Titel:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Versorgung, Diagnose, Klinik, Anerkennung, Gutachten, Ausschluss, Psychiatrie, Vergleich, Klage, Schutzimpfung, Rettungsdienst, Impfung, Zusammenhang, Kriegsopferversorgung, zwei Wochen, zeitlicher Zusammenhang
Normenketten:
Die Anerkennung einer dauerhaften Schädigung des Gleichgewichtsnervs als Impfschadensfolge nach einer mRNA-Impfung gegen COVID-19 ist im Wege der Kann- Versorgung möglich.
Die Existenz einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Lehrmeinung, welche die Anwendung der Grundsätze der Kann-Versorgung rechtfertigt, setzt nicht zwingend den statistischen Nachweis voraus, dass eine solche Erkrankung nach einer Impfung dieser Art gehäuft auftritt.
Der Nachweis einer Impfschädigung ist nicht auf solche Krankheitserscheinungen beschränkt, für die das Paul-Ehrlich-Institut ein sog. Risikosignal ermittelt hat.
Schlagworte:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Versorgung, Diagnose, Klinik, Anerkennung, Gutachten, Ausschluss, Psychiatrie, Vergleich, Klage, Schutzimpfung, Rettungsdienst, Impfung, Zusammenhang, Kriegsopferversorgung, zwei Wochen, zeitlicher Zusammenhang
Fundstelle:
BeckRS 2025, 34011
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.01.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2023 verurteilt, eine Unterfunktion des linken Gleichgewichtsnervs nach Neuritis vestibularis als Folge einer Impfschädigung im Wege der Kann-Versorgung anzuerkennen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte (1/2).
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung eines Impfschadens nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).
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Die im Jahre 1965 geborene Klägerin erhielt am 19.04.2021 eine Impfung gegen COVID-19 mit dem Impfstoff COMIRNATY von Biontech/Pfizer (siehe Blatt 21 IfSG-Akte).
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Am 18.05.2021 wurde die Klägerin wegen eines am gleichen Tage akut aufgetretenen Drehschwindels durch den Rettungsdienst in die Neurologische Klinik des R. Klinikums R1-Stadt eingeliefert. Dort berichtete sie, dass etwa eine Woche zuvor zwei ähnliche Schwindelattacken aufgetreten seien; am 14.05.2021 sei es zu einem weiteren Schwindelanfall gekommen. Daneben bestehe seit ca. zwei Wochen eine Hörminderung links. Es wurde die Diagnose einer Neuropathia vestibularis links gestellt (siehe Blatt 6 ff IfSG-Akte). Die Klägerin war vom 18.05.2021 an (bis einschließlich 11.02.2022) durchgehend arbeitsunfähig (siehe Blatt 25, 58 IfSG-Akte). Bei einer erneuten Vorstellung in der R. Klinik am 28.05.2021 wurde zum Ausschluss eines Kleinhirninfarktes ein CT des Kopfes veranlasst (siehe Blatt 17 f, 62 ff IfSG-Akte). Zum Ausschluss eines gutartigen Tumors wurde am 05.08.2021 ein MRT erstellt (siehe Blatt 39 IfSG-Akte).
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Den am 30.11.2021 eingegangenen Antrag der Klägerin auf Anerkennung und Entschädigung eines Impfschadens (siehe Blatt 1 ff IfSG-Akte) lehnte der Beklagte nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen vom 02.08.2022 (siehe Blatt 41 ff IfSG-Akte) und vom 06.09.2022 (siehe Blatt 46 f IfSG-Akte) mit Bescheid vom 19.01.2023 mit der Begründung ab, es bestehe aus medizinischer Sicht kein kausaler Zusammenhang zwischen der angeschuldigten Impfung und dem Auftreten einer Neuropathia vestibularis. Unabhängig davon fehle es auch am Nachweis eines Dauerschadens; jedenfalls sei eine Abgrenzung von bereits vor der Impfung bestehenden depressiven und möglicherweise auch psychovegetativen Störungen nicht möglich. Den Widerspruch der Klägerin gegen diese Entscheidung wies der Beklagte, gestützt auf eine weitere versorgungsärztliche Stellungnahme vom 10.05.2023 (siehe Blatt 66 ff IfSG-Akte), mit Bescheid vom 12.06.2023 zurück.
