Titel:
Aktenvorlage an das Amtsgericht als Verfahrensvoraussetzung
Normenketten:
OWiG § 69 Abs. 4 S. 1
OWiG § 69 Abs. 4 S. 2
OWiG § 79
StPO § 205
StPO § 206a
Leitsatz:
Die willentliche Zuleitung der Akten durch die Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG ist Verfahrensvoraussetzung für das gerichtliche Bußgeldverfahren.
Schlagworte:
Amtsgericht, Befassungsverbot, Bußgeldverfahren, Einstellung, Freispruch, prozessuale Erklärung, öffentliche Klage, Prüfungskompetenz, Realakt, Rechtsbeschwerde, Sachrüge, Staatsanwaltschaft, Verfahrenshindernis, Verfahrensvoraussetzung, Verwaltungsbehörde, Vorlage, Weichenstellung, weitere Ermittlungen, willentliche Zuleitung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 34692
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 18.06.2025 aufgehoben.
II. Das Verfahren wird eingestellt.
III. Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe
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Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen am 12.02.2025 begangener fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften und 56 km/h zu einer Geldbuße von 480 Euro verurteilt und gegen ihn ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot von einem Monat verhängt. Mit seiner gegen das Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 14.11.2025 die Aufhebung des Urteils und die Einstellung des Verfahrens beantragt. Der Betroffene hatte Gelegenheit zur Stellungnahme, äußerte sich jedoch nicht mehr.
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Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde führt auf die Sachrüge hin zur Einstellung des Verfahrens durch den Senat (§ 206a Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG, § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG) und zur klarstellenden Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung, weil ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis vorliegt. Der von der Rechtsbeschwerde beantragte Freispruch des Betroffenen kam angesichts der einen Freispruch nicht rechtfertigenden Feststellungen des Urteils nicht in Betracht (vgl. Schmitt/Köhler, StPO 68. Aufl. § 260 Rn. 44).
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1. Nach freibeweislicher Prüfung der Verfahrenstatsachen durch den Senat liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:
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Nach Erlass des Bußgeldbescheides am 05.03.2025 und form- und fristgerechtem Einspruch des Betroffenen hiergegen wurden die Akten am 28.04.2025 der Staatsanwaltschaft zugeleitet.
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Da die Staatsanwältin einen anderen Kollegen für zuständig erachtete, veranlasste sie durch einen internen Vermerk, dass die Akten diesem vorgelegt werden sollten. Diesem wurden die Akten jedoch weder vorgelegt noch wurden sie in sein Referat umgetragen. Stattdessen gelangten sie auf direktem Weg an das Amtsgericht, das am 22.05.2025 Termin zur Hauptverhandlung bestimmte und diese am 18.06.2025 in Anwesenheit des Betroffenen durchführte.
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2. Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft die Verfahrensakten zu keinem Zeitpunkt willentlich dem Amtsgericht vorgelegt hatte (§ 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG), begründet ein Verfahrenshindernis, das den Senat zur Einstellung des Verfahrens zwingt. Die rein tatsächliche Übersendung der Akten an das Amtsgericht wiederum stellt keine Vorlage i.S.d. § 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG dar.
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a) Die willentliche Zuleitung der Akten durch die Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG ist Verfahrensvoraussetzung für das gerichtliche Bußgeldverfahren (BayObLG bei Rüth DAR 1986, 250; Göhler/Bauer OWiG 19. Aufl. § 69 Rn. 50; BeckOK OWiG/Gertner 47. Ed. § 69 Rn. 132; KK/Ellbogen OWiG 6. Aufl. § 69 Rn. 114).
