Inhalt

VG München, Urteil v. 25.09.2025 – M 27 K 24.7616
Titel:

Serbische Staatsangehörige, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Sprachnachweis, Unbeachtlichkeit

Normenketten:
AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
AufenthG § 2 Abs. 9
AufenthG § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2
Schlagworte:
Serbische Staatsangehörige, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Sprachnachweis, Unbeachtlichkeit
Fundstelle:
BeckRS 2025, 30026

Tenor

I.Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 20.11.2024 verpflichtet, der Klägerin die am 13.6.2022 beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. 
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine am … … … in Serbien geborene serbische Staatsangehörige, begehrt mit ihrer Klage die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2
Der Ehemann der Klägerin, ein am … … … geborener serbischer Staatsangehöriger, hält sich ebenfalls im Bundesgebiet auf. Er ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Ferner leben zwei am … … … und am … … … geborene Söhne der Klägerin mit Aufenthaltserlaubnissen im Bundesgebiet. Eine am … … … geborene Tochter lebt im Kosovo.
3
Am … … 2020 stellte der Ehemann der zu diesem Zeitpunkt noch in Serbien lebenden Klägerin für diese bei der Beklagten einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug und legte unter anderem ein fachärztliches Attest der Ambulanz in … vom … … 2020 mit den Diagnosen „… … … … … … … vor. Die Klägerin habe keine Schule besucht und sei unfähig, sich zu konzentrieren. Sie sei nicht im Stande, den von ihr begonnenen Deutschkurs fortzusetzen.
4
Mit Schreiben vom 19. November 2020 teilte die Beklagte dem Ehemann der Klägerin mit, dass das Antragsverfahren eingestellt werde, da der Antrag von der Klägerin nicht unterschrieben worden sei und nach Aktenlage keine Aussicht auf Erfolg bestehe. Die Klägerin halte sich derzeit nicht im Bundesgebiet auf. Zuständig sei daher die Deutsche Botschaft des legalen Wohnsitzes der Klägerin. Voraussetzung für die Erteilung eines Visums sei im Übrigen der Nachweis einfacher Sprachkenntnisse. Die Klägerin habe kein A1-Sprachzertifikat vorgelegt. Besondere Umstände, die es der Klägerin unmöglich oder unzumutbar machen würden, vor der Einreise Bemühungen zu Erwerb deutscher Sprachkenntnisse zu unternehmen, seien nicht erkennbar.
5
Am 20. Juli 2021 beantragte die Klägerin daraufhin bei der Deutschen Botschaft in … die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung zu ihrem im Bundesgebiet lebenden Ehemann. Die Beklagte nahm am 31. August 2021 gegenüber dem Bundesverwaltungsamt Stellung und vertrat die Auffassung, dass das fachärztliche Attest vom … … 2020 nicht ausreichend sei, um eine langfristige seelische Krankheit bzw. Behinderung nachzuweisen, die den Nachweis einfacher Sprachkenntnisse verhindere. Analphabetismus sei nicht als Behinderung zu betrachten. Zudem gebe das vorgelegte Attest nicht an, wann die Krankheit festgestellt worden sei, seit wann die Klägerin in Behandlung sei und ob Maßnahmen ergriffen worden seien. Ebensowenig sei nachgewiesen, wie die festgestellten Krankheiten das Erlernen der Sprache konkret und somit dem Nachweis der Sprachkenntnisse hindere. Es wurde darum gebeten, von der Klägerin entsprechende Unterlagen anzufordern und diese der Beklagten mit einer eigenen Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG als Spezialregelung zu § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG als erfüllt angesehen würden, zu übersenden.
6
Der Klägerbevollmächtigte zeigte mit Schriftsatz vom 27. September 2021 die Vertretung der Klägerin an und übersandte ein weiteres fachärztliches Attest der Ambulanz in … vom … … 2021 mit den Diagnosen „… … … … … … … … … … … … …“. Nach ärztlicher Meinung sei die Klägerin nicht im Stande, eine Fremdsprache zu lernen. Sie habe keine Schule besucht und habe Schwierigkeiten, Wörter und Sätze zu verbinden.
7
Die Beklagte sprach sich in einer weiteren, am 23. Dezember 2021 gegenüber dem Bundesverwaltungsamt abgegebenen Stellungnahme im Hinblick auf die bislang vorgelegten Unterlagen für eine Ablehnung des Antrags aus. Es wurde darum gebeten, Nachweise zur Schulbildung der Klägerin sowie ein Gutachten zu den Ausführungen der Beklagten aus der Stellungnahme vom … … 2021 anzufordern.
