Titel:
Unzulässige Popularklage gegen Corona-Schutzmaßnahmen
Normenketten:
BV Art. 98 S. 4
VfGHG Art. 55 Abs. 1 S. 1
4. BaylfSMV § 8, § 12 Abs. 1 S. 3
Leitsätze:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen mehrere außer Kraft getretene Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, weil kein objektives Interesse mehr an der Feststellung besteht, ob die angegriffenen Rechtsvorschriften mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. (Rn. 12 – 20)
1. Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle außer Kraft getretener Vorschriften im Wege der Popularklage kommt nur in Betracht, wenn noch ein objektives (nicht nur theoretisches) Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Feststellungsinteresse liegt insbesondere dann vor, wenn nicht auszuschließen ist, dass die angegriffenen Vorschriften noch rechtliche Wirkungen entfalten, etwa weil sie für künftige (zB gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant sind. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Popularklage, Corona-Schutzmaßnahmen, Zulässigkeit, objektives Interesse, Feststellungsinteresse, Außerkrafttreten, Geltungsdauer, Grundrechtseingriffe
Fundstelle:
BeckRS 2025, 31978
Tenor
Der Antrag wird abgewiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrer am 9. November 2020 eingegangenen und später mehrfach erweiterten Popularklage gegen Corona-Schutzmaßnahmen, die das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege im Zeitraum von Oktober 2020 bis Februar 2021 durch Verordnungen auf der Grundlage von § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) in der jeweiligen damals geltenden Fassung erlassen hatte.
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Im Einzelnen greifen sie folgende Vorschriften an:
- die Vorschriften der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (8. BayIfSMV) vom 30. Oktober 2020 (BayMBl Nr. 616, BayRS 2126-1-12-G), die durch Verordnung vom 12. November 2020 (BayMBl Nr. 639) geändert worden und mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft getreten ist,
- die Vorschriften der Neunten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (9. BayIfSMV) vom 30. November 2020 (BayMBl Nr. 683, BayRS 2126-1-13-G), die mit Ablauf des 8. Dezember 2020 außer Kraft getreten ist,
- die Vorschriften der Zehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (10. BayIfSMV) vom 8. Dezember 2020 (BayMBl Nr. 711, BayRS 2126-1-14-G), die durch Verordnung vom 10. Dezember 2020 (BayMBl Nr. 734) geändert worden und mit Ablauf des 15. Dezember 2020 außer Kraft getreten ist,
- die Vorschriften der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV) vom 15. Dezember 2020 (BayMBl Nr. 737, BayRS 2126-1-15-G), die zuletzt durch Verordnung vom 24. Februar 2021 (BayMBl Nr. 149) geändert worden und mit Ablauf des 7. März 2021 außer Kraft getreten ist.
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1. Die Antragstellerinnen sind der Auffassung, die angefochtenen Vorschriften hätten gegen die Bayerische Verfassung verstoßen.
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a) Die in den angegriffenen Rechtsverordnungen geregelten Corona-Schutzmaßnahmen seien schon deshalb verfassungswidrig gewesen, weil in dem hier berührten grundrechtsrelevanten Bereich alle wesentlichen Entscheidungen durch den Gesetzgeber selbst mittels parlamentarischen Gesetzes zu treffen gewesen wären. Dies gelte insbesondere mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 102 BV. Davon unabhängig habe § 32 Satz 1 IfSG, auch in Verbindung mit § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG, keine ausreichende und hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage für die angegriffenen Vorschriften dargestellt.
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b) Die beanstandeten Corona-Schutzmaßnahmen hätten die Grundrechte aus Art. 101 BV (allgemeines Persönlichkeitsrecht und allgemeine Handlungsfreiheit), Art. 102 BV (Freiheit der Person), Art. 106 Abs. 3 BV (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 109 Abs. 1 BV (Freizügigkeit), Art. 124 Abs. 1 BV (Schutz der Familie) sowie den Programmsatz aus Art. 151 Abs. 2 BV (freie wirtschaftliche Betätigung) verletzt.
