86 Vollz –, StV 1987, 541; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.02.2004 – 3 Vollz (Ws) 133/03 –, StV 2004, 389, juris Rn. 13; OLG Hamm, Beschluss vom 20.04.1989 – 1 Vollz (Ws) 45/89 –, NStZ 1989, 552, juris Rn. 10; OLG Naumburg, Beschluss vom 14.06.2017 – 1 Ws (RB) 24/17 –, juris Rn. 4; OLG Nürnberg, Beschluss vom 23.08.2001 – Ws 832/01 –, juris Rn. 9; so im Ergebnis auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 12.03.2007 – 2 Ws 52/07 –, FS 2008, 93, juris Rn. 16, 18, 27 ff.; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 115 Rn. 9, und § 102 Rn. 10; Laubenthal in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 11 Abschn. M Rn. 26; zweifelnd OLG Jena, Beschluss vom 27.06.2006 – 1 Ws 129/06 –, NStZ 2006, 702, juris Rn. 20).
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b) Im Fall einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Strafgefangenen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, tritt nach zutreffender Auffassung mit Ablauf der Bewährungszeit Erledigung ein, so dass der Strafgefangene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme beantragen kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 07.04.2020 – 2 BvR 1935/19 –, juris Rn. 10 und 25; so auch OLG Hamburg, Beschluss vom 02.03.2004 – 3 Vollz (Ws) 128/03 –, juris Rn. 1, 3, 8).
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Der Rechtsschutz hängt damit von der Art der verhängten Disziplinarmaßnahme ab, im wesentlichen also davon, ob diese ganz oder teilweise rückgängig gemacht werden kann oder – im Falle der Verhängung zeitlich befristeter Sanktionen, die sofort vollstreckt werden – ob der Zeitraum abgelaufen ist oder nicht (vgl. hierzu BVerfG, Kammerbeschluss vom 07.04.2020 – 2 BvR 1935/19 –, juris Rn. 25). Demgemäß kann ein vollzogener Arrest kaum nach § 115 Abs. 2 StVollzG aufgehoben werden, während dies bei einem Verweis ohne weiteres möglich sei (Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 102 Rn. 10). Bei den meisten in § 103 Abs. 1 StVollzG (entsprechend Art. 110 BayStVollzG) genannten Maßnahmen kommt daher nur ein Feststellungsantrag nach § 115 Abs. 3 StVollzG in Betracht (Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 102 Rn. 10).
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c) Demgegenüber wird von Teilen der Rechtsprechung und Literatur die Auffassung vertreten, dass bei einer Disziplinarmaßnahme die Beschwer für den Gefangenen regelmäßig nicht dadurch entfällt, dass sie vollzogen wird.
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aa) Abgesehen von der diskriminierenden Wirkung, die mit dem die Maßnahme tragenden Schuldvorwurf für den Gefangenen auch nach deren Vollzug verbunden bleibt, könne eine vollzogene Maßnahme vor allem im Rahmen von Entscheidungen über die Ahndung späterer Pflichtwidrigkeiten wie auch im Verfahren über eine Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe beträchtliches Gewicht erlangen. Das spreche dafür, in dem Vollzug der Maßnahme keine Erledigung im Sinne von § 115 Abs. 3 StVollzG zu sehen (so KG, Beschluss vom 13.11.2003 – 5 Ws 405/03 Vollz –, NStZ 2004, 612 bei Matzke, juris Rn. 5 f.; dem folgend Bachmann, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier, a.a.O., Kap. P Rn. 79; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, a.a.O., StVollzG § 115 Rn. 14; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 115 Rn. 15; anders noch KG, Beschluss vom 08.12.1986 – 5 Ws 401/86 Vollz –, StV 1987, 541).
