Titel:
Schriftliche Androhung von Mutwillenskosten nur mit voller Unterschrift des zuständigen Richters wirksam
Normenketten:
SGG § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
SGG § 192 Abs. 3 S. 2
Leitsätze:
1. Wird im Berufungsverfahren die Klage zurückgenommen und ein Antrag nach § 192 Abs. 3 Satz 2 SGG gestellt, hat das Berufungsgericht über die im erstinstanzlichen Urteil erfolgte Verhängung von Missbrauchskosten durch das SG zu entscheiden.
2. Wird die Verhängung von Mutwillenskosten schriftlich angedroht, muss das Anhörungsschreiben die volle Unterschrift des zuständigen Richters enthalten.
Schlagworte:
Klagerücknahme im Berufungsverfahren, Klagerückname, Missbrauchskosten, Mutwillenskosten
Vorinstanz:
SG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 26.02.2025 – S 13 U 141/24
Fundstelle:
BeckRS 2025, 32571
Tenor
Die Festsetzung von Mutwillenskosten in Höhe von 300 € unter Ziffer III.) im Urteil des SG Regensburg vom 26.02.2025 wird aufgehoben.
Gründe
1
Im zugrunde liegenden Verfahren war zwischen den Beteiligten die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach § 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i.V.m. Nr. 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Wege eines Überprüfungsverfahrens gem. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) Streitgegenstand.
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Die Beklagte lehnte die Anerkennung der BK 2301 (Lärmschwerhörigkeit) mit Bescheid vom 09.06.2021 ab, welcher bestandskräftig wurde. Zugrunde lag dieser Entscheidung insbesondere die beratungsärztliche Einschätzung des F, Facharzt für HNO und Audiologie vom 26.03.2021, der festgestellt hatte, dass die 04/1992 begonnene Lärmarbeit auf bereits „massiv geschädigte äußere Haarzellen der unter Schneckenwindung, also sozusagen ins Leere“ getroffen sei.
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Das Schreiben des Klägers vom 04.12.2022 behandelte die Beklagte als Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X.
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Die Bevollmächtigte stellte mit Schreiben vom 20.02.2023 einen „Überprüfungsantrag“ und beantragte Akteneinsicht.
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Zur Begründung des Antrages trug die Bevollmächtigte mit Schreiben vom 13.07.2023 insbesondere vor, "(..) dass in der Akte ein Befundbericht vom 21.05.1986 zu finden ist, welcher bestätigt, dass beidseits ein altersgerechtes Hörvermögen besteht. Was erheblich Zweifel an einer bereits im Jahr 1983 angeblich festgestellten Schwerhörigkeit lässt. Weiter war der Kläger über 28 Jahre im Tiefbau beschäftigt und einer täglichen Lärmexposition von 92 dBA ausgesetzt und die nun vorliegende Schwerhörigkeit entspricht dem typischen Bild eine Lärmschwerhörigkeit im Sinne der Berufskrankheit Nr. 2301.“
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Die Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X mit Bescheid vom 21.11.2023 ab, da keine neuen Tatsachen vorgetragen worden seien, und begründete dies insbesondere wie folgt: "(..) Die erneute verwaltungsinterne Auswertung hat ergeben, dass sich aus ihren Ausführungen keine neuen Gesichtspunkte ergeben, die geeignet wären, die im Bescheid vom 09.06.2021 getroffenen Feststellungen zu widerlegen.“
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Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 02.01.2024, der im Wesentlichen inhaltlich identisch mit den Ausführungen der Bevollmächtigten im Überprüfungsverfahren war, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.06.2024 zurück, nachdem sie eine beratungsärztliche Stellungnahme auf HNOfachärztlichem Fachgebiet durch K veranlasst hatte.
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Die Bevollmächtigte hat hiergegen beim SG Regensburg (SG) Klage erhoben. Das SG hat mit Schriftsatz vom 29.08.2024 einen umfassenden Hinweis erteilt und mitgeteilt, dass es nach dem derzeitigen Sachstand keine ausreichenden Anhaltspunkte habe, um in eine eigene Beweiserhebung einzusteigen, und hat daraufhin die Schwerbehindertenakte des Klägers beim Zentrum Bayern Familie und Soziales Oberpfalz angefordert sowie einen Befundbericht bei dem den Kläger behandelnden HNO-Arzt H vom 18.10.2024 (samt Audiogramm).
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Nach Zugang der angeforderten Unterlagen hat das SG mit Schriftsatz vom 25.10.2024 insbesondere erklärt, dass nach den weiteren Ermittlungen sich kein überzeugender Nachweis dafür finde, dass die Einschätzung der Beklagten falsch sei und das Gericht bei diesem Sachstand keine weitere Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens durchführen werde, es sei auf die letzten Hinweise im Schreiben vom 29.08.2024 überhaupt nicht eingegangen worden. Das SG hat zusätzlich zum Erlass eines Gerichtsbescheides angehört und den Kläger auf die Möglichkeit der Verhängung von Verschuldenskosten gem. § 192 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen. Das an die Bevollmächtigte gerichtete Schreiben ist auf richterliche Anordnung von der Geschäftsstellenmitarbeiterin Frau W unterzeichnet und der Bevollmächtigten mittels elektronischen Empfangsbekenntnisses am 25.10.2025 zugestellt worden.