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Dagegen richtet sich die am 04.07.2023 beim Sozialgericht München (SG) eingegangene Klage, zu deren Begründung die Klägerin insbesondere vorgebracht hat, bei ihr seien bereits sofort nach der Impfung akute Beschwerden aufgetreten, die sich allerdings zunächst schnell gebessert hätten. Genau drei Wochen nach der Impfung hätten plötzlich heftigste Übelkeit mit Erbrechen, Drehschwindel und totale Erschöpfung eingesetzt; sie habe mehrere Wochen lang weder stehen noch gehen können. Bis heute leide sie an verschiedenen Symptomen, wie Schwindel, Nebel im Kopf, Fatigue, Orientierungs- und Konzentrationsstörungen (siehe Blatt 1 ff, 58 ff Gerichtsakte).
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Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin eingeholt und diverse weitere medizinische Unterlagen sowie bildgebende Befunde beigezogen. Des Weiteren hat das Gericht die Fachärztin für Neurologie B., Neurozentrum M-Stadt S-Stadt, zur Sachverständigen ernannt. Diese ist in ihrem Gutachten vom 06.01.2025 zu der Einschätzung gelangt, bei der Klägerin sei etwa drei Wochen nach Verabreichung der Impfung gegen COVID-19 eine Neuritis vestibularis mit Ausfall des linken Gleichgewichtsorgans aufgetreten; diese Diagnose sei gesichert. In der Folgezeit sei es lediglich zu einer inkompletten Remission gekommen; es bestehe also weiterhin eine Unterfunktion des linken Gleichgewichtsnervs der Klägerin. Daneben seien neuropsychologische Defizite aufgetreten, in Form von Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen und einem Schweregefühl im Kopf (sog. Brain Fog). Es gebe zahlreiche Studien, in denen ein gehäuftes Auftreten einer Neuritis vestibularis nach mRNA-Impfungen gegen COVID-19 beschrieben werde. Der zeitliche Zusammenhang sei im Falle der Klägerin auffällig. Dagegen könnten die von der Klägerin angegebenen neuropsychologischen Defizite nicht eindeutig mit einer solchen Impfung in Verbindung gebracht werden. Hinsichtlich der Feststellungen und Bewertungen der Sachverständigen im Einzelnen wird auf Blatt 202 ff der Gerichtsakte Bezug genommen. Das Gericht hat sodann auf Empfehlung des Beklagten einen Auszug aus der Patientenkartei des Hausarztes der Klägerin, G.., R-Stadt, beigezogen und zudem, auf Einwände des Beklagten gegen das Gutachten (siehe die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 19.05.2025, Blatt 246 f Gerichtsakte), die ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen vom 30.07.2025 eingeholt; insoweit wird auf Blatt 255 ff der Gerichtsakte Bezug genommen.
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Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19.01.2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2023 zu verurteilen, eine Unterfunktion des linken Gleichgewichtsnervs nach Neuritis vestibularis sowie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (sog. Brain Fog) als Folgen einer Impfschädigung, hilfsweise im Wege der Kann-Versorgung, anzuerkennen und der Klägerin ausgehend davon Entschädigungsleistungen nach dem IfSG einschließlich einer Grundrente nach einem GdS von mindestens 30 ab dem 01.11.2021 zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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Dem Gericht lag die IfSG-Akte des Beklagten bei seiner Entscheidung vor.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist zum Teil begründet.
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Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung der im Tenor genannten Schädigungsfolge im Wege der Kann-Versorgung. Ein Anspruch auf Feststellung der von ihr geltend gemachten weiteren Schädigungsfolgen und auf Zahlung einer Grundrente besteht jedoch nicht.
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Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG, der hier gem. § 137 des Vierzehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB XIV) weiterhin anwendbar ist, erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die (1.) von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, (1 a) gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 aufgrund einer Rechtsverordnung nach § 20 i Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 lit. a, auch in Verbindung mit Nr. 2, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch vorgenommen wurde, (2.) auf Grund des IfSG angeordnet wurde, (3.) gesetzlich vorgeschrieben war oder (4.) auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.