8
Mit Schriftsatz vom 31. Januar 2022 legte der Klägerbevollmächtigte bei der Deutschen Botschaft in Belgrad eine Bescheinigung der von der Klägerin besuchten Grundschule vor, wonach sie die erste Klasse nicht abgeschlossen und den Schulbesuch auch nicht fortgesetzt hat, sowie einen weiteren undatierten neurologisch-fachärztlichen Bericht mit den … … – … … … … … … … … … oder geringe Bildung“. Es bestünden Schwierigkeiten beim Erlernen einer Fremdsprache, die Klägerin habe im Kosovo einen Deutschkurs besucht und eine Prüfung abgelegt, aber das A1-Niveau nicht bestanden.
9
Die Deutsche Botschaft in … teilte der Beklagten daraufhin mit E-Mail vom 2. Februar 2022 zur Frage der Zumutbarkeit des Spracherwerbs vor Einreise in das Bundesgebiet mit, dass laut Visahandbuch Bemühungen zum Spracherwerb möglich, aber unter anderem dann unzumutbar sein könnten, wenn z.B. durch geringe Schulbildung/Analphabetismus bedingte Lernschwierigkeiten bestünden, die nicht in zumutbarer Weise innerhalb eines Jahres überwunden bzw. ausgeglichen werden könnten. Im Falle der Klägerin werde der Besuch eines einjährigen Alphabetisierungskurses für unzumutbar gehalten, da ein solcher Kurs lediglich in Belgrad angeboten werde, die Klägerin jedoch 380 km entfernt in … wohne.
10
Die von der Deutschen Botschaft hinzugezogene Kooperationsärztin gab am … … 2022 eine mit „Ärztliche Meinung“ überschriebene Stellungnahme zu der Frage der Eignung der Klägerin zum Erlernen der deutschen Sprache ab. Es wurden die Diagnosen „… … … … … (* … … …*)“ sowie „… (schreib- und leseunkundig oder niedriges Niveau der Schreib- und Lesefähigkeit)“ gestellt. Die Stellungnahme kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin objektiv nicht in der Lage sei, die Standard-Deutschprüfung auf dem Niveau A1, welche sich aus schriftlichem und mündlichem Teil zusammensetze, zu bestehen.
11
Auf Aufforderung legte der Klägerbevollmächtigte der Beklagten in der Folge eine Bestätigung der Volkshochschule … vom … … 2022 über die Anmeldung der Klägerin zum Integrationskurs mit Alphabetisierung (Kursstart 23. Mai 2022) vor.
12
Daraufhin erteilte die Beklagte am 5. Mai 2022 die Zustimmung zur Visumerteilung. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG seien erfüllt. Die Aufenthaltserlaubnis könne erst nach Vorlage eines A1-Zertifikats erteilt werden. Die Klägerin erhielt am 16. Mai 2022 ein bis zum 13. August 2022 gültiges Visum zum Familiennachzug mit der Auflage „Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erst nach Vorlage eines A1-Sprachzertifikates“ und reiste in der Folge in das Bundesgebiet ein.
13
Am 13. Juni 2022 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und erhielt am 20. Juli 2022 eine fortlaufend verlängerte Fiktionsbescheinigung.
14
Mit E-Mail vom 14. Juli 2022 teilte die … … der Beklagten mit, dass der Start des Alphabetisierungskurses auf den 19. September 2022 habe verschoben werden müsse. Aufgrund der Vielzahl der Anmeldungen sei eine Aufnahme der Klägerin ohne Zulassung durch das Bundesamt nicht möglich.
15
Der Klägerbevollmächtigte bat mit Schreiben vom 19. September 2022 um eine entsprechende behördliche Verpflichtung. Die Klägerin könne ab November 2022 an einem Alphabetisierungskurs bei … … …*) teilnehmen, eine Anmeldung mit einer Fiktionsbescheinigung könne nach Auskunft der … jedoch nicht erfolgen. Nach Mitteilung der … sei dies nur mit behördlicher Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs möglich. Die … bestätigte dies der Beklagten gegenüber telefonisch.
16
Daraufhin informierte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben an ihren Bevollmächtigten vom 5. Oktober 2022, dass eine Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs nicht in Betracht komme und verwies die Klägerin auf die Möglichkeit des Besuchs eines privaten Sprachkurses auf eigene Kosten.
17
Der Klägerbevollmächtigte legte daraufhin eine Bestätigung der … … vom … … 2022 über eine Anmeldung der Klägerin zum Intensivdeutschkurs A1/B1 (9. Januar bis 13. Oktober 2023) vor. Ausweislich einer weiteren Bestätigung der … … vom … … 2023 war die Klägerin bei einer Unterrichtseinheit anwesend. Ein Lernerfolg sei mangels Alphabetisierung nicht möglich gewesen, es werde die Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs empfohlen.