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bb) Teilweise wird dies dahin eingeschränkt, dass (nur dann) keine Erledigung im Sinne des § 115 Abs. 3 StVollzG eintreten soll, wenn die beanstandete Disziplinarmaßnahme zwar vollzogen ist, jedoch Bedenken bezüglich ihrer Rechtmäßigkeit in erster Linie aus der Verletzung von Verfahrensvorschriften hergeleitet werden. Denn die Aufdeckung solcher Verfahrensverstöße führe nicht zur endgültigen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme; das wäre nur dann der Fall, wenn man von einem Verbrauch der Disziplinarbefugnis ausgehen könnte (so zunächst OLG Hamm, Beschluss vom 17.09.1987 – 1 Vollz (Ws) 373/87 –, nicht veröffentlicht, aber zitiert im Beschluss vom 02.07.1991 – 1 Vollz (Ws) 48/91 –, NStZ 1991, 509, juris Rn. 17; dem folgend Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 102 Rn. 10: and. Ans. Laubenthal, in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, a.a.O., Kap. 11 Abschn. M Rn. 26). In einer späteren Entscheidung, die eine zur Bewährung ausgesetzte Disziplinarmaßnahme nach Ablauf der Bewährungszeit betraf (Beschluss vom 02.07.1991 – Vollz (Ws) 48/91 –, NStZ 1991, 509, juris Rn. 5), hat das Oberlandesgericht Hamm darauf hingewiesen, dass diese Auffassung nicht auf die Fälle einer geltend gemachten Fehlerhaftigkeit des Disziplinarverfahrens beschränkt sei, sondern auch für alle diejenigen Fälle gelte, in denen Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme aus materiell-rechtlichen Gesichtspunkten geltend gemacht werden, deren Anknüpfungstatsachen oder Grundlagen noch abänderbar oder ergänzbar seien und die nicht ausschließlich die Gesetzmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme im ganzen betreffen. Auch hier stellte es darauf ab, dass von einer Erledigung der Maßnahme durch deren Vollziehung so lange nicht die Rede sein könne, als nicht die Frage der Disziplinarbefugnis insgesamt davon abhängt. Vielfach werde es der Vollzugsbehörde unbenommen sein, auch in solchen Fällen noch eine neue, materiell-rechtlich einwandfreie Entscheidung über die Frage der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme zu treffen. Dem könne aber nicht durch die Zulassung eines Feststellungsbegehrens des Betroffenen, sondern in sachgerechter Weise nur über den Weg des Anfechtungs- und Verpflichtungsbegehrens Rechnung getragen werden. Zum einen stelle § 115 Abs. 3 StVollzG für die Zulässigkeit des Feststellungsbegehrens nicht auf die Vollziehung, sondern auf die Erledigung einer Maßnahme ab, zum anderen unterliege, solange für die Vollzugsbehörde noch die rechtliche Möglichkeit besteht, über die Verhängung einer Maßnahme neu oder anders als bisher zu entscheiden, diese Rechtsposition nicht der Dispositionsbefugnis des Gefangenen (Beschluss vom 02.07.1991 – 1 Vollz (Ws) 48/91 –, NStZ 1991, 509, juris Rn. 19). Dem folgt ein Teil der Kommentarliteratur, wonach der Vollzug der Disziplinarmaßnahme mit der Erledigung erst bei der Frage der materiellen Berechtigung der angefochtenen Maßnahme, die auch den endgültigen Verbrauch der Disziplinarbefugnis abschließend klären würde, zusammenfallen könne (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, a.a.O., StVollzG § 115 Rn. 14).
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cc) Im Anschluss hieran vertritt auch das Thüringer Oberlandesgericht die Auffassung, dass im Falle von Disziplinarmaßnahmen mit der Annahme von Erledigung – sowohl im Interesse des Gefangenen als auch im Interesse der Justizvollzugsanstalt – Zurückhaltung geboten sei, und hält eine Erledigung „in verstärktem Maße“ dann für zweifelhaft, wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist und sie tatsächlich nicht vollstreckt wurde (Beschluss vom 27.06.2006 – 1 Ws 129/06 –, NStZ 2006, 702, juris Rn. 20). Dass die Maßnahme (im Fall des Thüringer Oberlandesgerichts ein Arrest) nach Ablauf der Bewährungsfrist nicht mehr vollstreckt werden kann, rechtfertige die Annahme einer Erledigung nicht, denn die Wirkung des Ausspruchs der strafähnlichen Sanktion eines Arrests erschöpfe sich nicht in der Möglichkeit seiner Vollstreckung. Die gegenteilige Auffassung würde zum einen den Anspruch des Gefangenen auf effektiven und ausreichenden Rechtsschutz missachten, zum anderen der Justizvollzugsanstalt in Fällen, in denen die Rechtswidrigkeit der konkret angeordneten Disziplinarmaßnahme auf einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder auf Verfahrensfehlern beruht, die Möglichkeit der erneuten Ahndung des Pflichtverstoßes des Gefangenen unter Vermeidung der der früheren Anordnung anhaftenden Fehler nehmen – mit der schwer erträglichen Konsequenz, dass das Fehlverhalten des Gefangenen dann dauerhaft sanktionslos bliebe (Beschluss vom 27.06.2006 – 1 Ws 129/06 –, NStZ 2006, 702, juris Rn. 21). Auch nach Ansicht von Laubenthal (in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 11 Abschn. M Rn. 26) mag im Falle der bei Entscheidung bereits abgelaufenen Bewährungszeit die Maßnahme nach § 115 Abs. 2 StVollzG aufgehoben werden.