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Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. Nach § 61 Satz 1 IfSG genügt zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn diese Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, „kann“ mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wobei die Zustimmung allgemein erteilt werden kann (vgl. § 61 Sätze 2 und 3 IfSG).
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Für das Impfschadensrecht sind die Rechtsgrundsätze des BVG maßgebend, soweit nicht Besonderheiten vom Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet worden sind (siehe Bundessozialgericht – BSG, Urteil vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80). Nach diesen Grundsätzen müssen – für die Impfopferversorgung wie für die Kriegsopferversorgung – die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Schädigung (unübliche Impfreaktion) und die Schädigungsfolge (Dauerleiden) nachgewiesen, nicht nur wahrscheinlich sein (so: BSG, Urteil vom 19.03.1986, 9 a RVi 2/84). Nur für den ursächlichen Zusammenhang genügt der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit (§ 61 Satz 1 IfSG), wobei die Kausalität dann wahrscheinlich ist, wenn mehr für als gegen sie spricht, wenn also die für den Zusammenhang sprechenden Umstände deutlich überwiegen. Eine gute Möglichkeit der Kausalität reicht hierfür grundsätzlich nicht aus.
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Anders ist dies ggf. nach den Grundsätzen der „Kann-Versorgung“. Dazu hat das BSG entschieden, dass auch für deren Anwendung ein bloßer zeitlicher Zusammenhang nicht genügt, sondern nach zumindest einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Lehrmeinung (hinreichend konkrete) Erkenntnisse vorliegen müssen, die für einen generellen, in der Regel durch statistische Erhebungen untermauerten Zusammenhang zwischen bestimmten Belastungen bzw. Einwirkungen (hier: der angeschuldigten Impfung) und der festgestellten Erkrankung sprechen. Es darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs bestehen, sondern vielmehr eine „gute Möglichkeit“, die sich in der medizinischen Wissenschaft nur noch nicht so zur allgemeinen Lehrmeinung verdichtet hat, dass von gesicherten Erkenntnissen gesprochen werden kann.
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Auch in diesen Fällen reicht indes die bloße (einfache) Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ursachenzusammenhangs vertritt. Wird eine solche Meinung überhaupt nicht vertreten, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein (siehe BSG, Beschluss vom 07.07.2022, B 9 V 2/22 B, BeckRS 2022, 23868 Rn. 9, BAYERN.RECHT).
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Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin Anspruch auf Anerkennung einer Unterfunktion des linken Gleichgewichtsnervs nach Neuritis vestibularis als Folge einer Impfschädigung im Wege der Kann-Versorgung. Denn ein Zusammenhang zwischen der Impfung vom 19.04.2021 mit dem Impfstoff COMIRNATY und der etwa drei Wochen später aufgetretenen Schädigung des linken Gleichgewichtsnervs der Klägerin kann nur deshalb nicht mit der vom Gesetz geforderten Wahrscheinlichkeit hergestellt werden, weil über die generelle Eignung einer mRNA-Impfung, eine solche Schädigung zu verursachen, in der medizinischen Wissenschaft noch Ungewissheit besteht. Da jedoch aufgrund der allgemeinen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über die möglichen Ursachen einer solchen Schädigung in Verbindung mit der Studienlage viel dafürspricht, dass eine mRNA-Impfung eine Neuritis vestibularis verursachen kann, und, dies unterstellt, ein solcher ursächlicher Zusammenhang auch im vorliegenden Einzelfall wahrscheinlich wäre, liegen die Voraussetzung für eine Anerkennung im Wege der Kann-Versorgung hier vor.
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Die Kammer stützt sich dabei insbesondere auf die Feststellungen und Bewertungen der gerichtlich bestellten ärztlichen Sachverständigen B. aus ihrem Gutachten vom 06.01.2025 und der ergänzenden Stellungnahme vom 30.07.2025. Die Sachverständige hat für das Gericht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass die Diagnose einer Neuritis vestibularis mit Symptombeginn ziemlich genau drei Wochen nach der Impfung vom 19.04.2021 (im Sinne des Vollbeweises) gesichert ist und dass es mittlerweile eine Vielzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen gibt, die die „gute Möglichkeit“ eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen mRNA-Impfungen gegen COVID-19 und dem Auftreten einer solchen Nervenschädigung nahelegen (siehe Gutachten vom 06.01.2025, Seiten 10 f).
