Inhalt

SG Nürnberg, Beschluss v. 18.08.2025 – S 22 SO 117/25 ER
Titel:

Erhöhter Stundensatz, Zielvereinbarung, Einstweilige Anordnung, Einstweiliger Rechtsschutz, Antragsgegner, Persönliches Budget, wichtiger Grund zur Kündigung, Anordnungsanspruch, Außerordentliche Kündigung, Anordnungsgrund, Fristlose Kündigung, Antragstellers, Entscheidung in der Hauptsache, Sozialgerichtliches Eilverfahren, Leistungen der Eingliederungshilfe, Kostenentscheidung, Wichtiger Grund, Überwiegende Wahrscheinlichkeit, Rechtsmittelbelehrung, Außergerichtliche Kosten

Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz, Persönliches Budget, Stundensatzanpassung, Zielvereinbarung, Kündigungsandrohung, Sozialgericht, Hilfebedarf
Fundstelle:
BeckRS 2025, 31012

Tenor

I. Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vom 10.07.2025 wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
1
Mit dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begehrt die Antragstellerin vom Antragsgegner im Zusammenhang mit Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch (SGB IX) eine Erhöhung des Persönlichen Budgets durch Anhebung des bei der Berechnung angenommenen Stundensatzes der Assistenzkraft von 73,50 EUR auf 77,50 EUR.
2
Die Antragstellerin erhält seit Dezember 2019 Assistenz zur sozialen Teilhabe als Leistung der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX in Form eines Persönlichen Budgets vom Antragsgegner. Die Leistungen werden laut Bescheid vom 29.11.2024 dem Grunde nach ohne zeitliche Befristung gewährt. Die Höhe richtet sich nach der jeweils geltenden Zielvereinbarung in Verbindung mit dem Gesamtplan. Die aktuellste, von der Antragstellerin unterschriebene Zielvereinbarung vom 14.11.2024 gilt für den Zeitraum 01.12.2024 bis 30.11.2026. Danach einhält die Antragstellerin, wie im Gesamtplan festgestellt, für die Assistenz durch eine sozialpädagogische Fachkraft in Einzelbesetzung ganzjährig ein Persönliches Budget im Umfang von drei Stunden pro Woche zu einem Stundensatz von 73,50 EUR bzw. 955,50 EUR pro Monat. Darin enthalten sind nicht nur die direkten Leistungen (beispielsweise für Gespräche der Assistenzkraft mit der Antragstellerin, persönliche Assistenzleistungen und den direkten Kontakt mit Bezugspersonen), sondern auch die indirekten Leistungen (beispielsweise Wegezeiten, Vor- und Nachbereitung, Verwaltungskosten). Die Zielvereinbarung kann nach der in Nr. 8 enthaltenen Regelung von beiden Seiten nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes mit sofortiger Wirkung gekündigt werden. Ein solcher ist nach der Vereinbarung bei der Antragstellerin insbesondere dann anzunehmen, wenn er in ihrer persönlichen Lebenssituation liegt.
3
Die Antragstellerin beauftragte mit Vertrag vom 18.03.2020 Frau S2, Dipl.-Sozialpädagogin (FH) als Leistungsanbieterin mit der Erbringung von Assistenzleistungen zu einem Stundensatz von 67,00 EUR. Nach der vertraglichen Vereinbarung sind damit der gesamte Personal- und Sachkosteneinsatz sowie alle indirekten Leistungen, Organisationsleistungen und Wegezeiten abgegolten. Die Vergütung werde jeweils nach den Maßgaben des Bezirks angepasst. Der befristete Vertrag beginne und ende entsprechend der Bewilligung des Antragsgegners und verlängere sich bei Weiterbewilligung automatisch. Eine außerordentliche Beendigung vor Ablauf der vereinbarten Gültigkeit des Bescheides bedürfe einer Frist von vier Wochen. Die fristlose Kündigung sei aber beiderseits nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes möglich. Ein solcher liege insbesondere vor, wenn ein Vertragspartner wiederholt oder nachhaltig gegen die vertraglichen Vereinbarungen verstoße oder wenn aufgrund von persönlichen Bedrohungen, Beleidigungen, unüberbrückbaren Differenzen oder eines kompletten Verlustes des Vertrauensverhältnisses einem der Vertragspartner ein Festhalten an dem Vertrag nicht zuzumuten sei.