18
Die Beklagte forderte den Klägerbevollmächtigten daraufhin mit Schreiben vom 27. Februar 2023 auf, schnellstmöglich eine neue Anmeldung zu einem zielführenden Alphabetisierungskurs vorzulegen.
19
Mit Schreiben vom 26. Oktober 2023 legte der Klägerbevollmächtigte daraufhin ein ärztliches Attest des Diplom-Psychologen und Facharztes für Allgemeinmedizin E. vom … … 2023 vor, worin festgestellt wird, dass für die Klägerin das Erlernen neuer Dinge aufgrund der Minderung ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, eines depressiven Syndroms und der unzureichenden Alphabetisierung ein unlösbares Problem sei. Eine erfolgreiche Durchführung eines Deutsch-/Integrationskurses sei daher nicht zu erwarten.
20
Die Beklagte forderte die Klägerin mit Schreiben an ihren Bevollmächtigten vom 8. November 2023 zur Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung auf. Das vorgelegte Attest sei als Nachweis für eine Ausnahme nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG nicht geeignet.
21
Der Klägerbevollmächtigte übersandte daraufhin eine ärztlich-psychologische gutachtliche Äußerung des E. vom … … 2024 mit den Diagnosen „F06.7, F32.2, F41.9, F79.9, Z55.0“. Die Diagnose F79.9 (Intelligenzminderung) erschwere die Überwindung ihres Analphabetismus. Die bei der Klägerin bestehende Mischung aus Angst/Depression mache jeden Versuch frustran, einen Lernerfolg zu erzielen. Die Klägerin sei nicht in der Lage, einen Deutschkurs auch mit Aussicht auf nur geringen Erfolg zu besuchen. Eine Lernfähigkeit sei nicht mehr gegeben. Außer einer massiven gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin sei kein Erfolg zu erwarten.
22
Mit Schreiben vom 20. August 2024 hörte die Beklagte den Klägerbevollmächtigten zur geplanten Antragsablehnung an. Daraufhin legte der Klägerbevollmächtigte für die Klägerin ein weiteres ärztliches Attest des E. vom … … 2024 vor mit den Diagnosen „F43.0 (G) Panikstörung, F06.7 (G) kognitive Störung, F 32.2 (G) Depression, F41.9 (G) Angststörung, F43.2 (G) Anpassungsstörung, F79.9 (G) Intelligenzminderung, R52.2 (G) Chronische Schmerzen“. Die genannten Diagnosen seien vor allem in der Zeit von April bis Juli 2024 aufgrund von ausführlichen anamnestischen und explorativen Interviews, extra angeforderten Vorbefunden, ärztlichen Untersuchungen sowie verschiedenen einschlägigen Test- und Prüfverfahren erstellt worden. Die vorhandene kognitive Störung führe zu einer Angst, die das Erlernen neuer Inhalte massiv behindere. Die erfolgreiche Teilnahme an einem Deutschkurs sei gegenwärtig bis auf weiteres nicht zu erwarten.
23
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 20. November 2024 lehnte die Beklagte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 13. Juni 2022 ab (Nr. 1), forderte die Klägerin auf, das Bundesgebiet bis zum 22. Dezember 2024 zu verlassen (Nr. 2), drohte für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Serbien oder in einen anderen Staat, in den die Klägerin einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, an (Nr. 3) und erließ ein auf ein Jahr befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nr. 4). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG erfüllt seien; die Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis stütze sich auf das Nichtvorliegen der Voraussetzung der §§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 2 Abs. 9 AufenthG. Die Klägerin habe bislang keine A1-Sprachkenntnisse nachgewiesen. Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG seien nicht erfüllt. Analphabetismus sei keine Krankheit oder Behinderung im Sinne dieser Vorschrift. Die mit einer Erstalphabetisierung im Erwachsenenalter allgemein verbundenen Schwierigkeiten reichten für eine Ausnahme nach dieser Vorschrift generell nicht aus. Eine behauptete Lernschwäche müsse mit Sachverständigengutachten belegt werden. Die vorgelegten Atteste genügten nicht den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG.
24
Im Nachgang teilte die Beklagte dem Klägerbevollmächtigten unter Bezugnahme auf ein zuvor geführtes Telefonat mit Schreiben vom 12. Dezember 2024 mit, dass die … … zwar keinen Alphabetisierungskurs anbiete. Einen regulären Sprachkurs könne die Klägerin als Selbstzahlerin dort jedoch grundsätzlich besuchen. Dies gelte allerdings nicht für einen Integrationskurs. Hier bestehe praktisch keine Möglichkeit, als Selbstzahler einen Platz zu erhalten. Aus Sicht der Beklagten sei es der Klägerin jedoch zumutbar, einen Sprachkurs z.B. in München zu besuchen.