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Das SG hat sich daraufhin an die Beklagte gewendet und um eine ergänzende beratungsärztliche Stellungnahme zu dem beigezogenen Befundbericht des H vom 18.10.2024 gebeten. Die Antwort der Beklagten hierauf (Schriftsatz vom 07.01.2025, beratungsärztliche Stellungnahme der K vom 27.12.2024) hat das SG der Bevollmächtigten zur Kenntnis und etwaigen Stellungnahme übersendet und mit Schreiben vom 19.11.2024, welches von der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle Frau W auf richterliche Anordnung unterzeichnet worden ist, Folgendes mitgeteilt:
„wird nach Eingang der Stellungnahme der Beklagten darauf hingewiesen, dass das Gericht nach Abschluss der Beweisaufnahme weiter eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Erlass eines Gerichtsbescheids nach § 105 SGG beabsichtigt. Auf das gerichtliche Schreiben vom 25.10.2024 samt allen dortigen Ausführungen wird noch einmal verwiesen. Eine Entscheidung wird nicht vor dem 25.02.2025 ergehen.“
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Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 26.02.2025 abgewiesen und dem Kläger Verschuldenskosten in Höhe von 300 € auferlegt.
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Die Bevollmächtigte hat hiergegen Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt.
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Das LSG hat mit Schriftsatz vom 16.07.2025 einen mehrseitigen rechtlichen Hinweis gegeben und dabei insbesondere ausgeführt:
„Unter Berücksichtigung des Vortrages im Rahmen des Überprüfungsverfahrens ist festzustellen, dass weder der Begründung des Überprüfungsantrages noch der Begründung des Widerspruches gegen den ablehnenden Bescheid hinsichtlich des Überprüfungsantrages neue (und erst Recht entscheidungserhebliche) Tatsachen zu entnehmen sind.
Insbesondere der Befundbericht vom 21.05.1986 (vgl. hierzu beratungsärztliche Stellungnahme der K vom 02.04.2024 -Nr. 80-: „Zunächst soll erwähnt werden, dass keinerlei neue, bislang unbekannte Befunde in der Akte liegen.“) war Gegenstand der ursprünglichen bestandskräftigen Entscheidung. Auch der Begründung des Widerspruches vom 02.01.2024, der im Wesentlichen inhaltsgleich mit dem vorhergehenden Überprüfungsantrag ist, vermag der Berichterstatter die Benennung neuer Beweismittel bzw. Tatsachen nicht zu entnehmen Nach der ständigen Rechtsprechung dieses Senats, die auch in NZB-Verfahren vor dem BSG standhielt, ist die Verwaltung befugt, den Überprüfungsantrag ohne Sachprüfung abzulehnen, sofern bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens keine neuen (entscheidungserheblichen) Tatsachen dargelegt worden sind. Die Prüfung des Gerichts beschränkt sich dann darauf, ob neue (entscheidungserhebliche) Tatsachen bis zum Abschluss des behördlichen Verfahrens dargelegt worden sind. Etwaige Unterlagen, auch wenn sie neu und entscheidungserheblich sein sollten, sind dann nicht mehr im anhängigen Verfahren zu berücksichtigen, sondern ggf. in einem neuen behördlichen Überprüfungsverfahren. Der Berichterstatter hatte in einem Urteil vom 24.10.2023 (L 2 U 220/22; Beschluss des BSG vom 18.02.2025 B 2 U 122/23 B) – in Übereinstimmung mit der Linie des Senats – diesbezüglich wie folgt ausgeführt: (..)“
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Mit Schriftsatz vom 06.08.2025 hat die Bevollmächtigte mitgeteilt, dass aufgrund des rechtlichen Hinweises des LSG die Klage zurückgenommen werde, und hat beantragt,
„Die in dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 26.02.2025 getroffene Entscheidung über die Auferlegung von Gerichtskosten in Höhe von 300,00 Euro gem. § 192 I S.1 Nr. 2 SGG wird aufgehoben.“
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1.) Für die Kostenentscheidung ist gemäß § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, Abs. 4 SGG der Berichterstatter zuständig, nachdem sich das Berufungsverfahren im vorbereitenden Verfahren durch Rücknahme erledigt hatte.
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2.) Die Entscheidung zur Verhängung von Mutwillenskosten im Sinne des § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG war aufzuheben.
