Inhalt

VerfGH München, Entscheidung v. 20.08.2025 – Vf. 42-VII-20
Titel:

Unzulässige Popularklage gegen Corona-Schutzmaßnahmen 

Normenketten:
BV Art. 98 S. 4
VfGHG Art. 55 Abs. 1 S. 1
2. BaylfSMV § 2 Abs. 5 Nr. 1
4. BaylfSMV § 8, § 12 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen Vorschriften in der außer Kraft getretenen Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, weil kein objektives Interesse mehr an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. (Rn. 12 – 17)
1. Außer Kraft getretene Rechtsvorschriften unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur dann, wenn noch ein objektives Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein solches Feststellungsinteresse kann insbesondere dann bestehen, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Rechtsnorm noch rechtliche Wirkungen entfalten kann, weil sie für künftige (zB gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant ist. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Popularklage, Corona-Schutzmaßnahmen, Unzulässigkeit, Rechtsvorschriften, Geltungsdauer, Rechtswirkungen, Maskenpflicht, Ausgangsbeschränkungen, Gleichheitssatz, Personennahverkehr
Fundstelle:
BeckRS 2025, 31359

Tenor

Der Antrag wird abgewiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
1. Der Antragsteller wendet sich gegen § 2 Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 3, § 5 Abs. 3 Nr. 4 und § 6 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) vom 16. April 2020 (GVBl S. 214, BayMBl Nr. 205, BayRS 2126-1-5-G), die durch Verordnung vom 21. April 2020 (GVBl S. 222, BayMBl Nr. 210) geändert worden war. Die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ist am 20. April 2020 in Kraft und – in der Fassung der weiteren Änderungsverordnung vom 28. April 2020 (GVBl S. 254, BayMBl Nr. 225), mit der § 2 Abs. 5 Nr. 1 unter inhaltlicher Änderung durch § 2 Abs. 5 ersetzt wurde – mit Ablauf des 3. Mai 2020 außer Kraft getreten. Sie war vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege auf der Grundlage von § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) in der jeweiligen damals geltenden Fassung erlassen worden, um die Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) einzudämmen.
2
Die angegriffenen Vorschriften regelten bußgeldbewehrt einzelne Aspekte der Betriebsuntersagungen (800 qm-Regelung, Maskenpflicht für Kunden) und der allgemeinen Ausgangsbeschränkungen sowie die Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr.
3
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 6. Oktober 2022 (20 N 20.794 – juris = BayVBl 2023, 224, GVBl 2023 S. 32) festgestellt, dass § 2 Abs. 4 und 5 2. BayIfSMV in der vom 20. bis einschließlich 28. April 2020 geltenden Fassung wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unwirksam waren.
II.
4
1. Der Antragsteller rügt mit seiner am 29. April 2020 erhobenen Popularklage, die angegriffenen Vorschriften verletzten Grundrechte der Bayerischen Verfassung. So verstießen die Privilegierung bestimmter großflächiger Einzelhandelsbetriebe gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und das Willkürverbot (Art. 118 Abs. 1 BV), die Anordnung einer Maskenpflicht gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) und die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen ohne weitere Ausnahme für Familienmitglieder und Verwandte gegen das Familiengrundrecht (Art. 124 Abs. 1 BV).
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2. Die Bayerische Staatskanzlei hält die Popularklage sowohl für unzulässig als auch für unbegründet.
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Der Bayerische Landtag hat sich am Verfahren nicht beteiligt.
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3. Der Antragsteller hatte seine Popularklage mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden, den er nach einem Hinweis auf das Außerkrafttreten der angegriffenen Vorschriften wieder zurücknahm.
III.
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Die Popularklage, die sich ausschließlich gegen nicht mehr geltendes Recht richtet, ist insgesamt unzulässig geworden, weil es inzwischen mangels objektiven Feststellungsinteresses an einem zulässigen Antragsgegenstand fehlt. Ob der Antrag gegen jede einzelne Vorschrift in zulässiger Weise erhoben worden ist, kann dahinstehen.