4
Mit Schreiben vom 12.06.2025 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Erhöhung des Persönlichen Budgets durch Berücksichtigung eines Stundensatzes von 77,50 EUR anstatt 73,50 EUR. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Leistungsanbieterin die Zusammenarbeit beende. Diese habe sie darüber informiert, dass der Antragsgegner die Stundensätze für sozialpädagogische Fachkräfte ab dem 01.06.2025 auf 77,50 EUR angehoben habe. Wenn die Antragstellerin den Stundensatz nicht zeitnah erhöhe, dann werde die Leistungsanbieterin die Zusammenarbeit beenden, sobald sie Anfragen von Budgetnehmern erhalte, die den aktuellen (höheren) Stundensatz erhielten.
5
Der Antragsgegner teilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 18.06.2025, das keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, unter Verweis auf die für beide Seiten verbindliche Zielvereinbarung mit, dass eine Erhöhung des Stundesatzes während des Geltungszeitraumes nicht möglich sei und erst ab der Weitergewährung (ab 01.12.2026) in Betracht komme. Der tatsächliche laufende Bedarf sei derzeit gedeckt. Hiergegen legte die Antragstellerin nach Aktenlage bislang keinen Widerspruch ein.
6
Am 10.07.2025 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Nürnberg die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz beantragt. Sie begehrt eine einstweilige Anordnung dahingehend, dass das persönliche Budget durch Annahme eines Stundensatzes von 77,50 EUR von 955,50 EUR auf rund 1.007,00 EUR pro Monat erhöht werde. Sie befürchte, dass ihre Leistungsanbieterin die Zusammenarbeit beenden könnte, wenn sie Aufträge zu dem neuen (höheren) Stundensatz erhalte. Sie sei dadurch benachteiligt.
7
Die Antragstellerin beantragt,
„dass der Stundensatz ab 1.6.25 von 73,50 EUR auf 77,50 EUR abgeändert wird und das pers. Budget entsprechend erhöht wird, unabhängig von der Laufdauer meines Bescheides (ab sofort).“
8
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
9
Zur Begründung verweist der Antragsgegner im Wesentlichen darauf, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Erhöhung des Stundensatzes habe. Der in der Zielvereinbarung vom 14.11.2024 geregelte Stundensatz sei für beide Seiten bindend. Der Hilfebedarf könne auch mit den zur Verfügung stehenden Leistungen gedeckt werden. Die interne Anpassung des Stundensatzes zum 01.06.2025 für sozialpädagogische Leistungen im Rahmen des Persönlichen Budgets stelle keinen Grund dar, eine geltende Zielvereinbarung abzuändern. Der höhere Stundensatz komme nach interner Verwaltungsentscheidung lediglich bei Neufällen und Weitergewährungen ab 01.06.2025 zum Tragen. Bestehende Zielvereinbarungen behielten ihre Gültigkeit für den jeweils festgelegten Geltungszeitraum. Des Weiteren sei der in der Zielvereinbarung festgelegte Stundensatz ausreichend, um den festgestellten Hilfebedarf an sozialpädagogischer Unterstützung zu decken.
10
Das Gericht hat die Antragstellerin darauf hingewiesen, dass der Eilantag voraussichtlich ohne Erfolg bleibe, und eine Rücknahme angeregt. Darauf hat die Antragstellerin bis Fristablauf nicht reagiert.
11
Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten zur Ergänzung des Sachverhaltes auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte des Ag verwiesen.
II.
12
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.
13
Er ist zulässig, aber nicht begründet. Weder ein Anordnungsgrund, noch ein Anordnungsanspruch sind glaubhaft gemacht.
