Titel:
Baurecht, Eintritt der Genehmigungsfiktion
Normenketten:
BayBO Art. 68 Abs. 2 S. 1
BayBO Art. 83 Abs. 7 S. 1
BayVwVfG Art. 42a
Schlagworte:
Baurecht, Eintritt der Genehmigungsfiktion
Fundstelle:
BeckRS 2025, 31785
Tenor
I. Der Bescheid des Beklagten vom ... Februar 2022 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Bescheinigung auszustellen, dass die mit Tekturantrag vom *** August 2021 begehrte Baugenehmigung als erteilt gilt.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
IV. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt eine Tekturgenehmigung (Errichtung zweier Mehrfamilienhäuser mit jeweils vier Wohneinheiten und gemeinsamer Tiefgarage, FlNr. 241/11 Gemarkung … … …, im Folgenden: Baugrundstück) hinsichtlich des Dachgeschosses des südöstlichen Wohngebäudes.
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Der Klägerin wurde am … Januar 2020 eine Baugenehmigung zur Errichtung zweier Mehrfamilienhäuser mit gemeinsamer Tiefgarage erteilt. Mit Bescheid des Landratsamts R. (im Folgenden: Landratsamt) vom … Juli 2021 wurde eine am . Juli 2021 mündlich ergangene Baueinstellungsverfügung bestätigt sowie weiter angeordnet. Der Klägerin wurde zur Überprüfung, ob für die vorgenommene Bauausführung eine Baugenehmigung erteilt werden kann aufgebeben, binnen vier Wochen nach Unanfechtbarkeit dieses Bescheides einen entsprechenden Bauantrag einzureichen. Zur Begründung der Baueinstellung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Schnitt B-B mit einer gestrichelt dargestellten Tiefgaragenabfahrt und dem dazugehörigen Grundriss nicht den Plandarstellungen hinsichtlich des südöstlichen Gebäudes entspreche. Die Abfahrt zur Tiefgarage sei mit einer geringeren Neigung ausgeführt worden und das Kellergeschoss, dargestellt im Grundriss mit Lichtschächten, sei nun als Vollgeschoss mit Fensterfront wahrnehmbar. Aufgrund der unrichtig dargestellten Geländeverläufe und -höhen ergebe sich an der Südostecke des im Eingabeplan als Vorderhaus bezeichneten Gebäudes eine festgestellte Wandhöhe in der Längsflucht entlang und parallel zur R. Straße von ca. 9,85 m. Hierdurch sei in der Ansicht von Osten ein von der Genehmigungsplanung abweichendes sichtbares Geschoss geschaffen worden.
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Mit Schreiben des Landratsamts vom . August 2021 wurde die Baueinstellung für das hintere Wohngebäude ab Unterkante der Geschossdecke der Tiefgarage zum Erdgeschoss bis zur Dachhaut wieder freigegeben, da dieser Gebäudeteil im ausgeführten Baufortschritt sowie mit dessen geplanter Fertigstellung bauordnungs- und planungsrechtlich den öffentlich-rechtlichen Anforderungen entspreche. Alle anderen Bauarbeiten im Bereich der Tiefgarage, des vorderen Wohngebäudes zur R.-Straße sowie die Geländemodellierung blieben weiterhin eingestellt.
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Am … August 2021 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Tekturgenehmigung auf dem Baugrundstück („Neubau zweier Mehrfamilienhäuser mit gemeinsamer Tiefgarage: Tektur Überdachung und Änderung der Tiefgaragenzufahrt“). Das gemeindliche Einvernehmen wurde mit Beschluss des Beigeladenen vom … September 2021 verweigert. Der Bauantrag ging daraufhin dem Landratsamt am … September 2021 zu.
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Mit an die Klägerin gerichtetem Schreiben vom … Oktober 2021 forderte das Landratsamt Unterlagen zum Bauantrag vom … August 2021 nach. Am . November 2021 wurden die fehlenden Unterlagen übermittelt. Mit Schreiben vom … Dezember 2021 forderte das Landratsamt weitere Unterlagen ein, die am … Januar 2022 von der Klägerin übermittelt wurden.
