Titel:
Leistungen, Rente, Bescheid, Anordnungsgrund, Grundsicherung, Prozesskostenhilfe, Einkommen, Aufenthaltsrecht, Einreise, Beiordnung, Ausreisepflicht, Anordnungsanspruch, Rentenversicherung, Unterkunft, einstweiligen Anordnung, Bundesrepublik Deutschland, Sicherung des Lebensunterhalts
Leitsatz:
Eine Verlustfeststellung allein lässt den Fünfjahreszeitraum des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht von neuem beginnen.
Schlagworte:
Leistungen, Rente, Bescheid, Anordnungsgrund, Grundsicherung, Prozesskostenhilfe, Einkommen, Aufenthaltsrecht, Einreise, Beiordnung, Ausreisepflicht, Anordnungsanspruch, Rentenversicherung, Unterkunft, einstweiligen Anordnung, Bundesrepublik Deutschland, Sicherung des Lebensunterhalts
Fundstelle:
BeckRS 2025, 34214
Tenor
I. Der Antragsgegner wird vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin dem Grunde nach vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 01.11.2025 bis zum 30.04.2026 zu gewähren. Zudem wird der Antragsgegner verpflichtet, erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Antrag der Antragstellerin bezüglich eines (vorläufigen) Stromschuldendarlehens bis zum 11.12.2025 zu entscheiden. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B. (B-Straße, A-Stadt) bewilligt. Ratenzahlungen sind nicht zu erbringen.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sowie ein Darlehen in Höhe von 897,00 EUR, um eine bereits erfolgte Stromsperre aufzuheben.
2
Die 1973 geborene Antragstellerin stammt aus der Tschechischen Republik. Sie ist seit dem 16.08.2010 in ihrer aktuellen Wohnung in A-Stadt gemeldet. Die Kosten der Unterkunft belaufen sich auf monatlich 370,10 EUR.
3
Zudem ist ein Abschlag für Erdgas in Höhe von monatlich 105,00 EUR zu zahlen.
4
Dort lebt sie zusammen mit ihrer Mutter, die aufgrund einer Lähmung auf einen Rollator angewiesen sei. Ein Antrag auf Pflegegeld wurde gestellt. Die Mutter bezieht eine Rente aus Tschechien in Höhe von monatlich ca. 840,00 EUR.
5
Mit Bescheid des Ausländeramts A-Stadt vom 16.12.2021 wurde der Antragstellerin die Freizügigkeitsberechtigung entzogen.
6
Mit Bescheid vom 31.05.2022 hat das Ausländeramt A-Stadt die Entziehung für die Zeit ab dem 13.04.2022 zurückgenommen.
7
In der Zeit vom 28.04.2025 bis zum 08.05.2025 bezog die Antragstellerin Arbeitslosengeld I und beantragte im August 2025 beim Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II.
8
Der Antragsgegner bewilligte daraufhin mit Bescheid vom 24.09.2025 vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.08.2025 bis zum 24.10.2025, da der Arbeitnehmerstatus der Antragstellerin danach abgelaufen sei. Die Antragstellerin solle ihren Aufenthaltsstatus klären.
9
Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 18.11.2025 wurde die Weiterbewilligung der Leistungen beantragt. Zudem wurde aufgrund einer angekündigten Stromsperre ein Darlehen zur Begleichung der Stromschulden beantragt. Die Sperrung solle zum 19.11.2025 erfolgen. Der Antragsgegner lehnte den Weiterbewilligungsantrag mit Schreiben vom 19.11.2025 ab. Die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, da sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche habe. Mit Bescheid des Antragsgegners vom selben Tag wurde der Antrag auf das Stromschuldendarlehen mit der Begründung abgelehnt, dass die Antragstellerin sich nicht im laufenden Leistungsbezug befinde.
10
Mit Schreiben vom 30.11.2025 ließ die Antragstellerin durch ihre Prozessbevollmächtigte Widerspruch gegen die Bescheide vom 19.11.2025 erheben. Über diesen hat der Antragsgegner bisher nicht entschieden.