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Zwar hat der Beklagte unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 19.05.2025 zu Recht darauf hingewiesen, dass die von der Sachverständigen zitierten Studien mit kleinen Fallzahlen und Fallberichte nicht geeignet sind, ein (generell) gehäuftes Auftreten solcher Krankheitserscheinungen im Anschluss an die genannten Impfungen zu belegen. Ein solcher statistischer Nachweis wurde bislang nicht erbracht, was, soweit für das Gericht ersichtlich, auch darauf zurückzuführen ist, dass eine systematische wissenschaftliche Erforschung möglicher Impfschadensfolgen, bezogen auf die mRNA-Impfstoffe gegen COVID-19, nach wie vor nicht stattfindet und entsprechende Aktivitäten der staatlichen Institutionen, die möglicherweise dazu in der Lage wären, nicht zu erkennen sind. Dieser Umstand, den die Klägerin nicht zu vertreten hat, kann jedoch nach der Überzeugung der Kammer nicht dazu führen, dass eine Anwendung der Grundsätze der Kann-Versorgung im vorliegenden Fall von vornherein nicht in Betracht kommt.
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Eine Entschädigung ist im vorliegenden Fall auch nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil das PEI für die Neuritis vestibularis bislang kein sog. Risikosignal hat ermitteln können.
21
Nach der Definition des PEI sind Sicherheits- bzw. Risikosignale neue Informationen, die die Sicherheit eines zugelassenen Arzneimittelprodukts betreffen, zum Beispiel bisher unbekannte unerwünschte Ereignisse nach der Gabe eines Arzneimittels oder neue Aspekte bereits bekannter Ereignisse, die weitere Untersuchungen erfordern. Diese Signale werden aus verschiedenen Quellen generiert, vor allem aus der Analyse von spontanen Verdachtsfallmeldungen von Nebenwirkungen, aber auch aus klinischen Prüfungen oder aus der wissenschaftlichen Literatur (siehe dazu www.pei.de/DE/service/glossar/Functions/glossar.html?cms_lv3=483256& cms_lv2=168184). Die Feststellung eines Risikosignals ist also ein möglicher Hinweis auf die potenziell schädigende Wirkung eines Arzneimittels (bzw. hier: einer Impfung). Da das PEI nicht ausschließlich statistische Methoden verwendet, weist das Risikosignal nicht zwingend auf das gehäufte Auftreten potenziell schädigender Wirkungen des Arzneimittels bzw. der Impfung in einem bestimmten Zeitraum in einem statistisch signifikanten Umfang hin. Umgekehrt bedeutet das Fehlen eines Risikosignals (bzw. der Umstand, dass das PEI bislang kein solches hat feststellen können) nicht, dass in jedem Einzelfall eine Schädigung durch eine Impfung ausscheidet. Dies gilt ganz besonders für seltene Erkrankungen, die mit einer solchen Methode bereits aufgrund der geringen Fallzahl nicht zuverlässig erfasst werden können (siehe auch SG B-Stadt, Urteil vom 21.05.2025, S 48 VS 55/24, Rn. 31 f, in: juris).
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Hinzu kommt, dass für viele Länder, so auch für Deutschland, ohnehin keine verlässlichen Zahlen vorliegen, die einen seriösen Vergleich zwischen der „normalen“ Inzidenz (sog. Hintergrundinzidenz) seltener Ereignisse und deren Auftreten in einem zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen gegen COVID-19 gestatten (vgl. Diener/Berlit/Gerloff/Holle-Lee/Kurth/Schulz, Neurologische Nebenwirkungen der COVID-19-Impfung, in: In Fo Neurologie + Psychiatrie, 2022; 24 (1), S. 32 ff, 39). Für viele vestibuläre Erkrankungen, unter anderem die Neuritis vestibularis, gibt es weit divergierende Angaben über deren Inzidenz und Prävalenz (siehe Dlugaiczyk, Seltene Erkrankungen des vestibulären Labyrinths: von Zebras, Chamäleons und Wölfen im Schafspelz, in: Laryngo-Rhino-Otol. 2021; 100, S. 1 ff, 3). Dies verringert jedoch die Sensitivität und damit die Aussagekraft einer observed-vs.-expected-Analyse, die vom PEI zur Bildung eines Risikosignals herangezogen wird, erheblich (vgl. O. Mahaux et al., Pharmacoepidemiological considerations in observed-to-expected analyses for vaccines, Pharmacoepidemiology and Drug Safety 2016, 25 (2); S. 215 ff).