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Am 27. Dezember 2021 ließ die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht München erheben. Sie beantragt,
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„die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die mit Tektur vom … August 2021 begehrte Baugenehmigung zu erteilen“
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und ließ zur Begründung im Wesentlichen vortragen, dass die Genehmigungsfiktion eingetreten sei, da der Geschäftsführer der Klägerin das Nachforderungsschreiben vom … Oktober 2021 erst am … Oktober 2021 im Briefkasten vorgefunden habe. Dies werde von diesem eidesstattlich versichert. Im Übrigen hätten die Nachforderungsschreiben nicht der Klägerin, sondern deren Bevollmächtigten übermittelt werden müssen. Schließlich füge sich das im Innenbereich gelegene Vorhaben auch in die nähere Umgebung ein.
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Mit Bescheid des Landratsamts vom … Februar 2022, zugestellt ausweislich Postzustellungsurkunde am … Februar 2022, wurde der Antrag vom … August 2021 abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich unzulässig. Das Baugrundstück liege im Innenbereich und das Bauvorhaben müsse sich deswegen in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen. Dies sei hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung zu verneinen, da sich das Bauvorhaben im ursprünglichen Bauantrag mit einer beantragten Wandhöhe von 7,37 m zwar in die Umgebungsbebauung eingefügt habe. Nunmehr trete das Kellergeschoss ostseitig allerdings als oberirdisches Vollgeschoss in Erscheinung, weil das Vorderhaus mit der Tiefgaragenrampe als Bezugspunkt der Geländeoberkante im Einfahrtsbereich der Rampe eine zusätzliche Wandhöhe von 2,20 m aufweise. Daraus ergebe sich eine zu berücksichtigende Wandhöhe von 9,57 m, die sich nicht in die nähere Umgebung einfüge.
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Der Beklagte beantragt mit Schreiben vom 22. März 2022,
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Zur Begründung wurde unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Landratsamts vom … März 2022 im Wesentlichen ausgeführt, dass sich das Vorhaben hinsichtlich des Maßes nicht einfüge. Hinsichtlich der Genehmigungsfiktion sei nicht der Eingang des Antrags bei dem Beigeladenen, sondern beim Landratsamt maßgeblich. Die Frist nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO sei nicht angelaufen, da mit Schreiben vom … Oktober 2021 noch Unterlagen angefordert wurden. Diese Nachforderung sei am … Oktober 2021, also innerhalb der dreiwöchigen Vorfrist gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO, versandt worden. Nicht der Zugang bei der Klägerin sei ausschlaggebend, sondern der Zeitpunkt der Aufgabe zur Post. Etwas Anderes sei nur bei grob fehlerhafter Adressierung anzunehmen. Eine solche ergebe sich aber nicht daraus, dass die Nachforderungsschreiben nicht an den Bevollmächtigten der Klägerin übermittelt worden seien. Denn eine anwaltliche Vollmacht sei nur für das Verfahren um die Baueinstellung, nicht aber für das Genehmigungsverfahren vorgelegt worden. Auch soweit der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom … Oktober 2021 einen Abdruck eines Schreibens an den Beigeladenen vorgelegt habe, in dem er „unter Versicherung ordnungsgemäßer Vollmacht“ auf „die anwaltliche Vertretung von Herrn S.“ hinweise, ergebe sich nichts anderes, da dieses Schreiben sich nur auf den Geschäftsführer der Klägerin, nicht aber auf die Klägerin als juristische Person beziehe.