11
Mit ihrem Antrag auf einstweilige Anordnung vom 30.11.2025 hat sich die Antragstellerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, an das Sozialgericht Landshut gewandt.
12
Ihrer Erinnerung nach sei die Antragstellerin bereits im Jahr 2002 nach Deutschland eingereist und befinde sich seitdem ununterbrochen in Deutschland. Nicht einmal für einen Familienbesuch o. Ä. sei sie nach Tschechien zurückgekehrt. Sie habe zunächst in F. gelebt. Nach ihrer Heirat im Jahr 2004 sei sie zur Schwiegermutter und ihrem Mann gezogen. Nach der Trennung von ihrem Ehemann sei sie im Frauenhaus untergekommen und anschließend nach A-Stadt gezogen. Am 19.11.2025 sei der Strom für die Antragstellerin und ihre Mutter gesperrt worden. Eine Teilzahlung gegen Aufhebung der Stromsperre sei von den Stadtwerken abgelehnt worden. Da die Gastherme mit Strom betrieben werde, könne man nicht heizen. Ein Wechsel des Stromanbieters sei laut Auskunft von Yellow-Strom erst nach Aufhebung der Stromsperre möglich. Mangels Einkommens sei die Antragstellerin hilfebedürftig nach dem SGB II.
13
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners sei die Antragstellerin nicht alleine zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland. Sie habe, nachdem sie sich seit dem 28.03.2006 ununterbrochen rechtmäßig in der BRD aufhalte, gemäß § 7 Abs. 2 Satz 4 Hs. 2 SGB II einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.
14
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger hätten nach fünfjährigem ständigem rechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU), unabhängig vom weiteren Vorliegen der Freizügigkeitsvoraussetzungen aus § 2 Absatz 2 FreizügG/EU. Jedenfalls habe die Antragstellerin als Tochter und damit als Familienangehörige der pflegebedürftigen Mutter, welche sich ebenfalls seit mehr als fünf Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, ein Daueraufenthaltsrecht. Sowohl für die Antragstellerin als auch für die Mutter sei beim zuständigen Ausländeramt die Feststellung des Daueraufenthaltsrechts beantragt worden.
15
Eine Entscheidung hierzu sei noch nicht ergangen.
16
Die Antragstellerin beantragt,
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe zu bewilligen.
II. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ein Darlehen in Höhe von 897,00 EUR zu gewähren und dieses direkt an die Stadtwerke A-Stadt zu überweisen.
III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten ab Antragstellung bewilligt.
17
Der Antragsgegner beantragt,
18
Die Antragstellerin sei nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 b Alt. 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche habe. Es liege auch kein Fall der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II vor. Zwar komme es nicht darauf an, ob der Aufenthalt im Inland rechtmäßig sei. Stelle die Ausländerbehörde allerdings fest, dass ein Freizügigkeitsrecht nicht mehr besteht, sei der Aufenthalt nicht mehr verfestigt, so dass die Anwendung der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II für die Zeit der Feststellung, dass ein Freizügigkeitsrecht nicht besteht, unterbrochen sei. Bei wesentlichen Unterbrechungen beginne die Fünfjahresfrist erneut zu laufen. Eine Unterbrechung des verfestigten Aufenthaltes von vier Monaten auch der Grund der Unterbrechung, die Feststellung des Wegfalls der Freizügigkeit, spreche nicht für eine nur unwesentliche Unterbrechung. Der Grund sei gerade auf die Beendigung des Aufenthaltes in Deutschland gerichtet.