23
Vor diesem Hintergrund sind die von der Sachverständigen B. zusammengetragenen zahlreichen Hinweise aus der Literatur, die für eine mögliche Verursachung einer Neuritis vestibularis durch eine mRNA-Impfung gegen COVID-19 sprechen, nach der Überzeugung des Gerichts geeignet, eine „gute Möglichkeit“ im Sinne der Kann-Versorgung zu begründen, weil zusätzlich auch ein wissenschaftliches Erklärungsmodell für eine solche ursächliche Verbindung existiert.
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Die Neuropathia vestibularis (Synonym: Neuritis vestibularis) ist eine meist einseitige idiopathische Inflammation (Entzündung) des Nervus vestibularis, die zum Funktionsausfall des Gleichgewichtsorgans führt. Als Auslöser wird eine Inflammation des vestibulären Anteils des achten Hirnnerven durch Viren diskutiert, auch weil der Symptomatik oft Infekte der oberen Atemwege vorausgehen. Aus völliger Gesundheit heraus kommt es zu einem akuten vestibulären Syndrom mit über Tage anhaltendem Drehschwindel sowie Übelkeit, Erbrechen, Stand- und Gangunsicherheit (siehe https://www.amboss.com/de/wissen/neuropathia-vestibularis). Die genaue Ursache der Schädigung ist nicht bekannt, deshalb die Bezeichnung als „idiopathisch“. Dies gilt auch – und erst recht – für eine mögliche impfbedingte Schädigung (siehe z. B. S. Chowdhury, N. S. Chowdhury, Association of Vestibular Neuritis Following COVID-19 Vaccination, in: …24, S. 4: „… The underlying mechanisms linking COVID-19 vaccination to VN remain unclear…“; ins Deutsche übertragen: „Die einer möglichen ursächlichen Verbindung zwischen einer Impfung gegen COVID-19 und einer Neuropathia vestibularis zugrundeliegenden Mechanismen sind weiterhin unklar.“).
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Es besteht aber ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass die Neuritis vestibularis durch einen entzündlichen Vorgang am Nerv verursacht wird. Bekannt ist auch, dass eine mRNA-Impfung gegen COVID-19, so wie die Klägerin sie erhalten hat, Entzündungen im Körper auslösen kann (vgl. dazu Diener/Berlit/Gerloff/Holle-Lee/Kurth/Schulz, a. a. O.; vgl. auch SG B-Stadt, Urteil vom 21.05.2025, S 48 VS 55/24, Rn. 22, in: juris). Als mögliche Mechanismen werden immunologische Reaktionen diskutiert, bei denen das Spike-Protein-Antigen oder auch die mRNA selbst durch molekulare Mimikry oder durch Aktivierung autoreaktiver Immunzellen (T-Zellen) eine Nervenentzündung, zum Beispiel auch im Nervus vestibularis, auslösen. Auch eine Reaktivierung von Herpes-Viren wird als denkbare Ursache in der Literatur genannt (siehe die ergänzende Stellungnahme von B. vom 30.07.2025, S. 2; S. Chowdhury, N. S. Chowdhury, a. a. O., S. 4).
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Es liegen also nach zumindest einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Lehrmeinung, welche durch die von der Sachverständigen B. genannten Studien und Fallberichte, ergänzt durch die oben aufgeführten Quellen repräsentiert wird, (hinreichend konkrete) Erkenntnisse vor, die für einen generellen kausalen Zusammenhang zwischen mRNA-Impfungen gegen COVID-19 und dem Auftreten einer Neuritis vestibularis sprechen. Denn es besteht nach dem oben Gesagten die „gute Möglichkeit“, dass eine solche Impfung entzündliche Vorgänge im Organismus der geimpften Person auslösen kann – auch im Bereich des Gleichgewichtsnervs –, die geeignet sind, die Gesundheit des oder der Betroffenen zu schädigen. Der Umstand, dass sich dieses Risiko möglicherweise nur in wenigen Einzelfällen realisiert, ist kein beachtlicher Einwand gegen die Anwendung der Grundsätze der Kann-Versorgung auf den vorliegenden Fall, weil die Soziale Entschädigung gerade auch dazu da ist, die negativen Folgen seltener Ereignisse auszugleichen.