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d) Dieser Ansicht folgt der Senat nicht.
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aa) Das Kammergericht (Beschluss vom 13.11.2003 – 5 Ws 405/03 Vollz –, NStZ 2004, 612 bei Matzke, juris Rn. 5 f.) und das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 02.07.1991 – 1 Vollz (Ws) 48/91 –, NStZ 1991, 509, juris Rn. 19) stützen sich darauf, dass der Regelung des § 115 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zu entnehmen sei, dass auch eine bereits vollzogene Maßnahme der Aufhebung nach § 115 Abs. 2 Satz 1 StVollzG unterliege. Dem ist entgegenzuhalten, dass aus § 115 Abs. 2 Satz 2 StVollzG kein Argument gegen eine Erledigung hergeleitet werden kann. Denn diese Vorschrift setzt voraus, dass die bereits vollzogene Maßnahme rückgängig gemacht werden kann, was etwa bei einem vollzogenen Arrest nicht mehr der Fall ist.
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Soweit das Kammergericht meint, die überwiegende Auffassung stehe nicht im Einklang mit dem allgemeinen Verfahrensgrundsatz, dass weiterreichende Klagen einem Feststellungsbegehren vorgehen (vgl. Beschluss vom 13.11.2003 – 5 Ws 405/03 Vollz –, juris Rn. 8, unter Hinweis auf OLG Koblenz, Beschluss vom 26.01.1989 – 2 Vollz (Ws) 63/88 –, ZfStrVo 1989, 182, juris Rn. 6 zum Vorrang des Folgenbeseitigungsanspruchs bei weiterhin vorliegender Beschwer gegenüber dem selbständigen Feststellungsbegehren), trifft dies gerade nicht für die nach Erledigung der Hauptsache in § 115 Abs. 3 StVollzG vorgesehene Fortsetzungsfeststellungsklage zu.
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bb) Unabhängig hiervon handelt es sich bei der fortwirkenden diskriminierenden Wirkung der strafähnlichen Disziplinarmaßnahme und deren Einfluss auf künftige Entscheidungen der Vollzugsanstalt (etwa hinsichtlich Lockerungen) um keine auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtete Folgen der Maßnahme (vgl. zu diesem Erfordernis der angreifbaren Maßnahme Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 109 Rn. 7 m.w.N. und 12), sondern lediglich um mittelbare Auswirkungen, zu deren Beseitigung es keiner Aufhebung der Disziplinaranordnung bedarf. Insoweit reicht die gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Disziplinarmaßnahme aus, um solche Folgen zu beseitigen (so bereits KG, Beschluss vom 08.12.1986 – 5 Ws 401/86 Vollz –, StV 1987, 541). Dies steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach stellt die Verhängung eines Arrests als erhebliche Verschärfung der Bedingungen der Freiheitsentziehung, die dem Strafgefangenen auferlegt ist, allerdings einen tiefgreifenden und schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar (vgl. Kammerbeschlüsse vom 11.06.2003 – 2 BvR 1724/02 – BVerfGK 1, 201, juris Rn. 12; vom 12.02.2004 – 2 BvR 1709/02 –, BVerfGK 2, 318, juris Rn. 15). Ebenso handelt es sich etwa beim Entzug der Verfügung über das Hausgeld, den Ausschluss vom Einkauf und von Gemeinschaftsveranstaltungen, der Fernsehsperre für die Dauer eines Monats und der Ablösung von der Arbeit um nicht unerhebliche Eingriffe in das allgemeine Freiheitsrecht des Strafgefangenen (Kammerbeschluss vom 07.09.1994 – 2 BvR 1958/93 –, ZfStrVo 1995, 372, juris Rn. 15 i.V.m. Rn. 8 und 10). Gleichwohl geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass nach vollständigem Vollzug von Disziplinarmaßnahmen ebenso wie nach Ablauf der Bewährungszeit von zur Bewährung ausgesetzten Disziplinarmaßnahmen, die jeweils Gegenstand eines Feststellungsantrags des Strafgefangenen waren, Erledigung eingetreten ist (so zum vollständig vollzogenen Arrest: Kammerbeschlüsse vom 12.02.2004 – 2 BvR 1709/02 –, BVerfGK 2, 318, juris Rn. 15; vom 11.06.2003 – 2 BvR 1724/02 –, BVerfGK 1, 201, juris Rn. 12; zum Ablauf der Bewährungszeit: Kammerbeschluss vom 07.04.2020 – 2 BvR 1935/19 –, juris Rn. 10 und 25), wobei es in Fällen tiefgreifender und schwerwiegender Grundrechtseingriffe das Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses trotz Erledigung bejaht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.12.2001 – 2 BvR 527/99 –, BVerfGE 104, 220, juris Rn. 36, 38, 40 f.; Kammerbeschluss vom 07.09.1994 – 2 BvR 1958/93 –, ZfStrVo 1995, 372, juris Rn. 13 ff.). Dies lässt erkennen, dass auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts der Rechtsschutz des Gefangenen durch eine Gerichtsentscheidung, die die Rechtswidrigkeit der Disziplinarmaßnahme feststellt, hinreichend gewährleistet ist.
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3. Wenn sich somit die Hauptsache nach Stellung des Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrags erledigt, hat der Antragsteller bei Vorliegen eines Feststellungsinteresses die Möglichkeit, einen Fortsetzungsfeststellungsantrag zu stellen, worauf er auch hinzuweisen ist (BayObLG, Beschluss vom 27.01.2021 – 204 StObWs 378/20 –, FS 2021, 218, juris Rn. 23 m.w.N.). Einen solchen Hinweis hat die Strafvollstreckungskammer nicht erteilt und dem Antragsteller somit die Möglichkeit genommen, von seinem Wahlrecht gemäß Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 115 Abs. 3 StVollzG Gebrauch zu machen. Die Zurückverweisung der Sache gibt der Strafvollstreckungskammer Gelegenheit, die Frage der nach Aktenlage eingetretenen Erledigung zu prüfen und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, den von ihm schon in Aussicht gestellten Fortsetzungsfeststellungsantrag anzubringen.
4. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
28
a) Wegen ihrer Folgewirkung für künftige Disziplinarmaßnahmen, Lockerungsentscheidungen und Stellungnahmen zu Anträgen nach § 57 StGB besteht auch nach dem Vollzug der Disziplinarfolge ein Feststellungsinteresse daran, die Rechtmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.11.2007 – 2 BvR 1136/07 –, BVerfGK 12, 378, juris Rn. 24; KG, Beschluss vom 08.12.1986 – 5 Ws 401/86 Vollz –, StV 1987, 541, 542; OLG Hamm, Beschluss vom 20.04.1989 – 1 Vollz (Ws) 45/89 –, NStZ 1989, 552, juris Rn. 11 f.; OLG München Beschluss vom 02.08.2007 – 3 Ws 451/07 R, BeckRS 2015, 17706; OLG Nürnberg, Beschluss vom 23.08.2001 – Ws 832/01 –, juris Rn. 9; Laubenthal in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 11. Abschn. M Rn. 26; Burhoff/​Kotz, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, 1. Aufl. 2016, Teil C Rn. 327).