19
Da eine wesentliche Unterbrechung vorliege, beginne die Fünfjahresfrist neu. Seit Aufhebung der Feststellung des Wegfalls der Freizügigkeit mit Wirkung zum 13.04.2022 seien noch keine fünf Jahre vergangen, so dass die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht anwendbar sei. Nur hilfsweise werde zudem vorgetragen, dass in der Zeit der Ausreisepflicht nach dem FreizügG/EU jede Wiedereinreise, unabhängig von der Dauer der Unterbrechung, zu einem Neubeginn der Fünfjahresfrist führe. Die Antragstellerin habe nicht glaubhaft gemacht, in der Zeit vom 17.12.2021 bis 13.04.2022 nicht im Ausland gewesen und wieder nach Deutschland eingereist zu sein. Aufgrund der grenznahen Lage kämen Aus- und Wiedereinreisen in A-Stadt sehr häufig vor, so dass eine Glaubhaftmachung auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geboten erscheine.
20
Die Antragstellerin hat am 05.12.2025 dem Gericht eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, wonach sie im Jahr 2002 nach Deutschland eingereist sei und seitdem ununterbrochen in Deutschland lebe.
21
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Akte des Sozialgerichts sowie die beigezogene Akte des Antragsgegners verwiesen.
22
Der Antrag, der zulässig ist, ist im Wesentlichen begründet.
23
Da die Antragstellerin eine Erweiterung ihrer Rechtspositionen anstrebt, ist eine einstweilige Anordnung in Form einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Einstweilige Anordnungen nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Eine solche Anordnung setzt sowohl einen Anordnungsanspruch (das materielle Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) als auch einen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit im Sinne der Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist) voraus. Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund müssen glaubhaft sein (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO)).
24
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorgegebenen Umfang das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist (BVerfG, Urteil vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
25
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist gegebenenfalls auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (BVerfG, 12.05.2005, 1 BvR 569/05; BVerfG, 15.01.2007, 1 BvR 2971/06). Eine Orientierung an den Erfolgsaussichten ist nur möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Denn wenn schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht beseitigt werden können, muss die Sach- und Rechtslage abschließend geprüft werden (BVerfG, a. a. O.).
26
Ist dem Gericht im Eilverfahren trotz Amtsermittlung eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so muss anhand einer Folgenabwägung entschieden werden. Hierbei sind die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend einzubeziehen (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 10. Oktober 2008 – L 16 B 449/08 AS ER –).
27
Nach der hier allein möglichen summarischen Prüfung hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
28
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, (Nr. 1) die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, (Nr. 2) erwerbsfähig sind, (Nr. 3) hilfebedürftig sind und (Nr. 4) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Ausgenommen hiervon sind nach dem SGB II Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie deren Familienangehörige (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II).
29
Die Voraussetzungen für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II liegen bei der Antragstellerin vor.
30
Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, aber die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Als tschechische Staatsangehörige ist sie ohne die Notwendigkeit einer Arbeitsgenehmigung erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i. V. m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II.
31
Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 30 Abs. 2 S. 3 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Antragstellerin hält sich gegenwärtig zukunftsoffen und ohne erkennbare Anzeichen, dies ändern zu wollen, durchgehend in A-Stadt auf. Der aufenthaltsrechtliche Status ist hierfür unerheblich. Das Vorliegen eines „gewöhnlichen Aufenthalts“ ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen („faktischen“) Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Ein in anderen innerstaatlichen Sozialgesetzen zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU i. d. F. vom 01.01.2014 (FreizügG/EU) bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem Aufenthaltsgesetz enthält § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II ausdrücklich nicht (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R –, BSGE 113, 60-70, SozR 4-4200 § 7 Nr. 34, SozR 4-1200 § 30 Nr. 7). Der Verlust des Rechts der Antragstellerin zum Aufenthalt nach den Bestimmungen des FreizügG/EU wurde zudem von der zuständigen Ausländerbehörde – soweit ersichtlich – bisher nicht erneut festgestellt.
32
Die Antragstellerin ist auch i.S.d. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II hilfebedürftig. Bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen sind nicht vorhanden.
33
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Antragstellerin als lediglich Arbeitssuchende gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.
34
Ob der Antragstellerin ein anderes Aufenthaltsrecht zusteht, kann vorliegend dahinstehen. Jedenfalls greift die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II zugunsten der Antragstellerin ein.