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Am 28. November 2022 ließ die Klägerin zuletzt beantragen,
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1. den Ablehnungsbescheid des Landratsamts vom … Februar 2022 aufzuheben,
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2. den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin eine Bescheinigung auszustellen, dass die mit Tekturantrag vom … August 2021 begehrte Baugenehmigung als erteilt gilt sowie
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3. hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin die mit Tekturantrag vom … August 2021 begehrte Baugenehmigung zu erteilen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, die am … Oktober 2021 angelaufene Frist zur Erteilung einer fingierten Baugenehmigung sei am … Januar 2022 abgelaufen. Die diesbezügliche „Vorfrist“ zur dreimonatigen Fiktionsfrist habe am … September 2021 begonnen. Unabhängig hiervon sei das Vorhaben genehmigungsfähig, anderenfalls müsse das Dach heruntergesetzt werden und wäre nicht mehr nutzbar.
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Unter dem … Dezember 2022 teilte das Landratsamt mit, dass hinsichtlich des Eintritts der Genehmigungsfiktion ein Ausschnitt aus dem vom von der Behörde verwendeten Programm des Unternehmens P. (P. Bau, im Folgenden: P.*) erstellten Bearbeitungsprotokoll (sog. „chronologischer Ablauf“) vorgelegt werde. Hieraus sei erkennbar, dass das Schreiben vom … Oktober 2021 am … Oktober 2021 um 7:44 Uhr zur Post gegeben worden sei. Für das Schreiben vom … Dezember 2021, das am … Dezember 2021 um 9:15 Uhr zur Post gegeben worden sei, gelte dies entsprechend. Eine nachträgliche Veränderung dieses automatisch erstellten Bearbeitungsprotokolls sei, zumindest für die Sachbearbeiter am Landratsamt, nicht möglich.
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Am 28. Oktober 2025 fand die mündliche Verhandlung statt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2025 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist mit ihren zuletzt gestellten und den ursprünglichen Klageantrag präzisierenden Hauptanträgen (Nrn. 1 und 2 v. 28.11.2022) zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Bescheinigung des Eintritts der Genehmigungsfiktion unter Aufhebung des ihren Tekturantrag vom … August 2021 ablehnenden Bescheids des Landratsamts vom … Februar 2022.
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Die Klage ist im Hauptantrag – Aufhebung des Ablehnungsbescheids und Antrag, dem Beklagten aufzugeben, die Bescheinigung zur Genehmigungsfiktion auszustellen – zulässig und begründet.
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1. Die Klage ist zulässig.
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1.1. Die Klägerin begehrt neben der Aufhebung des Ablehnungsbescheids die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.V.m. Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG. Die Rechtsprechung ist dahingehend uneinheitlich, ob die Fiktionsbescheinigung als feststellender Verwaltungsakt, mit dem die Rechtslage für den Einzelfall verbindlich festgestellt werden soll, einzuordnen ist oder ob es sich um eine bloße „Wissenserklärung“ ohne eigenständige Regelungswirkung (und damit ohne Verwaltungsaktqualität) handelt, die lediglich nach außen hin zwecks erleichterten Nachweises den Eintritt der mit Fristablauf kraft Gesetzes (automatisch) eingetretenen Genehmigungsfiktion als bereits bestehende Rechtslage bestätigen soll (vgl. zum Streitstand: BayVGH, B.v. 7.11.2022 – 15 CS 22.1998 – juris Rn. 45, dort offengelassen). Ebenso ungeklärt ist daher, ob Rechtsschutz für den Fall, dass die Behörde sich weigert, die Genehmigungsfiktion auszustellen, mit der allgemeinen Leistungsklage oder mit der Verpflichtungsklage zu suchen ist (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand: September 2025, Art. 68 Rn. 606 ff.).