27
Ausgehend von der Annahme, dass eine Impfung mit COMIRNATY generell geeignet ist – wenn auch vielleicht nur in seltenen Fällen –, eine Neuritis vestibularis zu verursachen, würde sich diese Möglichkeit im vorliegenden Fall zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit verdichten. Denn der zeitliche Zusammenhang zwischen Impfung und Schädigung ist im Falle der Klägerin auffällig (siehe Gutachten vom 06.01.2025, S. 12) und entspricht dem Ablauf, der zu erwarten wäre, wenn es infolge der Impfung zu einer immunologischen Reaktion einschließlich des Auftretens einer Entzündung des Gleichgewichtsnervs gekommen wäre. Spezielle Risikofaktoren für die Entstehung einer Neuritis vestibularis lag Dr. med. R Dr. med. R en bei der Klägerin nicht vor; potenzielle konkurrierende Ursachen sind nicht zu erkennen. Insbesondere bestand zum Zeitpunkt der Impfung und in den Wochen danach kein Anhaltspunkt für eine Infektion mit COVID-19 (siehe den Entlassungsbericht des R. Klinikums R1 Dr. med. R -Stadt vom 20.05.2021, S. 2, Blatt 132 R Gerichtsakte).
28
Da die Primärschädigung nicht vollständig ausgeheilt ist, sondern eine Unterfunktion des Gleichgewichtsnervs mit entsprechenden Funktionseinschränkungen verblieben ist (sog. inkomplette Remission), liegt auch die für einen Entschädigungsanspruch erforderliche dauerhafte gesundheitliche Schädigung vor. Die Schädigungsfolge ist allerdings nach den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) nicht (mehr) so schwerwiegend, dass sie einen GdS von mindestens 30 und somit gem. § 30 Abs. 1 BVG (bzw. nach § 83 Abs. 1 SGB XIV) einen Anspruch auf eine Grundrente rechtfertigt, denn es liegen nur noch Gleichgewichtsstörungen mit leichten Folgen vor (siehe Nr. 5.3 VMG). Die Klage ist deshalb insoweit abzuweisen.
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Die Klage hat auch keinen Erfolg, soweit die Klägerin die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen beantragt hat. Denn es existiert nach dem aktuellen Erkenntnisstand des Gerichts noch keine hinreichend fundierte medizinisch-wissenschaftliche Lehrmeinung, die die Wahrscheinlichkeit eines (generellen) ursächlichen Zusammenhangs zwischen mRNA-Impfungen gegen COVID-19 und der Entstehung von Krankheitsbildern wie einem sog. Post-Vac-Syndrom bzw. einer myalgischen Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) vertritt, denen die Symptome der Klägerin wie Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie vermehrte Erschöpfbarkeit am ehesten zuzurechnen sind. Die Anerkennung einer solchen Erkrankung als Impfschaden kommt deshalb derzeit auch nach den Regeln der Kann-Versorgung nicht in Betracht (SG B-Stadt, Urteil vom 23.10.2024, S 48 VJ 31/23, in: juris).
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Hinzu kommt, dass die entsprechenden Krankheitserscheinungen wie Brain Fog und Fatigue nach der Aktenlage erstmals nach der Infektion der Klägerin mit SARS-CoV-2 vom Dezember 2021 dokumentiert wurden, sodass ein enger zeitlicher Zusammenhang mit der angeschuldigten Impfung nicht gegeben ist und eine Verursachung durch die COVID-19-Erkrankung mindestens ebenso wahrscheinlich erscheint, wie ein Zusammenhang mit der Impfung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG); das Klageverfahren ist gerichtskostenfrei (§ 183 SGG).