Titel:
Pflichtverteidigerbestellung, notwendige Verteidigung, Schwere der Tat, Gesamtstrafenbildung, Ermittlungsverfahren, Freiheitsstrafe, Beschwerdeverfahren
Leitsatz:
Drohen einem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat" im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Pflichtverteidigerbestellung, notwendige Verteidigung, Schwere der Tat, Gesamtstrafenbildung, Ermittlungsverfahren, Freiheitsstrafe, Beschwerdeverfahren
Vorinstanz:
AG Neustadt a.d. Aisch, Beschluss vom 29.08.2025 – 7 Ds 951 Js 161212/25
Fundstelle:
BeckRS 2025, 33139
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeschuldigten N gegen den Beschluss des Amtsgerichts Neustadt a.d. Aisch vom 29.08.2025 wird dieser aufgehoben.
2. Dem Beschwerdeführer wird rückwirkend zum 28.07.2025 Rechtsanwalt J**-R*** F*** als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
1
Vor dem Amtsgericht Neustadt an der Aisch ist unter dem Aktenzeichen 951 Js 161212/25 ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer anhängig, in welchem ihm mit Anklageschrift vom 23.06.2025 (EA Bl. 35 f.) vorgeworfen wird, eine andere Person körperlich verletzt zu haben. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage wurde bislang nicht entschieden.
2
Mit anwaltlichem Schreiben seines Verteidigers vom 28.07.2025 beantragte der Angeschuldigte, ihm Rechtsanwalt F*** als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 2 StPO zu bestellen. Für den Fall der Beiordnung werde das Wahlmandat niedergelegt.
3
Mit dem Beschluss vom 29.08.2025, dem Angeschuldigten zugestellt am 01.09.2025, hat das Amtsgericht Neustadt a.d. Aisch den Antrag abgelehnt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1. Abs. 2 StPO liege nicht vor. Insbesondere sei die Mitwirkung eines Verteidigers auch nicht wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten. Es sei darüber hinaus nicht ersichtlich, dass sich der Angeschuldigte nicht selbst verteidigen könne.
4
Gegen den Beschluss wendet sich der Angeschuldigte mit anwaltlichem Schreiben vom 01.09.2025, eingegangen beim Amtsgericht Neustadt an der Aisch am selben Tage. Zur Begründung ließ der Angeschuldigte vortragen, dass gegen ihn ca. 30 weitere Ermittlungsverfahren bei der Polizei Dessau-Rosslau anhängig seien. Es werde insoweit Bezug genommen auf ein beiliegendes Schreiben der Polizei Sachsen-Anhalt vom 12.08.2025, mit welchem er zur Beschuldigtenvernehmung vorgeladen werde. Konkret würden ihm 21 Fälle des besonders schweren Diebstahls, drei Fälle des Hausfriedensbruchs, vier Fälle der Sachbeschädigung, vier Fälle der Beleidigung, zwei Fälle der Unterschlagung sowie ein Fall der Entziehung elektrischer Energie vorgeworfen. Eine isolierte Betrachtung des einzelnen Verfahrens könne deshalb nicht erfolgen. Darüber hinaus stehe er, der Angeschuldigte, unter amtlicher Betreuung durch die Betreuerin K... R...
5
Das Amtsgericht Neustadt a. d. Aisch hat unter dem 07.10.2025 entschieden, der sofortigen Beschwerde nicht abzuhelfen. Die in der Beschwerdebegründung angeführten weiteren Straftaten des Angeschuldigten könnten keine Berücksichtigung finden, das sich diese Verfahren noch im Stadium der Ermittlungen befänden. Einen Beleg für die behauptete Betreuung habe der Angeschuldigte darüber hinaus nicht vorgelegt.
6
Mit Verfügung vom 23.10.2025, ausgeführt am 05.11.2025, ließ die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Akte zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vorlegen. Die Beschwerde ging am 06.11.2025 beim Landgericht Nürnberg-Fürth ein.
7
1. Die gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung statthafte sofortige Beschwerde (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) ist zulässig.
8
Sie wurde form- und fristgerecht (§§ 306, 311 StPO) eingelegt. Auf Grund der Erklärung des Verteidigers vom 01.09.2025 steht zweifelsfrei fest, dass das Rechtsmittel im Namen des Beschwerdeführers und nach seinem ausdrücklichen Auftrag und nicht vom Verteidiger im eigenen Namen eingelegt wurde.
9
2. Die Beschwerde ist auch begründet.
10
Vorliegend ist wegen der „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO gegeben. Hierbei rechtfertigt die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung nach gefestigter Rechtsprechung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 68. Aufl., § 140 Rn. 23/23a).
11
a) Zwar ist in vorliegenden Fall aus Sicht der Kammer nicht mit einer Freiheitsstrafe, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt, zu rechnen. Jedoch ist allein beim Amtsgericht Neustadt a. d. A. unter Aktenzeichen 951 Js 162346/25 ein weiteres Verfahren gegen den Angeschuldigten wegen Bedrohung anhängig, für welches das dortige Gericht nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Voraussetzungen für die Annahme einer notwendigen Verteidigung gegeben sah. Darüber hinaus sind gegen den Angeschuldigten laut Vortrag seines Verteidigers, belegt durch das beigefügte Vorladungsschreiben, zahlreiche weitere Ermittlungsverfahren anhängig, hinsichtlich derer bei Anklage und Verurteilung eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt.
12
b) Drohen einem Angeklagten – wie vorliegend – in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten nämlich der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ab, ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist (OLG Naumburg Urt. v. 22.5.2013 – 2 Ss 65/13, BeckRS 2013, 10548, beck-online).
13
Hierbei ist bei der Betrachtung der Gesamtwirkung der drohenden Strafe der Blick nicht auf solche Verfahren beschränkt, in denen eine gesamtstrafenfähige andere Strafe bereits rechtskräftig geworden ist. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhält. Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 24.04.2025 – Ws 325/25 – juris;).
14
c) Damit sind aber die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung auch in vorliegendem Verfahren gegeben.
15
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.