14
Unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips (vgl. nur BSG vom 06.04.2011, B 4 AS 119/10 R) war das Begehren der rechtlich nicht vertretenen Antragstellerin nach § 123 SGG so auszulegen, dass sie eine einstweilige Anordnung dahingehend begehrt, dass das bewilligte Persönliche Budget vorläufig und rückwirkend seit dem 01.06.2025 und bis zum Ende der Laufzeit der Zielvereinbarung am 30.11.2026 dadurch erhöht wird, dass der Berechnung ein höherer Stundensatz (77,50 EUR anstatt 73,50 EUR) zugrunde gelegt wird.
15
Der Antrag ist zulässig. Das Begehren, mit dem eine Erweiterung der bisherigen Rechtsposition angestrebt wird, ist als Antrag auf einstweilige Anordnung in Form der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft.
16
Er ist jedoch nicht begründet.
17
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes mit Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog. Regelungsanordnung) treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist der Fall, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat oder deren Vorliegen nach den im sozialgerichtlichen Eilverfahren von Amts wegen gebotenen Sachverhaltsermittlungen für das Gericht glaubhaft ist (§ 86b Abs. 2 Satz 4, § 103 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung). Das Gericht kann auf die Prüfung des Anordnungsanspruches verzichten, wenn es bereits das Vorliegen eines Anordnungsgrundes verneint (BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, 2 BvR 745/88).
18
Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn das Gericht es für überwiegend wahrscheinlich hält, dass im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine wesentliche, nicht nur unerhebliche Verletzung der Rechte des Antragstellers oder der Antragstellerin droht, die durch die (spätere) Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, 2 BvR 745/88). Dabei ist zu berücksichtigen, ob der Antragsteller oder die Antragstellerin die Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache mit eigenen Mitteln – oder mit zumutbarer Hilfe Dritter – überbrücken kann (BVerfG, Beschluss vom 27.07.2016, 1 BvR 1241/16).
19
Ein Anordnungsanspruch ist anzunehmen, wenn in der Hauptsache der geltend gemachte Anspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durchgesetzt werden kann (vgl. zum Ganzen Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 4. Auflage 2016, Rn. 357 f., 347, 337 f. m.w.N.). Das Gericht muss die Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht abschließend klären, sondern kann seine Prognoseentscheidung auf eine rein summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache stützen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014, 1 BvR 1453/12). Die summarische Prüfung muss in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aber umso intensiver erfolgen, je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.10.1988, 2 BvR 745/88). Gewisse Zweifel des Gerichtes können durchaus bestehen bleiben (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 12. Auflage 2017, § 86b Rn. 41 und 16b, § 128 Rn. 3d). Schwierige und umstrittene Rechtsfragen müssen im Eilverfahren in aller Regel keiner grundsätzlichen Klärung zugeführt werden (BVerfG, Beschluss vom 14.02.2017, 1 BvR 2507/16).