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Da die Bevollmächtigte des Klägers nicht die Berufung, sondern die Klage zurückgenommen hat und einen Antrag nach § 192 Abs. 3 Satz 2 SGG gestellt hat, hatte der Senat über die Verhängung von Missbrauchskosten durch das SG zu entscheiden (vgl. Bayer. LSG, Beschlüsse vom 16.04.1980, L 4 Kr 31/77, Breith. 1980, 914-915 und vom 26.02.2025, L 2 U 2/23; BSG, Beschluss vom 28.10.2010, B 13 R 229/10 B, Rn. 14, juris; Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 192 SGG [Stand: 13.06.2024], Rn. 89; Schmidt, a.a.O., § 192, Rn. 20a).
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Nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht im Urteil bzw. Beschluss einem Beteiligten die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Gericht die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung dargelegt und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreits hingewiesen worden ist.
19
Eine missbräuchliche Rechtsverfolgung ist dann anzunehmen, wenn die Weiterführung des Rechtsstreits von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss (vgl. auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23.02.2016, 2 BvR 63/16, 2 BvR 60/16) und der Beteiligte entgegen seiner besseren Einsicht von der weiteren Rechtsverfolgung nicht Abstand nimmt (vgl. BSG, Urteil vom 19.06.1961, 3 RK 67/60). Es ist also ein ungewöhnlich hohes Maß an Uneinsichtigkeit (vgl. BSG, Urteil vom 12.03.1981, 11 RA 30/80) zu verlangen, wobei sich ein Beteiligter die Uneinsichtigkeit seines Bevollmächtigten zurechnen lassen muss (vgl. BSG, Urteil vom 20.10.1967, 10 RV 102/67).
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Voraussetzung ist weiter, dass der Vorsitzende (oder der Berichterstatter, vgl. Bay. LSG, Beschluss vom 10.01.2017, L 15 VK 14/16 B, m.w.N.) die Missbräuchlichkeit darlegt und auf Möglichkeit der Kostenauferlegung nach § 192 SGG hinweist („Warnfunktion“, vgl. Kummer Sozger. Verfahren XXI 39; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.06.2004, L 12 AL 59/03; LSG Thüringen, Beschluss 30.01.2006, L 6 RA 383/04; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 01.06.2006, L 7 V 2/06 u.a.). Das kann seit 2008 auch in einer gerichtlichen Verfügung erfolgen (vgl. BT-Drs. 16/7716, 28), also schriftlich; mit der Neufassung soll unter anderem die Verhängung von Verschuldenskosten in Eilverfahren erleichtert werden (vgl. BT-Drs. a.a.O.; zur Erforderlichkeit des Nachweises, dass schriftlicher Hinweis zugegangen ist, s.a. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.06.2011, L 6 AS 959/11 B ER; vgl. auch Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 192 Rn. 10).
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Unter Zugrundelegung dieser Prämissen kann es dahinstehen, ob das SG vor Erlass des Gerichtsbescheides entsprechend den o.g. Vorgaben nochmals ausdrücklich auf die Verhängung von Mutwillenskosten hätte hinweisen müssen, nachdem es nach dem ersten ausdrücklichen Hinweis mit Schreiben vom 25.10.2024 nochmals bei der Beklagten eine beratungsärztliche Stellungnahme zu dem vom SG – entgegen seines vorherigen Hinweises – beigezogenen Befundbericht angefordert und im Weiteren vor Erlass des Gerichtsbescheides lediglich mit Schreiben vom 06.02.2025, welches nicht förmlich zugestellt worden ist, auf die Ausführungen im Schreiben vom 25.10.2024 verwiesen hatte.
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Das Schreiben vom 25.10.2025 (und erst recht das Folgeschreiben vom 06.02.2025) genügt aus Sicht des Gerichts jedenfalls bereits deshalb nicht den o.g. Vorgaben, weil es nicht vom Vorsitzenden, sondern von einer Mitarbeiterin der Geschäftsstelle auf richterliche Anordnung unterschrieben worden ist.
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Der Gesetzgeber hat zwar die Möglichkeit geschaffen, dass Mutwillenskosten nicht mehr nur in einem Termin, sondern auch schriftlich verhängt werden.
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Vor dem Hintergrund der nach wie vor erforderlichen Warnfunktion und der einschneidenden Rechtsfolgen ist aus Sicht des Senats, wie auch im Falle einer Betreibensaufforderung (vgl. hierzu Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 102 SGG; Stand: 15.10.2025, Rn. 88, 89), im Zusammenhang mit der schriftlichen Androhung von Mutwillenskosten die Beifügung der vollen Unterschrift des zuständigen Richters erforderlich. Erst diese macht deutlich, dass es sich bei dem unterzeichneten Text nicht lediglich um einen Entwurf handelt und dass der Unterzeichnende nicht von einer Routine-Verfügung ausgeht; hierüber muss bei einer Androhung von Mutwillenskosten auch für die Betroffenen Gewissheit bestehen.
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Die Festsetzung der Mutwillenskosten im Gerichtsbescheid des SG vom 26.02.2025 war daher antragsgemäß aufzuheben.
27
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.