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aa) Der Normgeber habe nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die angeordneten Corona-Schutzmaßnahmen das Infektionsgeschehen überhaupt positiv beeinflussen konnten. Mehreren Verlautbarungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sei zu entnehmen, dass die WHO Lockdowns nicht als primäres Mittel zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens angesehen habe. Die beanstandeten Grundrechtseingriffe seien nicht unter Hinweis auf die gestiegenen Inzidenzzahlen und das Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, zu rechtfertigen gewesen. Ein positiver PCR-Test habe schon nach damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mit einer Corona-Infektion gleichgesetzt werden können. Zudem seien PCR-Tests äußerst fehleranfällig. Nach den von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeldeten Zahlen zur durchschnittlichen Auslastung der Intensivstationen in Deutschland habe keine Überlastung des Gesundheitssystems gedroht. Statistisch lasse sich für das Jahr 2020 keine Übersterblichkeit wegen SARS-CoV-2 nachweisen. In Deutschland seien auch während der Pandemie mehr Menschen an Grippe und Lungenerkrankungen gestorben als an COVID-19.
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bb) Die Eingriffe in die genannten Grundrechte seien nicht erforderlich gewesen. Als mildere Mittel hätten anstelle von Ausgangsbeschränkungen etwa Kontakt- und Abstandsgebote, eine Maskenpflicht und eine zahlenmäßige Beschränkung von Zusammenkünften angeordnet werden können. Insgesamt hätte vornehmlich für einen gezielten Schutz der Risikogruppen, hauptsächlich in Alten- und Pflegeheimen, gesorgt werden müssen.
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cc) Die angegriffenen Vorschriften hätten gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Der Normgeber habe im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung pauschal dem Schutz von Leib und Leben Vorrang eingeräumt, ohne andere kollidierende Rechtsgüter zu berücksichtigen. Dabei habe er weder die lange Dauer der Corona-Schutzmaßnahmen noch den Umstand ausreichend gewürdigt, dass in einem „Fortsetzungszusammenhang“ mehrfach Lockdowns angeordnet worden seien. Bei zutreffender Abwägung hätten die durch die beanstandeten Maßnahmen hervorgerufenen Grundrechtsbeeinträchtigungen höher gewichtet werden müssen als die zur Rechtfertigung der Eingriffe herangezogenen Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung. Der Normgeber habe verkannt, dass die Ausgangsbeschränkungen mit der Gefahr psychischer Folgeerkrankungen, des Anstiegs von Suiziden und der Zunahme häuslicher Gewalt verbunden gewesen seien.
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2. Die Bayerische Staatsregierung hat sich mit Stellungnahme vom 8. März 2021 zur Popularklage geäußert. Sie hält die Popularklage für teilweise unzulässig und im Übrigen für unbegründet.
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Der Bayerische Landtag hat sich nicht am Verfahren beteiligt.
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3. Der Verfassungsgerichtshof hat die im Rahmen des Popularklageverfahrens gestellten Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen vom 17. Dezember 2020 (Außervollzugsetzung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung) sowie vom 11. und 22. Januar 2021 (Außervollzugsetzung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in der Fassung der Änderungsverordnung vom 20. Januar 2021) mit Entscheidungen vom 30. Dezember 2020 (VerfGHE 73, 389) und vom 29. Januar 2021 (juris) abgewiesen. Weitere Anträge wurden nach Hinweisen auf eine bevorstehende Entscheidung in einem Parallelverfahren oder auf Außerkrafttreten der Verordnungen nicht weiterverfolgt.
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Die Popularklage, die sich ausschließlich gegen nicht mehr geltendes Recht richtet, ist unzulässig geworden, weil es inzwischen mangels objektiven Feststellungsinteresses an einem zulässigen Antragsgegenstand fehlt.
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1. Bei den angegriffenen Corona-Schutzmaßnahmen handelt es sich um Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts, deren Verfassungswidrigkeit jedermann durch Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (Popularklage) geltend machen kann (Art. 98 Satz 4 BV und Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Dem steht nicht entgegen, dass sie auf einer bundesrechtlichen Ermächtigung beruhten. Denn der bayerische Normgeber, der aufgrund einer bundesrechtlichen Ermächtigung tätig wird, setzt Landesrecht und bleibt in den Bereichen, in denen das Bundesrecht ihm Entscheidungsfreiheit belässt, an die Bayerische Verfassung gebunden (vgl. VerfGH vom 27.9.2023 BayVBl 2024, 78 Rn. 34 zur 4. BayIfSMV). Die angegriffenen Verordnungsregelungen sind jedoch kein zulässiger Prüfungsgegenstand im Popularklageverfahren mehr.