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Es kann hier jedoch offenbleiben, ob es sich bei der vorliegenden Klage um eine allgemeine Leistungsklage (diese ist in der VwGO zwar nicht ausdrücklich normiert, wird jedoch in einer Reihe ihrer Vorschriften vorausgesetzt und ist auf Grund der Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG allgemein anerkannt) in Kombination mit einer (isolierten) Anfechtungsklage oder um eine Verpflichtungsklage handelt. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen beider Klagearten sind erfüllt. Zwar wurde die Klage auf Erteilung der Fiktionsbescheinigung am … Dezember 2021 und mithin offenkundig vor jeglichem möglichen Eintritt der Fiktionswirkung erhoben, allerdings ändert dies nichts an der Zulässigkeit der in Frage kommenden Klagearten, da sowohl bei Verpflichtungs- als auch Leistungsklagen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich ist (Schmidt-Kötters in BeckOK VwGO, Stand: 1.4.2025, § 42 Rn. 128 f. m.w.N.). Insofern wäre auch bei der Annahme einer Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage der besonderen Sachentscheidungsvoraussetzung des § 75 Satz 2 VwGO im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2025 Genüge getan.
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1.2. Der Klage fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis.
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Es erscheint zwar denkbar, dass es Konstellationen gibt, in denen die Einforderung der Fiktionsbescheinigung, beispielsweise wegen einer angekündigten Rücknahme (Art. 48 BayVwVfG i.V.m. Art. 52 BayVwVfG) oder einer Drittanfechtung, rechtsmissbräuchlich wäre (vgl. BayVGH, B.v. 7.11.2022 – 15 CS 22.1998 – juris Rn. 47). Hier hat jedoch weder der Beklagte die Rücknahme einer etwaigen Fiktionsbescheinigung vorgesehen oder angekündigt, noch hat der Beigeladene sich gegen diese im Klagewege gewandt.
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Sofern es sich bei der Klage in der Hauptsache um eine allgemeine Leistungsklage handelt, kann der damit verbundenen (isolierten) Anfechtungsklage, die auf Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom … Februar 2022 gerichtet ist, das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden. Der streitgegenständliche Bescheid kann insbesondere nicht als konkludente Rücknahme (Art. 48 BayVwVfG) einer etwaigen eingetretenen Genehmigungsfiktion verstanden werden, da er keinerlei Rücknahmewillen erkennen lässt. Er ist vielmehr darauf gerichtet, das Baugenehmigungsverfahren im „alten“ Verfahren (vor Einführung der Genehmigungsfiktion) abzuschließen. Das Verfahren wäre jedoch bei Fiktionseintritt insoweit bereits abgeschlossen. Der Bescheid würde daher für den Fall, dass die Fiktion eingetreten ist, zwar möglicherweise „ins Leere gehen“, aber jedenfalls einen Rechtsschein setzen, an dessen Beseitigung die Klägerin ein berechtigtes Interesse hat (vgl. VG Regensburg, U.v. 6.3.2025 -RO 2 K 23.1222 – juris Rn. 28). Zudem wird die Klägerin durch den Bescheid mit Kosten beschwert.
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2. Die Klage ist im Hauptantrag begründet. Der Bauantrag der Klägerin vom … August 2021 ist gemäß Art. 83 Abs. 7 Satz 1 BayBO nach Art. 64 ff. BayBO a.F. zu beurteilen (2.1.), wonach die Klägerin Anspruch auf Ausstellung der begehrten Genehmigungsfiktion hat, da die maßgeblichen Fristen vor Erlass des ablehnenden Bescheids abgelaufen sind (2.2.).
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2.1. Nach Art. 83 Abs. 7 Satz 1 BayBO gilt für ab dem … Mai 2021 eingereichte Bauanträge gemäß Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V.m. Art. 42a Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG im Falle des Ablaufs der in Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO i.V.m. Art. 42a Abs. 2 BayVwVfG näher reglementierten Fiktionsfrist eine beantragte Baugenehmigung als erteilt (Genehmigungsfiktion). Läuft die Fiktionsfrist ab, ohne dass über den Bauantrag von der Baugenehmigungsbehörde entschieden wurde, gilt die Baugenehmigung kraft Gesetzes als erteilt (vgl. BayVGH, B.v. 7.11.2022 – 15 CS 22.1998 – juris Rn. 34). Nach der Gesetzesbegründung soll die Übergangsvorschrift (Art. 83 Abs. 7 BayBO) verhindern, dass auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits eingereichten Bauanträge die neuen Regelungen zur Genehmigungsfiktion Anwendung finden. Diese sollen von den Bauaufsichtsbehörden nach dem bisher geltenden Verfahrensrecht abgearbeitet werden (vgl. LT-Drs. 18/8547 S. 26). Nachdem der hier maßgebliche Antrag der Klägerin auf Genehmigung der Tektur am … August 2021, mithin nach dem ... Mai 2021, eingereicht wurde, sind die Vorschriften nach Art. 83 Abs. 7 Satz 1 BayBO i.V.m. Art. 68 Abs. 2 BayBO anwendbar.