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Mit dem Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft gehen die Aufgaben der Verwaltungsbehörde auf diese über (§ 69 Abs. 4 Satz 1 OWiG). Ab diesem Moment obliegt es der Staatsanwaltschaft darüber zu entscheiden, ob das Verfahren eingestellt werden soll, ob weitere Ermittlungen durchzuführen oder ob die Akten dem Gericht vorzulegen sind (§ 69 Abs. 4 Satz 2 OWiG). Die Vorlage der Akten durch die Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht beinhaltet nach dem Willen des Gesetzgebers und der Gesetzessystematik somit keinen bloßen Realakt, sondern stellt sich als prozessuale Erklärung dahingehend dar, dass die Staatsanwaltschaft die Vorlage der Akten an das Gericht für geboten hält und von ihren weiteren prozessualen Kompetenzen keinen Gebrauch macht. Die Staatsanwaltschaft handelt insoweit auf Grundlage einer ihr vom Gesetz eingeräumten eigenständigen und ohne Bindung von Vorgaben der Verwaltung auszuübenden Prüfungskompetenz. Die Frage der Aktenvorlage beinhaltet eine entscheidende prozessuale Weichenstellung, welche – wie bei der Entscheidung über die Erhebung der öffentlichen Klage im Strafverfahren – aktiv in der einen oder anderen Richtung ausgeübt werden muss. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Vorlage oder Nichtvorlage der Akten an das Gericht ist damit von derart zentraler Bedeutung für den weiteren Verfahrensfortgang, dass von ihr nicht nur faktisch, sondern auch von Rechts wegen die Durchführung des gerichtlichen Bußgeldverfahrens abhängig ist.
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b) Eine willentliche Zuleitung der Akten an das Amtsgericht seitens der Staatsanwaltschaft hat im vorliegenden Fall nicht stattgefunden. Die Entscheidung der einzigen auf Seiten der Staatsanwaltschaft mit dem Fall befassten Staatsanwältin beschränkte sich darauf, die Vorlage der Akten an einen Kollegen zu veranlassen und gerade keine Entscheidung über den weiteren Verfahrensfortgang in der Sache zu treffen.
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c) Das Fehlen der Verfahrensvoraussetzung für das gerichtliche Verfahren führt zu dessen Einstellung nach § 206a Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG (vgl. BayObLG a.a.O.; Göhler/Bauer a.a.O.; BeckOK OWiG/Gertler a.a.O.). Die fehlende Vorlage der Akten durch die Staatsanwaltschaft kann, anders als im Fall eines bloßen Sanktionshindernisses (vgl. BGH, Beschluss vom 26.05.1961 – 2 StR 40/61 für den Fall der fehlenden Erklärung des besonderen öffentlichen Interesses; Urt. v. 26.06.1952 – 5 StR 382/52 für den fehlenden Strafantrag) in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht mehr nachgeholt werden, weshalb eine vorläufige Einstellung des Verfahrens analog § 205 StPO (BGH, Beschluss vom 25.10.2012 – 1 StR 165/12 für das Verfahrenshindernis der fehlenden Auslieferungsbewilligung) ausscheidet. Insoweit gilt nichts anderes als für das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren, bei dem eine Einstellung nach § 206a StPO zu erfolgen hat (BGH, Beschl. 21.04.2021 – 6 StR 102/21; Beschluss vom 16.08.2017 – 2 StR 199/17).
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Da der Senatsbeschluss nur das Verfahrenshindernis bindend feststellt und keine Rechtskraftwirkung in der Sache entfaltet, steht die Entscheidung der erneuten Durchführung eines Bußgeldverfahrens nicht entgegen. Die Verwaltungsbehörde ist nicht gehindert, einen neuen Bußgeldbescheid zu erlassen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 19.04.1985 – RReg. 5 St 14/85 = BayObLGSt 1985, 52; Schmitt/Köhler StPO 68. Aufl. § 206a Rn. 11, § 260 Rn. 48 zum Fehlen des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren), solange keine Verjährung eingetreten ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Es sind keine Gründe ersichtlich, die es unbillig erscheinen lassen würden, von einer Auferlegung der notwendigen Auslagen des Betroffenen auf die Staatskasse abzusehen (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO).
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Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.