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2. Die verfassungsgerichtliche Popularklage, die an die Antragsberechtigung geringe Anforderungen stellt (Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG: „jedermann“) und keiner Fristbindung unterliegt, ist – anders als die auf subjektiven Rechtsschutz gerichtete Verfassungsbeschwerde nach Art. 120 BV – ein objektives Verfahren (vgl. VerfGH vom 7.12.2021 VerfGHE 74, 265 Rn. 42; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 54 und 58; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 8). Sie bezweckt im öffentlichen Interesse die Gewährleistung der Grundrechte als Institution. Dem entsprechend kommt eine verfassungsgerichtliche Kontrolle außer Kraft getretener Vorschriften nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nur ausnahmsweise in Betracht, wenn noch ein objektives (nicht nur theoretisches) Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren (VerfGH vom 15.11.1996 VerfGHE 49, 153/157; vom 28.11.2007 VerfGHE 60, 184/211). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn nicht auszuschließen ist, dass sie noch rechtliche Wirkungen entfalten, etwa weil sie für künftige (z. B. gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant sind (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 30.8.2017 VerfGHE 70, 162 Rn. 75; vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 157 Rn. 18; VerfGHE 74, 265 Rn. 41; vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; BayVBl 2024, 78 Rn. 36, jeweils m. w. N.; Müller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 98 Satz 4 Rn. 14; Wolff, a. a. O., Art. 98 Rn. 23). Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 36; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vom 28.1.2025 – Vf. 2-VII-19 – juris Rn. 9). Hinzukommen muss vielmehr, dass die Grundrechte als Institution betroffen sind, etwa weil es um eine Vielzahl nicht abgeschlossener Fälle und nicht nur um einzelne Verfahren geht, in denen die Betroffenen auf Individualrechtsschutz zu verweisen sind (vgl. VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 58; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vgl. auch VerfGH vom 13.3.2025 – Vf. 5-VIII-18 u. a. – juris Rn. 71 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung). Eine fortbestehende Rechtswirkung in diesem Sinn wäre vor allem dann zu bejahen, wenn die angegriffenen Vorschriften noch in relevantem Ausmaß in Gerichtsverfahren wegen Verstößen gegen die früheren Corona-Schutzmaßnahmen zur Anwendung kommen könnten.
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3. Hiervon ausgehend ist die Popularklage insgesamt unzulässig. An einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften besteht kein objektives Interesse mehr.
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a) Anders als noch bei der mit Entscheidung vom 27. September 2023 inhaltlich geprüften allgemeinen Maskenpflicht nach §§ 8 und 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3
4. BayIfSMV (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 37) ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass zu den im Lauf der Jahre 2020 und 2021 außer Kraft getretenen Vorschriften weiterhin eine Vielzahl behördlicher oder gerichtlicher Verfahren anhängig wäre, für die es auf die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Regelungen ankäme. Vielmehr kann insgesamt mittlerweile ausgeschlossen werden, dass wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstöße gegen die angegriffenen Vorschriften, die zum Teil bußgeldbewehrt waren, heute noch belastende Entscheidungen ergehen könnten. Nach einem per Pressemitteilung veröffentlichten Beschluss der Bayerischen Staatsregierung vom 5. November 2024 ist davon auszugehen, dass noch anhängige Verfahren wegen etwaiger Verstöße gegen die angegriffenen Vorschriften, soweit sie bußgeldbewehrt waren, von den zuständigen Verwaltungsbehörden nicht weiterverfolgt bzw. von den Verfolgungsbehörden eingestellt wurden oder werden. Von dem genannten Beschluss der Staatsregierung erfasst sind sämtliche bei den Kreisverwaltungsbehörden, den Staatsanwaltschaften und den Gerichten anhängigen Bußgeldverfahren und Vollstreckungsverfahren wegen Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit Verstößen gegen Corona-Rechtsvorschriften, insbesondere auch gegen die anlässlich der Corona-Pandemie erlassenen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen. Danach findet auch keine (weitere) Vollstreckung aus rechtskräftigen Bußgeldbescheiden mehr statt, die wegen Verstößen gegen die früheren Corona-Schutzmaßnahmen erlassen wurden. Noch ausstehende Bußgelder müssen nicht bezahlt werden (https://www.bayern.de/ bericht-aus-der-kabinettssitzung-vom-5-november-2024/). Bereits bezahlte Bußgelder könnten auch dann nicht zurückgefordert werden, wenn die Popularklage Erfolg hätte, da in Bestands- bzw. Rechtskraft erwachsene Rechtsanwendungsakte von einer positiven Entscheidung über die Popularklage unberührt blieben (vgl. § 183 VwGO sowie zur entsprechenden Anwendung von § 79 BVerfGG VerfGH vom 29.4.1993 VerfGHE 46, 137/140; vom 27.8.2018 VerfGHE 71, 223 Rn. 25). Die nur theoretische Möglichkeit der Wiederaufnahme von Bußgeldverfahren entsprechend § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. dazu Bethge in Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 79 Rn. 39 m. w. N.) reicht zur Begründung eines objektiven Interesses an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der außer Kraft getretenen Vorschriften nicht aus (vgl. VerfGH vom 10.11.2021 BayVBl 2022, 116 Rn. 24). Die Popularklage dient dem objektiv-rechtlichen Schutz derGrundrechte gegenüber Rechtsvorschriften, von denen noch rechtliche Wirkungen ausgehen können, nicht dagegen der nachträglichen Beseitigung von Entscheidungen, die trotz der gegebenen Rechtsmittel des Individualrechtsschutzes einschließlich der damit inzident verbundenen Möglichkeiten der Normüberprüfung rechtskräftig geworden sind (vgl. VerfGHE 46, 137/140).