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1. Bei den angegriffenen Corona-Schutzmaßnahmen handelt es sich um Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts, deren Verfassungswidrigkeit jedermann durch Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (Popularklage) geltend machen kann (Art. 98 Satz 4 BV und Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Dem steht nicht entgegen, dass sie auf einer bundesrechtlichen Ermächtigung beruhten. Denn der bayerische Normgeber, der aufgrund einer bundesrechtlichen Ermächtigung tätig wird, setzt Landesrecht und bleibt in den Bereichen, in denen das Bundesrecht ihm Entscheidungsfreiheit belässt, an die Bayerische Verfassung gebunden (vgl. VerfGH vom 27.9.2023 BayVBl 2024, 78 Rn. 34 zur 4. BayIfSMV). Die angegriffenen Verordnungsregelungen sind jedoch kein zulässiger Prüfungsgegenstand im Popularklageverfahren mehr.
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Der Verfassungsgerichtshof hat bei der Prüfung, ob eine Rechtsvorschrift verfassungswidrig ist, seiner Beurteilung grundsätzlich den Rechtszustand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Außer Kraft getretene Rechtsvorschriften unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur dann, wenn noch ein objektives Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. Der Verfassungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein solches Interesse insbesondere dann bestehen kann, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Rechtsnorm noch rechtliche Wirkungen entfalten kann, weil sie für künftige (z. B. gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant ist (vgl. VerfGH vom 30.8.2017 VerfGHE 70, 162 Rn. 75; vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 157 Rn. 18; vom 7.12.2021 VerfGHE 74, 265 Rn. 41; vom 14.6.2023 - Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; BayVBl 2024, 78 Rn. 36, jeweils m. w. N.; Müller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 98 Satz 4 Rn. 14; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 23). Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 36; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vom 28.1.2025 – Vf. 2-VII-19 – juris Rn. 9).
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Denn die Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV, die an die Antragsberechtigung geringe Anforderungen stellt (Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG: „jedermann“) und keiner Fristbindung unterliegt, dient nicht in erster Linie dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen, der unter Umständen auch bei überholten Grundrechtseingriffen nachträglichen – subjektiven – gerichtlichen Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren beanspruchen kann (vgl. BVerfG vom 3.3.2004 BVerfGE 110, 77/85 ff.; zur nachträglichen gerichtlichen Klärung in einem Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO vgl. BVerwG vom 22.11.2022 NVwZ 2023, 1000 Rn. 12 ff.). Die verfassungsgerichtliche Popularklage ist vielmehr – anders als die Verfassungsbeschwerde nach Art. 120 BV zum Schutz der eigenen Grundrechte – ein objektives Verfahren (vgl. VerfGHE 74, 265 Rn. 42; VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 54 und 58; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 98 Rn. 8). Der Verfassungsgerichtshof soll im Popularklageverfahren über die Geltung der angegriffenen Norm entscheiden, nicht über konkrete Anwendungsfälle. Daher ist die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht in dem Sinn zu verstehen, dass jede mögliche noch andauernde Rechtswirkung zum Nachteil Einzelner automatisch ein objektives Interesse an der Kontrolle von außer Kraft getretenem Recht im Rahmen einer Popularklage begründet. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Grundrechte als Institution betroffen sind, etwa weil es um eine Vielzahl nicht abgeschlossener Fälle und nicht nur um einzelne Verfahren geht, in denen die Betroffenen auf Individualrechtsschutz zu verweisen sind (vgl. VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 58; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vgl. auch VerfGH vom 13.3.2025 – Vf. 5-VIII-18 u. a. – juris Rn. 71 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung).
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2. Danach ist die Popularklage insgesamt unzulässig. Es besteht kein objektives Interesse an einer nachträglichen verfassungsgerichtlichen Kontrolle der außer Kraft getretenen Corona-Schutzmaßnahmen.