20
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen liegt schon kein Anordnungsgrund vor. Es handelt sich bei dem Schreiben des Antragsgegners vom 18.06.2025 zwar um einen (Ablehnungs-)Bescheid. Bestandskraft im Sinne von § 77 SGG ist jedoch noch nicht eingetreten, weil eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht enthalten war und die Jahresfrist noch nicht abgelaufen ist (§ 66 Abs. 2 SGG). Eine vorläufige Regelung durch das Gericht ist aber dennoch nicht erforderlich. Zum einen hat die Leistungsanbieterin den Vertrag nach Aktenlage bis jetzt nicht gekündigt. Die bloße Androhung einer Kündigung für den Fall, dass sie einen anderweitigen Auftrag zu einem besseren Stundesatz erhalte, stellt keine hinreichend konkrete Gefahr dar, der mit einer einstweiligen Anordnung zu begegnen wäre. Die Leistungsanbieterin kann den Vertrag ohnehin nicht so einfach kündigen: In Ziffer 6 des Vertrags ist vereinbart, dass die Zusammenarbeit zu einem Stundensatz von 67,00 EUR an den im Bewilligungsbescheid festgelegten Zeitraum angelehnt wird (insbesondere auch an Art und Umfang des persönlichen Budgets). Eine einseitige Lösung vom Vertrag ist nur durch fristlose Kündigung möglich, für die ein wichtiger Grund vorliegen muss. Mit den in Ziffer 7 des Vertrages beschriebenen Umständen, die einen wichtigen Grund darstellen könnten, ist die vorliegende Situation, dass die Antragsgegnerin verwaltungsintern die anzuerkennenden Stundensätze erhöht hat, nicht vergleichbar. Die Assistenzkraft kann sich nach den vertraglichen Regelungen zur Kündigung insbesondere nicht deshalb vom Vertrag lösen, weil sie während der Vertragslaufzeit einen höheren Stundensatz verlangen will. Dementsprechend ist der Hilfebedarf der Antragstellerin weiterhin gesichert. Sie kann (und muss) bis zum Ende des Bewilligungsabschnitts auf Vertragserfüllung durch Ihre Assistenzkraft bestehen oder gegen eine etwaig erfolgende Kündigung zivil-/arbeitsrechtlich vorgehen. Eine wesentliche, nicht nur unerhebliche Verletzung ihrer Rechte droht aktuell nicht.
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Auch ein Anordnungsanspruch ist nicht ersichtlich. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe nach §§ 102, 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX i.V.m. § 78 SGB IX werden auf Wunsch der Antragstellerin in Form des Persönlichen Budgets nach § 105 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 29 SGB IX erbracht. Art, Inhalt, Umfang und Dauer richten sich nach den Umständen des Einzelfalles (§ 104 SGB IX) und werden im Gesamtplanverfahren nach §§ 117 ff. SGB IX festgelegt. Die Umsetzung des Persönlichen Budgets erfolgt auf Grund der zwischen den Beteiligten gemäß § 29 Abs. 4 Satz 3 SGB IX geschlossenen Zielvereinbarung vom 14.11.2024, die im Zeitraum 01.12.2024 bis 30.11.2026 Gültigkeit hat. Diese ist sowohl für den Antragsgegner, als auch für die Antragstellerin bindend. Es gilt somit der schriftlich vereinbarte, von der Antragstellerin anerkannte Stundensatz von 73,50 EUR, der sämtliche direkten und indirekten Kosten beinhaltet. Die tatsächlichen Kosten belaufen sich nach dem vorgelegten Vertrag mit der Leistungserbringerin auf 67,00 EUR. Damit ist der aktuelle Bedarf ganz offensichtlich gedeckt. Die Frage, ob das Begehren der Antragstellerin einen wichtigen Grund zur Kündigung der Zielvereinbarung darstellt, kann dahinstehen. Die Antragstellerin hat die Zielvereinbarung nämlich nicht gekündigt. Das Gericht weist aber vorsorglich darauf hin, dass ein wichtiger Grund voraussichtlich nicht vorliegen dürfte. Die Leistungsanbieterin ist an den im Vertrag festgelegten Stundensatz von 67,00 EUR gebunden, der alle direkten und indirekten Kosten beinhaltet. Solange dieser noch fortbesteht und sich die Antragstellerin gegen eine möglicherweise in der Zukunft erklärte außerordentliche Kündigung der Leistungserbringerin nicht gerichtlich gewehrt hat, dürfte auch kein wichtiger Grund zur Kündigung der Zielvereinbarung mit dem Antragsgegner gegeben sein. Das Verlangen eines höheren Stundensatzes stellt im Übrigen keinen Grund dar, der in der persönlichen Lebenssituation der Leistungsberechtigten liegt.
22
Im Ergebnis hatte der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes keinen Erfolg.
23
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
24
Gegen diesen Beschluss findet gemäß § 172 Abs. 1 SGG die Beschwerde an das Bayerische Landessozialgericht nach Maßgabe der beigefügten Rechtsmittelbelehrung statt.