29
b) Disziplinarmaßnahmen sind strafähnliche Sanktionen, für die der aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Schuldgrundsatz gilt. Dieser Grundsatz verbietet es, eine Tat ohne Schuld des Täters strafend oder strafähnlich zu ahnden. Disziplinarmaßnahmen dürfen daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei geklärt ist, ob ein schuldhafter Pflichtverstoß überhaupt vorliegt (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 06.11.2007 – 2 BvR 1136/07 –, BVerfGK 12, 378, juris Rn. 31; vom 12.02.2004 – 2 BvR 1709/02 –, BVerfGK 2, 318, juris Rn. 17, jeweils m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 30.10.2023 – 203 StObWs 290/23 –, juris Rn. 96). Die Bejahung des Vorliegens eines Disziplinartatbestandes bzw. eines Pflichtverstoßes unterliegt der vollen Nachprüfung im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.02.2004 – 2 BvR 1709/02 –, BVerfGK 2, 318, juris Rn. 19; Laubenthal in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 11 Abschn. M Rn. 26; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 102 Rn. 10 m.w.N.; Verrel, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/ Verrel/Baier, a.a.O., Kap. M Rn. 206). Hinreichender Tatsachenfeststellungen bedarf es auch für die gebotene Prüfung, ob die verhängten Sanktionen insgesamt schuldangemessen und auch sonst verhältnismäßig sind (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 31.01.1994 – 2 BvR 1723/93 –, StV 1994, 263; vom 24.10.2006 – 2 BvR 30/06 –, BVerfGK 9, 390, juris Rn. 25; vom 23.04.2008 – 2 BvR 2144/07 –, BVerfGK 13, 472, juris Rn. 40).
30
Anders als die Feststellung der Pflichtverletzung selbst liegt die Auswahl von Disziplinarmaßnahmen (hier nach Art. 110 Abs. 1 Nr. 2 BayStVollzG) im pflichtgemäßen Ermessen des Inhabers der Disziplinarbefugnis (Laubenthal in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, a.a.O., Kap. 11. Abschn. M, Rn. 19). Gemäß § 115 Abs. 5 StVollzG ist diese Ermessensentscheidung der Vollzugsbehörde im Verfahren nach §§ 109 ff. StVollzG von der Strafvollstreckungskammer nur eingeschränkt auf Ermessensfehler hin überprüfbar. Diese hat im Rahmen ihrer Entscheidung insbesondere zu überprüfen, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und ob alle für die Abwägung relevanten Aspekte einbezogen worden sind (vgl. BayObLG, Beschluss vom 30.10.2023 – 203 StObWs 290/23 –, StV 2024, 693, juris Rn. 97; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, a.a.O., StVollzG § 115 Rn. 18 m.w.N. zur Rspr.).
31
c) Die Strafvollstreckungskammer geht von einem schuldhaften Pflichtverstoß aus, da sich der Antragsteller – unstreitig – zum allgemeinen Einschluss um 15:30 Uhr nicht an seinem Haftraum befand und es dadurch zu einer Verzögerung des Einschlusses von vier Minuten gekommen ist, da zunächst sein Haftraum habe vorgesperrt werden müssen und das sog. Nachsperren erst habe erfolgen können, nachdem alle Bediensteten ihre Standmeldung abgegeben hatten.
32
Auch wenn die Zeit des allgemeinen Einschlusses am 15.06.2024, einem Samstag, von beiden Beteiligten mit 15.30 Uhr angegeben wurde und damit unstreitig ist, und auch das Einschlusssignal zu diesem Zeitpunkt ertönte, besteht angesichts des Vorbringens des Antragstellers Aufklärungsbedarf.
33
aa) Die Antragsgegnerin stützte die Verhängung der Disziplinarmaßnahme auf einen Verstoß gegen Art. 88 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG i.V.m. Nr. 2.1 und 1 der Hausordnung der Justizvollzugsanstalt.