35
Nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II erhalten Ausländerinnen und Ausländer sowie ihre Familienangehörigen entgegen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Mit dieser Leistungsberechtigung bleibt der Gesetzgeber hinter den für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 i. V. m. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU notwendigen Voraussetzungen zurück (vgl. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 7 (Stand: 25.03.2025), Rn. 163). Für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts ist ein Aufenthalt, der sich allein auf die generelle Freizügigkeitsvermutung stützt, nicht ausreichend (BSG, Urteil vom 12.09.2018 – B 14 AS 18/17 R –, Rn. 26, mwN). Vielmehr ist erforderlich, dass sich der Unionsbürger ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und der Aufenthalt im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der RL 2004/38 stand (EuGH, Urteil vom 06.09.2012 – C-147/11 und C-148/11 –, Rn. 40; BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 – 1 C 22/14 –).
36
Demgegenüber setzt § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II nur einen ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt von fünf Jahren ab erstmaliger behördlicher Anmeldung im Bundesgebiet voraus. Lediglich unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts, wie beispielsweise ein kurzer Heimatbesuch, sind unschädlich. Andernfalls beginnt die Frist erneut zu laufen (BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R –, BSGE 134, 45-58, SozR 4-1100 Art. 1 Nr. 20, SozR 4-7075 § 2 Nr. 4, SozR 4-3500 § 23 Nr. 6, SozR 4-4200 § 7 Nr. 63, Rn. 26, mit Hinweis auf die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, BT-Drucks. 18/10211, S. 14). Dabei sind nur Zeiten eines gewöhnlichen Aufenthalts nach einer Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beachtlich. Dies ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II, wonach die Fünfjahresfrist mit der Anmeldung beginnt. Mit der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II wollte der Gesetzgeber einem längeren verfestigten Aufenthalt in Deutschland Rechnung tragen. Er ging dabei davon aus, dass die Betroffenen ihre Verbindung zu Deutschland, die Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung ist, durch die Meldung bei der Meldebehörde dokumentieren. Die Anmeldung bei der Meldebehörde ist damit nicht nur eine Beweiserleichterung, sondern sie hat auch eine konstitutive Wirkung. Gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), der gemäß § 37 Satz 1 SGB I auch im SGB II anwendbar ist, hat jemand einen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Erforderlich ist somit eine vorausschauende Betrachtung, also eine Prognose, die sich im Laufe der Zeit auch verändern kann. Die Prognose hat unter Berücksichtigung aller für die Beurteilung der künftigen Entwicklung im Zeitpunkt des Eintreffens am maßgeblichen Ort erkennbaren Umstände zu erfolgen. Dies gilt auch, wenn der gewöhnliche Aufenthalt – wie hier – rückblickend zu ermitteln ist (vgl. BSG, Urteil vom 20.09.2023 – B 4 AS 8/22 R –, BSGE 136, 281-288, SozR 4-4200 § 7 Nr. 68, SozR 4-1200 § 30 Nr. 15, Rn. 23-28 mwN).
37
Die Antragstellerin hat mit der eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht, sich seit mehr als fünf Jahren durchgehend im Bundesgebiet aufgehalten zu haben. Die Glaubhaftmachung reicht bis in das Jahr 2002 zurück. Die Antragstellerin hat durchgehend eine Wohnung in A-Stadt bewohnt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Aufenthalt in Deutschland unterbrochen wurde. Auch das Zusammenleben mit der Mutter lässt einen starken Bezug zu Deutschland erkennen.