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2.2. Die maßgeblichen Fristen für den Eintritt der Fiktion sind abgelaufen, bevor der Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom … Februar 2022 abgelehnt hatte. Die Tekturgenehmigung galt mit Ablauf des … Januar 2022 als erteilt, da das Landratsamt nicht nachweisen konnte, dass ein fristverlängerndes Schreiben nach Art. 65 Abs. 1 Satz 2 BayBO rechtzeitig versandt wurde (2.2.1.), weswegen sich die Frist nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Buchst. a BayBO berechnete (2.2.2.). Unerheblich ist vorliegend, ob der für den Fristbeginn relevante Zeitpunkt der Genehmigungsfiktion im hier einschlägigen Falle des Art. 83 Abs. 7 Satz 1 BayBO mit Eingang der Bauantragsunterlagen bei der Gemeinde oder bei der Bauaufsichtsbehörde (vgl. Art. 64 BayBO in der aktuell gültigen Fassung vom 23.12.2024, wonach der Bauantrag entgegen der früheren Rechtslage bei der Bauaufsichtsbehörde einzureichen ist; in Fällen des Art. 83 Abs. 7 Satz 1 BayBO Zugang bei Gemeinde ausschlaggebend, vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand: September 2025, Art. 83 Rn. 92, a.A. Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Auflage 2022, Art. 68 Rn. 409) maßgeblich ist. Denn selbst wenn man auf den (späteren) Zugang des Tekturantrags bei der Bauaufsichtsbehörde abstellen würde, ist die Fiktionsfrist vorliegend vor Erlass des Ablehnungsbescheids am 16. Februar 2022 abgelaufen.
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2.2.1. Nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO gilt Art. 42a BayVwVfG mit der Maßgabe entsprechend, dass die Frist für die Entscheidung drei Wochen nach Zugang des Bauantrags (Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO) oder drei Wochen nach Zugang der verlangten Unterlagen beginnt, wenn die Bauaufsichtsbehörde vor Fristbeginn eine Aufforderung nach Art. 65 Abs. 1 Satz 2 BayBO versandt hat (Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO), sofern ein Bauantrag die Errichtung oder Änderung eines Gebäudes, das ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dient, oder eine Nutzungsänderung, durch die Wohnraum geschaffen werden soll, betrifft und über diesen Bauantrag im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO zu entscheiden ist. Die maßgebliche Frist für den Eintritt der Fiktion besteht folglich grundsätzlich aus einer dreiwöchigen „Vorfrist“, wobei es sich hierbei um eine Ereignisfrist handelt, und einer sich daran anschließenden dreimonatigen Ablauffrist (vgl. hierzu Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand: September 2025, Art. 68 Rn. 411 f.). Der letztlich maßgebliche Fristbeginn richtet sich also danach, ob die Behörde innerhalb der Vorfrist Unterlagen zum Bauantrag nachgefordert hat. Relevant ist hierbei allein das erstmalige Nachfordern von Unterlagen. Zusätzliche Unterlagen können zwar auch im weiteren Verfahren noch nachgefordert werden (vgl. § 1 Abs. 4 BauVorlV), haben aber auf den Beginn der Fiktionsfrist keine Auswirkungen mehr (Greim-Diroll in BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Stand 1.5.2025, Art. 68 BayBO Rn. 35j unter Verweis auf LT-Drs. 18/8547, 22).