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Für eine fortbestehende Rechtswirkung der angegriffenen Vorschriften im Sinn der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs oder für ein objektives Interesse aus anderen Gründen bestehen vor diesem Hintergrund keine Anhaltspunkte. Das gilt umso mehr, als die beanstandeten Corona-Schutzmaßnahmen auf einer bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage beruhten und deshalb von vornherein nur einer eingeschränkten Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen (vgl. VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 45 ff., 69).
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b) Auch die Erwägung, eine Entscheidung über die Popularklage könne möglicherweise zu einer Klärung von Rechtsfragen führen, die bei Auftreten etwaiger künftiger Pandemien (wieder) Bedeutung erlangen könnten, ist nicht geeignet, das erforderliche objektive Feststellungsinteresse zu begründen. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung, die nach ihrem Außerkrafttreten keine Rechtswirkungen mehr entfaltet, würde, da es keinen praktischen Anwendungsbereich der Vorschrift mehr gibt, zwangsläufig nur im Rahmen eines – für die Zulässigkeit der Popularklage nicht ausreichenden – theoretischen Feststellungsinteresses erfolgen. Die Annahme, es könne im Fall einer künftigen Pandemie ein Anwendungsbereich für vergleichbare Schutzmaßnahmen entstehen, ändert nichts daran, dass sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften derzeit nur in einem theoretischen, nicht aber in einem die konkrete Rechtsanwendung betreffenden Zusammenhang stellt.
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Das erneute Auftreten einer Pandemie hätte auch nicht zur Folge, dass die beanstandeten Vorschriften wieder in Kraft treten und somit wieder rechtliche Wirkung entfalten würden. Vielmehr wäre es im Fall einer neuerlichen Pandemie Sache des Normgebers, über die im Einzelfall erforderlichen Regelungen (neu) zu entscheiden. Dass er hierbei ohne Weiteres auf die mit der Popularklage angegriffenen Vorschriften zurückgreifen würde, steht keineswegs fest. Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Schutzmaßnahmen kontinuierlich an das sich ändernde Infektionsgeschehen anzupassen sind. Es erscheint daher fernliegend, dass der Normgeber durch eine Übernahme alter Vorschriften auf mögliche künftige Pandemielagen reagieren könnte.
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Davon unabhängig würde selbst die von den Antragstellerinnen begehrte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, wonach die angegriffenen Vorschriften in ihrem für ihre Popularklage maßgeblichen Geltungszeitraum verfassungswidrig gewesen sein sollen, nicht zwangsläufig bedeuten, dass im Fall einer „Wiederverwendung“ der Maßnahmen bei einer künftigen Pandemie ebenso eine Verfassungswidrigkeit der Regelungen anzunehmen wäre. Angesichts der kontinuierlichen Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gefährlichkeit von Pandemielagen und zur Wirksamkeit von Schutzvorkehrungen setzt die verfassungsrechtliche Beurteilung der Vertretbarkeit und Verhältnismäßigkeit bestimmter Vorsorgemaßnahmen immer die Kenntnis der im Entscheidungszeitraum bestehenden Umstände und des jeweiligen aktuellen Stands der Wissenschaft voraus.
Das Ergebnis der von den Antragstellerinnen begehrten verfassungsgerichtlichen Überprüfung ließe sich deshalb nicht auf mögliche künftige Pandemielagen übertragen.
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Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).