38
Eine Verlustfeststellung allein lässt den Fünfjahreszeitraum des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht von neuem beginnen. Soweit vom Antragsgegner unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung ein Neubeginn der Frist von fünf Jahren nach der Verlustfeststellung angeführt wird, ergibt sich dies schon nicht explizit aus der zitierten Gesetzesbegründung. Zudem hat ein solcher Neubeginn keinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Vielmehr spricht der Wortlaut gegen die Auffassung des Antragsgegners. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB II beginnt die Frist nach Satz 4 mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Eine Ausreisepflicht besteht jedoch erst nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts. Bis dahin gilt die sogenannte „Freizügigkeitsvermutung“. Nicht anzurechnen, d. h. aus dem Fünf-Jahres-Zeitraum herauszurechnen, ist damit lediglich die weitere Aufenthaltszeit nach der Verlustfeststellung (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, § 7 (Stand: 25.03.2025), Rn. 166). Die fünfjährige Frist war vorliegend zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung bereits lange erfüllt. Allein die Verlustfeststellung beendet oder unterbricht den gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin in Deutschland nicht. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse dauerhaft im Inland liegt. Dauerhaft ist ein nicht auf Beendigung angelegter, also zukunftsoffener Aufenthalt. Mit dem Fokus auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland soll lediglich ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz nur formal zur Erlangung von Sozialleistungen begründet wird, der dann tatsächlich weder genutzt noch beibehalten wird. Im Bereich des SGB II würde es jedenfalls der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts widersprechen, wenn dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne rechtlicher Erfordernisse zum Aufenthaltsstatus aufgestellt würden. Dadurch würde einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt. Zudem hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts in seiner früheren Zuständigkeit für Angelegenheiten der gesetzlichen Rentenversicherung zur sogenannten rechtlichen „Einfärbung“ des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts anhand des Gesetzes, in dem er verwendet wird (etwa BSG, Urteil vom 3. April 2001 – B 4 RA 90/00 R –, Rn 17 mwN) nur in Teilbereichen, etwa beim Kinder-, Erziehungs- und Elterngeld, aufgegriffen und einen Anspruch von einem definierten Aufenthaltsstatus abhängig gemacht.
39
Ein diesen Regelungen entsprechendes Anspruchsmerkmal im Sinne einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG fehlt im SGB II. Vielmehr hat der Gesetzgeber in Kenntnis der Problemstellung und der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mit § 7 Abs. 1 Sätze 2 bis 7 SGB II in den seit dem 29.12.2016 geltenden Fassungen in einer anderen Regelungssystematik ein Ausschlusskriterium von SGB-II-Leistungen nur für bestimmte Ausländer vorgesehen (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. November 2024 – L 32 AS 105/24 –, Rn. 43-45, mwN).
40
Nach diesen Maßstäben ist für den gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin allein entscheidend, dass sie sich tatsächlich im Inland aufhält und nicht beabsichtigt, ihren Aufenthalt zu beenden. Die ausgesprochene Verlustfeststellung kann ihrem Aufenthaltswillen daher nicht entgegenstehen. Die Feststellung ist nicht mit einer tatsächlichen Ausreise gleichzusetzen. Ein Neubeginn der Fünfjahresfrist ist vorliegend nicht anzunehmen.
41
Bei Nichtgewährung von einstweiligem Rechtsschutz im tenorierten Umfang droht der Antragstellerin eine Beeinträchtigung ihres grundrechtlich geschützten Existenzminimums, die nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden kann. Die Gefahr, dass das Existenzminimum der Antragstellerin fortlaufend nicht gesichert ist, ist offenkundig.
42
Nach alledem sind der Antragstellerin vorläufig Leistungen nach dem SGB II zuzusprechen.
43
Dauer und Höhe der zuzusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG i. V. m. § 938 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts.
44
Angesichts der Dauer orientiert sich die Kammer an einem neuen Bewilligungszeitraum von sechs Monaten gemäß § 41 Abs. 3 Satz 2 SGB II.