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Diesen Grundsätzen folgend begann die dreiwöchige Vorfrist gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO mit Zugang des Antrags vom … August 2021 bei der Bauaufsichtsbehörde am … September 2021 am … September 2021, 0 Uhr, und endete am … Oktober 2021, 24 Uhr (Art. 31 Abs. 1 BayVwVfG i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB), da im streitgegenständlichen Fall kein Schreiben nach Art. 65 Abs. 1 Satz 2 BayBO mit der Rechtsfolge des Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO rechtzeitig durch das Landratsamt versandt worden war.
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Die Bauaufsichtsbehörde hat nicht nachgewiesen, dass sie das Schreiben nach Art. 65 Abs. 1 Satz 2 BayBO, datiert auf den … Oktober 2021, innerhalb des Zeitraums der Vorfrist (*.9.2021 bis …10.2021) versandt hat. Dass ein solches Schreiben letztlich die Klägerin bzw. deren Geschäftsführer erreichte, ist zwar unstreitig, allerdings ließ dieser an Eides statt versichern, dass ihn das Schreiben erst am … Oktober 2021 – mithin nach Ablauf der Vorfrist – erreicht hatte.
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Insofern liegt die Darlegungs- und Beweislast für den rechtzeitigen Versand des Schreibens – hierauf kommt es nach dem klaren Wortlaut von Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO an – nach allgemeinen Grundsätzen bei der Bauaufsichtsbehörde, die sich hierauf mit einer für sie „positiven“ Rechtsfolge beruft. Da die Klägerin den Zugang innerhalb der Vorfrist substantiiert – immerhin erheblich strafbewehrt, vgl. § 156 StGB – an Eides statt auf ein konkretes, späteres Datum über ihren Geschäftsführer versichert hat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass das Schreiben die Klägerin innerhalb üblicher Postlaufzeiten und damit vor dem Ende der Vorfrist erreicht hat (vgl. auch die Wertung des Art. 41 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 BayVwVfG, wonach – bei der hier nicht-einschlägigen Vier-Tages-Fiktion – auch die Behörde im Zweifel den Nachweis [des Zugangs] zu führen hat).
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Dieser Darlegungslast ist der Beklagte durch Vorlage des Auszugs aus der Behördensoftware P. zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) nicht ausreichend nachgekommen. Bei P. handelt es sich um eine Software, die – unterstützt durch eine Vielzahl von Schnittstellen – die digitale Vernetzung sicherstellt und für eine zeitliche Verkürzung der Verfahrensabläufe sorgt (www.p.de/loesungen/bauaufsichtsbehoerde, zuletzt aufgerufen am .11.2025). Bestätigend hierzu führte der Beklagtenvertreter im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2025 aus, bei dem Programm handle es sich um eine Software, die den „Workflow“ im Bauamt abbilde. Ein zu versendendes Schreiben werde zunächst der Postzentrale innerhalb des Bauamts zugeleitet. Dort vermerke eine Mitarbeiterin den Versand, wenn sie es an die Zentrale Poststelle des Hauses weiterleite. Üblicherweise würden solche Poststücke dann dort am selben Tag versandt.