34
(1) Nach Art. 88 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG haben die Gefangenen sich nach der Tageseinteilung der Anstalt (Arbeitszeit, Freizeit, Ruhezeit) zu richten. Diese Regelung knüpft an Art. 19 und Art. 20 BayStVollzG an. Diese Vorschriften unterscheiden hinsichtlich der Unterbringung des Gefangenen nach dem allgemeinen dreiteiligen Lebensrhythmus zwischen Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit (vgl. hierzu Verrel, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier, a.a.O., Kap. D Rn. 45), wobei Art. 20 BayStVollzG davon ausgeht, dass die Gefangenen während der Ruhezeit (allein oder gemeinschaftlich) in ihren Hafträumen untergebracht werden. Ruhe- und Einschlusszeit sind insoweit gleichbedeutend (vgl. hierzu Verrel, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier, a.a.O., Kap. D Rn. 46; s.a. Harrendorf/​Ullenbruch in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 11 Abschn. B Rn. 2).
35
Die Anordnungen über Arbeitszeit, Freizeit und Ruhezeit sind nach Art. 184 Abs. 2 Nr. 2 BayStVollzG in die Hausordnung aufzunehmen. Durch die Festlegung der konkreten Tageseinteilung und die Aufschlusszeiten in der Hausordnung werden diese verbindlich (vgl. Harrendorf/​ Ullenbruch in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 11 Abschn. B Rn 2 und 3; Pfalzer in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 13 Abschn. N Rn. 2; Weßels/Böning, in Feest/ Lesting/Lindemann, a.a.O., § 11 LandesR, Rn. 4; Verrel, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/ Baier, a.a.O., Kap. M Rn. 10), weshalb eine zusätzliche Regelung im Gesetz verzichtbar erscheint (Goerdeler, in Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., § 73 LandesR, Rn. 18).
36
(2) Nach Art. 88 Abs. 1 Satz 2 BayStVollzG dürfen die Gefangenen durch ihr Verhalten gegenüber Vollzugsbediensteten, Mitgefangenen und anderen Personen das geordnete Zusammenleben nicht stören. Nach Art. 88 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG haben sie die Anordnungen der Vollzugsbediensteten zu befolgen, auch wenn sie sich durch sie beschwert fühlen.
37
(3) Die Vorschrift des Art. 88 BayStVollzG konkretisiert die Freiheitsbeschränkungen, die dem Gefangenen durch das Strafvollzugsgesetz ausdrücklich auferlegt werden können (so zu § 82 StVollzG – BeckOK Strafvollzug Bund/Brockhaus, a.a.O., StVollzG § 82 Rn. 1). Die Verpflichtung, die in der Vollzugsanstalt herrschende Tageseinteilung zu beachten und das allgemeine Störungsverbot schaffen die Grundvoraussetzungen für ein geordnetes Anstaltsleben (BeckOK Strafvollzug Bund/Brockhaus, a.a.O., StVollzG § 82 Vor Rn. 1). Schuldhafte Verstöße gegen diese Pflichten können disziplinarische Folgen haben (Verrel, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/ Verrel/Baier, a.a.O., Kap. M Rn. 9; BeckOK Strafvollzug Bund/Brockhaus, a.a.O., StVollzG § 82 Rn. 5).