45
Nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens hat sich die Kammer für einen Ausspruch dem Grunde nach gemäß § 130 Abs. 1 SGG entschieden. Eine solche Entscheidung ist bereits deshalb zulässig, weil die Antragstellerin in ihrem Antrag keinen konkret bezifferten Betrag, sondern lediglich Leistungen begehrt. Die für Streitigkeiten nach dem SGB II zuständigen Senate des BSG gehen – anknüpfend an die Rechtsprechung zur Arbeitslosenhilfe – in ständiger Rechtsprechung übereinstimmend von der grundsätzlichen Zulässigkeit eines solchen Grundurteils in einem Betragsstreit aus (vgl. nur BSG, Urteil vom 23. August 2012 – B 4 AS 167/11 R –). Voraussetzung für die Zulässigkeit eines solchen Grundurteils im Streit um die Höhe ist nach dieser Rechtsprechung eine so umfassende Aufklärung über Grund und Höhe des Anspruchs, dass bei Befolgung der Klagebegründung voraussichtlich mit einer Leistung zu rechnen ist, damit es sich nicht um eine unzulässige Elementenfeststellungsklage handelt.
46
Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Umstritten ist allein der Leistungsausschluss der Antragstellerin. Die Bedarfe sind nicht umstritten.
47
Die Antragstellerin hat lediglich Anspruch auf eine vorläufige Neuentscheidung über ihren Antrag auf ein Stromschuldendarlehen. Als Anspruchsgrundlage kommt wegen der Stromschulden allein § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II in entsprechender Anwendung in Betracht (nicht Satz 2 der Vorschrift, da keine Wohnungslosigkeit einzutreten droht). Nach dieser Vorschrift können unter den dort genannten näheren Voraussetzungen auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Da es sich um eine „Kann-Regelung“ handelt, ist dem Grundsicherungsträger insoweit Ermessen eröffnet (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 13. Januar 2012 – L 3 AS 233/11 B ER, Rn. 12).
48
Die Kammer konnte keinen Anordnungsanspruch auf Gewährung eines Darlehens in einer bestimmten Höhe feststellen.
49
Im Rahmen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 Grundgesetz) ist Ausgangspunkt einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz eine summarische Prüfung, die sich an dem zu prognostizierenden Ausgang der Hauptsache orientiert. Die Prüfungsintensität steigt bis zu einer weitgehenden Identität von einstweiligem Rechtsschutz und Hauptsacheentscheidung, wenn eine Rechtsverletzung von besonderem Gewicht droht (vgl. Bundesverfassungsgericht [Kammer], Beschluss vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 –, Rn. 18 ff.).
50
Eine Verpflichtung des Antragsgegners, der Antragstellerin (vorläufig) ein Darlehen in beantragter Höhe zu gewähren, käme vorliegend nur in Betracht, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null in Bezug auf die vom Antragsgegner zu treffende Entscheidung vorläge und ein Abwarten der Entscheidung des Antragsgegners über den Widerspruch der Antragstellerin insoweit unzumutbar wäre (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. August 2021 – L 8 SO 28/21 B ER –, Rn. 30-31).
51
Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung auf Null in Bezug auf das Stromschuldendarlehen sind hier jedoch nicht erkennbar. Zum einen wäre zu beachten, dass auch die Mutter der Antragstellerin ihren Anteil an den Schulden leisten müsste. Zudem wurde nicht glaubhaft gemacht, dass Strom von einem anderen Anbieter wegen der Sperre nicht zu beziehen wäre. Letztendlich stünde es dem Antragsgegner auch frei, sich an den Stromanbieter zu wenden, um die Sperre durch Teilzahlung abzuwenden.
52
Schließlich steht es der Antragstellerin auch offen, aus den nun nachzuzahlenden Leistungen für November 2025 einen/ihren Teil der Stromschulden zu begleichen.
53
Das Gericht weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass Leistungen, die im einstweiligen Rechtsschutz erlangt werden, nur vorläufig gewährt sind. Sollte sich im Hauptsacheverfahren herausstellen, dass die Leistungen tatsächlich nicht zustehen, sind diese zurückzuzahlen.
54
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass die Antragstellerin im Wesentlichen obsiegt hat.
55
Der Antragstellerin war ab Antragstellung Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten zu bewilligen (§ 73a SGG i. V. m. §§ 114 ZPO), da sie die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Der Antragstellerin wird aufgegeben, jede Änderung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unverzüglich und ohne weitere Aufforderung durch das Gericht mitzuteilen.