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Dem folgend dient der Auszug aus der Software nicht dazu, den rechtzeitigen Versand des Schreibens vom … Oktober 2021 zu belegen. Aus dem vorgelegten Auszug ergeben sich für das in Bezug genommene Schreiben zwei relevante Eintragungen in P.: „Dokument erzeugt – Eingangsbestätigung und Erstinfo“ am … Oktober 2021, 15:42 Uhr, und „Das Dokument „Eingangsbestätigung und Erstinfo“ wurde versandt“ am … Oktober 2021, 7:44 Uhr. Hieraus lässt sich nicht entnehmen, dass das Schreiben tatsächlich einem Postdienstleistungsunternehmen ausgehändigt wurde und damit die Behörde faktisch verlassen hat. Insofern kommt dem Auszug kein Beweiswert zu, wie er beispielweise einem Einlieferungsbeleg eines Einschreibens oder gar einer Postzustellungsurkunde (§ 415 Abs. 1 ZPO) zukommen würde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass zwar – behördenintern über P. – vermerkt wurde, dass das Schreiben versandt wurde, es aber letztlich noch Tage in der Poststelle oder an anderen Örtlichkeiten im Landratsamt, aus welchen Gründen auch immer, verblieben wäre. Jedenfalls wäre ein solcher Verlauf im Zusammenspiel mit der Versicherung an Eides statt des Geschäftsführers der Klägerin, dass sie das Schreiben erst am … Oktober 2021 erhalten habe, schlüssig. Überdies ist aus dem Auszug aus dem Programm P. nicht ersichtlich, wer Adressat des Schreibens ist, auch ein Betreff oder ein der Klägerin zuordenbares Aktenzeichen lässt sich der Aufstellung nicht entnehmen. Damit lässt sich letztlich aus der vorliegenden Dokumentenbezeichnung „Eingangsbestätigung und Erstinfo“ im P.-Auszug nicht einmal schließen, dass es sich hierbei um das Schreiben vom … Oktober 2021 handeln würde, mit dem Unterlagen bei der Klägerin eingefordert wurden, sondern gegebenenfalls nur um eine (ebenfalls auf den …10.2021 datierte) Eingangsbestätigung des Antrags vom … August 2021, die gerade nicht die Rechtsfolge eines Schreibens nach Art. 65 Abs. 1 Satz 2 BayBO ausgelöst hätte. Für letzteres spricht sogar, dass aus den vorgelegten Auszügen hervorgeht, dass allein das (für die Fiktionsfrist irrelevante, s.o.) Folgeschreiben vom … Dezember 2021 im Dokumentenbetreff als „Anforderung fehlender Unterlagen“ vermerkt wurde. Nach alldem ist der Auszug aus P. nicht geeignet, den erforderlichen Nachweis für den rechtzeitigen Versand des Schreibens zu erbringen, weswegen Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO nicht anzuwenden ist. Da kein Nachweis über den Versand eines solchen Schreibens vorliegt, ist nicht entscheidungserheblich und kann daher offenbleiben, ob das Schreiben an die Klägerin oder deren Bevollmächtigten – wie zwischen den Beteiligten streitig – hätte adressiert werden müssen.
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2.2.2. Nachdem der rechtzeitige Versand eines Schreibens nach Art. 65 Abs. 1 Satz 2 BayBO nicht nachgewiesen werden konnte, ist für den Fristbeginn Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO maßgeblich, wonach die Frist für die Entscheidung drei Wochen nach Zugang des Bauantrags beginnt. Demnach begann die dreiwöchige Vorfrist am … September 2021 und endet am … Oktober 2021 (Art. 31 Abs. 1 BayVwVfG i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB); die unmittelbar hierauf folgende Dreimonatsfrist begann demzufolge am … Oktober 2021 und endete am … Januar 2022 (Art. 31 Abs. 1 BayVwVfG i.V.m. §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 BGB). Der Ablehnungsbescheid vom … Februar 2022 erging damit erst, nachdem die Fiktion der beantragten Genehmigung bereits eingetreten war.
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Mit Eintritt der Genehmigungsfiktion vor Erlass des Ablehnungsbescheids vom … Februar 2022 ist dieser gegenstandslos und war daher aufzuheben. Anhaltspunkte, dass hierin eine konkludente Rücknahme oder ein konkludenter Widerruf der Fiktion zu erkennen wäre, sind nicht ersichtlich oder vorgetragen. Daher war auch die (deklaratorische) Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom … Februar 2022 (mit seinen Nebenentscheidungen zu Gebühren und Kosten) erforderlich.
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Nachdem der Hauptantrag Erfolg hat, bedurfte es einer Entscheidung über den hilfsweise am … November 2022 gestellten Antrag der Klägerin auf Erteilung der mit Tekturantrag vom … August 2021 begehrten Baugenehmigung nicht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.