38
(4) Hausordnung und Art. 184 BayStVollzG bilden nach einhelliger Auffassung keine selbstständige Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in die Grundrechte der Gefangenen. Erforderlich ist, dass alle in der Hausordnung normierten Grundrechtsbeschränkungen auf andere Ermächtigungsgrundlagen des Strafvollzugsrechts zurückgeführt werden können (vgl. zu § 184 StVollzG-E = § 163 StVollzG RegE, BT-Drs. 7/918, 97 f.; BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 10.11.1995 – 2 BvR 1236/95 –, StV 1996, 499, juris Rn. 19; vom 11.08.1997 – 2 BvR 2334/96 –, NStZ 1998, 103, juris Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05.02.2016 – 2 Ws 449/15 –, juris Rn. 6; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 161 Rn. 1; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, 21. Ed. 01.10.2024, BayStVollzG Art. 184 Rn. 1a; Laubenthal/Nestler, in Laubenthal/Nestler/Neubacher/ Verrel/Baier, a.a.O., Kap. N Rn. 57; Galli, in Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., Teil II LandesR § 100 Rn. 4; Pfalzer in: Schwind/​Böhm/​Jehle/​Laubenthal, a.a.O., Kap. 13 Abschn. N Rn. 2). Nur wenn dies möglich ist, kann z.B. eine Disziplinarmaßnahme gegen den Gefangenen verhängt werden (Galli, in Feest/Lesting/ Lindemann, a.a.O., Teil II LandesR § 100 Rn. 7; Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 161 Rn. 1). Die Hausordnung einer Justizvollzugsanstalt ist jedoch ein in der vollzuglichen Praxis wichtiges Regelwerk, um die Gefangenen in der Anstalt über ihre wesentlichen Rechte und Pflichten zu informieren (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05.02.2016 – 2 Ws 449/15 –, juris Rn. 6; BeckOK Strafvollzug Bund/Engelstätter, a.a.O., StVollzG § 161 Rn. 1; Galli, in Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., Teil II LandesR § 100 Rn. 3). Soweit die Hausordnung ein durch Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes eingeräumtes Ermessen konkretisiert, kommt es zur Selbstbindung der Verwaltung, die auch Ansprüche der Gefangenen auf Gleichbehandlung innerhalb der Selbstbindung der Verwaltung begründen kann (BeckOK Strafvollzug Bund/Engelstätter, a.a.O., StVollzG § 161 Rn. 2; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, a.a.O., BayStVollzG Art. 184 Rn. 2; Pfalzer, in Schwind/ Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, a.a.O., Kap. 13 Abschn. N. Rn. 2; Galli, in Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., Teil II LandesR § 100 Rn. 6; Weßels/Böning, in Feest/Lesting/Lindemann, a.a.O., § 11 LandesR, Rn. 4), z.B. bei erweiterten Besuchszeiten (Arloth/Krä/Arloth, a.a.O., StVollzG § 161 Rn. 1; BeckOK Strafvollzug Bayern/Arloth, a.a.O., BayStVollzG Art. 184 Rn. 2).
39
Eine disziplinarische Ahndung kommt daher nur in Betracht, wenn der Gefangene ein ausdrücklich normiertes Verhaltensgebot – wie hier Art. 88 Abs. 1 Satz 1 BayStVollzG – verletzt und das geordnete Zusammenleben innerhalb der Anstalt hierdurch beeinträchtigt wird (BeckOK Strafvollzug Bund/ Brockhaus, a.a.O., StVollzG § 82 Rn. 14).
40
bb) Der Senat geht davon aus, dass in der von der Antragsgegnerin erlassenen Hausordnung die Einschusszeiten und das Verhalten der Gefangenen bei Ertönen des Einschlusssignals näher geregelt sind. Da die entsprechenden Regelungen der Hausordnung aber von der Antragsgegnerin nicht vorgelegt und von der Strafvollstreckungskammer nicht beigezogen worden sind und deren Inhalt auch sonst nicht gerichtsbekannt ist, ist es dem Senat nicht möglich, zu überprüfen, ob sich dort Hinweise zum Einschlusssignal und dessen Bedeutung wiederfinden, ob etwa angeordnet ist, dass sich die Gefangenen zu Beginn des Signaltons bereits am oder im eigenen Haftraum befinden müssen, oder ob dem Signal lediglich eine Vorwarnfunktion des unmittelbar bevorstehenden bzw. demnächst stattfindenden Einschlusses zukommt.
41
Hierfür könnte – sollte sich aus der Hausordnung keine konkrete Regelung ergeben – sprechen, dass offenbar mehrere – vom Antragsteller namentlich benannte – Mitgefangene bei kurzfristiger Zeitüberschreitung nach Erklingen des Signaltons nicht geahndet worden sind. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre jedenfalls zu prüfen, ob die Tolerierung kurzfristiger Zeitüberschreitungen durch andere Vollzugsbedienstete zu einer allgemeinen Übung in der Anstalt geführt hat, hierin noch keine Pflichtverletzung zu sehen. In diesem Falle würde das von der Strafvollstreckungskammer im Grundsatz zutreffend angeführte Argument „keine Gleichheit im Unrecht“ nicht greifen.
IV.
42
1. Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers bleibt bei einer Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer dieser vorbehalten (vgl. BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, a.a.O., § 121 StVollzG Rn. 1).
43
2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 65, 60, 52 Abs. 1 GKG.