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a) Soweit sich die Popularklage gegen § 2 Abs. 5 Nr. 1 2. BayIfSMV richtet, steht bereits aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Oktober 2022 (siehe oben unter I.) allgemein verbindlich fest (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2, Satz 3 i. V. m. § 183 VwGO), dass die angegriffene Vorschrift von Anfang an unwirksam war und zu keinem Zeitpunkt Rechtswirkungen entfalten konnte. Daher scheidet hier ein objektives Feststellungsinteresse, wie in aller Regel in solchen Fällen, aus (vgl. VerfGHE 72, 157 Rn. 15 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 98 Rn. 23 m. w. N.).
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b) Hinsichtlich der übrigen mit der Popularklage angegriffenen Regelungen ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass zu ihnen noch immer in relevantem Ausmaß behördliche oder gerichtliche Verfahren anhängig wären, für die es auf ihre Verfassungsmäßigkeit ankäme.
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Insbesondere können die in Streit stehenden Vorschriften – anders als bei der mit Entscheidung vom 27. September 2023 inhaltlich geprüften allgemeinen Maskenpflicht nach §§ 8 und 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 4. BayIfSMV (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 37) – keine Rechtswirkungen mehr für eine Vielzahl noch nicht rechtskräftig abgeschlossener Ordnungswidrigkeitenverfahren entfalten. Denn nach einem per Pressemitteilung veröffentlichten Beschluss der Bayerischen Staatsregierung vom 5. November 2024 werden Ordnungswidrigkeiten wegen Verstößen gegen Corona-Rechtsvorschriften nicht mehr weiterverfolgt. Vielmehr sollen bei den zuständigen Verfolgungsbehörden anhängige Verfahren eingestellt werden und die Staatsanwaltschaften bei den Gerichten die Einstellung dort noch anhängiger Verfahren anregen. Bei bereits rechtskräftigen Bußgeldbescheiden findet keine weitere Vollstreckung statt, noch ausstehende Geldbußen werden erlassen (https://www.bayern.de/bericht-aus-der-kabinettssitzung-vom-5-november-2024/). Damit sind insoweit noch andauernde Rechtswirkungen für künftige Behörden- oder Gerichtsentscheidungen auszuschließen. Etwaige Folgewirkungen einer verfassungsgerichtlichen Nichtigerklärung auf vollständig abgeschlossene Ordnungswidrigkeitenverfahren müssen in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben (vgl. näher VerfGH vom 1.7.2025 – Vf. 19-VII-20 – juris Rn. 25). Dass die angegriffenen Vorschriften möglicherweise den Gegenstand einer noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen fachgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. Art. 4 Satz 1 AGVwGO bilden, begründet bereits wegen der unterschiedlichen Prüfungsmaßstäbe kein objektives Interesse an einer Entscheidung im Popularklageverfahren nach Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 VfGHG (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 37).
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c) Für – sonstige – andauernde rechtliche Wirkungen nach dem Außerkrafttreten oder ein objektives Interesse aus anderen Gründen ist nichts ersichtlich. Das gilt umso mehr, als die beanstandeten Corona-Schutzmaßnahmen auf einer bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage beruhten und deshalb nur einer eingeschränkten Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen (vgl. VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 45 ff., 69).
17
Ein fortbestehendes Feststellungsinteresse kann auch nicht mit der allgemeinen Erwägung begründet werden, im Fall einer erneuten Pandemie müsse wiederum mit vergleichbaren Beschränkungen auf infektionsschutzrechtlicher Grundlage gerechnet werden. Wie die im Verlauf der Corona-Pandemie zu beobachtende Dynamik des Infektionsgeschehens zeigt, die in wiederholten Präzisierungen der bundesgesetzlichen Vorgaben und in zahlreichen Neufassungen der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen ihren Niederschlag gefunden hat, ließe sich das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Grundrechtsbeschränkungen, die in einem länger zurückliegenden Zeitraum gegolten haben, nicht auf mögliche künftige Pandemielagen übertragen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Gefährlichkeit und zu den Verbreitungswegen eines bestimmten Virus wie auch zur Wirksamkeit von Schutzvorkehrungen fortlaufend weiterentwickelt, sodass die Prüfung der Vertretbarkeit und Verhältnismäßigkeit konkreter Vorsorgemaßnahmen immer nur mit Blick auf die jeweils aktuellen Umstände erfolgen kann.
IV.
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Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).