25
Gegen den Bescheid vom 20. November 2024 hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 18. Dezember 2024 Klage erheben und der Sache nach beantragen lassen,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20. November 2024 zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
27
Ferner wurde der Antrag gestellt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (M 27 S 24.7618). Zur Begründung wurde vorgebracht, dass sich die Klägerin sowohl bei der … … als auch bei der … zu einem Alphabetisierungskurs angemeldet habe. Eine Teilnahme sei mangels behördlicher Verpflichtung zu einem Integrationskurs jeweils nicht möglich gewesen. Der Ehemann der Klägerin habe in der Folgezeit alle Sprachschulen und Institute in … hinsichtlich der Teilnahme an einem Alphabetisierungskurs für Selbstzahler angefragt. Keine der Einrichtungen habe die Klägerin in einem der Kurse aufgenommen, da nur Personen mit Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs aufgenommen würden. Es bestehe daher keine Möglichkeit, in … an einem Alphabetisierungskurs teilzunehmen. Die Teilnahme an einem Kurs in München sei für die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht zumutbar, zumal ihr Ehemann in Vollzeit arbeite und sie bei der Anfahrt nicht unterstützen könne. Die Klägerin nehme daher derzeit an einem Online-Sprachkurs teil. Die Alphabetisierung und der anschließende A1-Sprachkurs sollten nach vorläufiger Einschätzung sechs bis zehn Monate dauern. Anschließend werde die Klägerin den erforderlichen Sprachtest ablegen. Die entsprechende Bestätigung der Sprachschule werde nachgereicht. Dem Klageschriftsatz lag die ärztliche Stellungnahme der Kooperationsärztin vom 14. Februar 2022 bei.
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Die Beklagte legte am 22. Mai 2025 die Behördenakten vor und beantragt mit Schriftsatz vom selben Tag,
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die Klage abzuweisen.
30
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beklagte an ihrer Rechtsauffassung festhalte, wonach bei der Klägerin ein Absehen vom Erfordernis des Sprachnachweises nicht möglich sei. Es sei zwischen einem Integrationskurs und dem hier geforderten A1-Sprachkurs zu unterscheiden. Die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs erhalte die Klägerin erst mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Hierzu würden jedoch die erforderlichen Sprachkenntnisse fehlen. Die Begründung, einen Kurs in München nicht besuchen zu können, sei als Schutzbehauptung zu werten. Das Visum sei der Klägerin erteilt worden, da es ihr in ihrem Heimatland unzumutbar gewesen sei, einen Sprachkurs zu besuchen. Es sei ihr jedoch von Anfang an bewusst gewesen, dass auf die A1-Sprachkenntnisse nicht verzichtet werde, da dies ausdrücklich als Auflage im Visum festgelegt worden sei.
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Mit Schriftsatz vom 4. August 2025 legte der Klägerbevollmächtigte ein weiteres ärztliches Attest des E. vom … … 2025 vor, in welchem unter anderem festgestellt wird, dass die Klägerin unter anderem an einer Angst- und Panikstörung, teils schweren depressiven Episoden mit Suizidgedanken, Intelligenzminderung, Gedächtnisstörung, Sozialphobie, Legasthenie, Fibromyalgie mit chronischen Schmerzen sowie chronischen Polyarthritis leide. Sie absolviere nun seit vier Monaten einen Online-Deutschkurs, ihr Handicap, eine deutliche Merkfähigkeitsstörung, habe bislang einen merkbaren Erfolg jedoch verhindert. Dennoch werde sie es weiterhin versuchen.
32
In der mündlichen Verhandlung am 25. September 2025 legte der Bevollmächtigte der Klägerin ein Schreiben von … – Online-Deutschkurs vom 1. September 2025 vor, in welchem die Anmeldung der Klägerin zu einem Intensiv-Online-Deutschkurs (A1- Niveau) für den Zeitraum 5. Juli bis 5. Oktober 2025 (Abendkurs) bestätigt wird.
33
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren und im Verfahren M 27 S 24.7618 sowie die vorgelegte Behördenakte und die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am 25. September 2025 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
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Die zulässige Klage ist begründet.
35
Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 20. November 2024 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
36
1. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 AufenthG sind erfüllt.
37
a) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nach § 30 AufenthG setzt unter anderem voraus, dass der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Einfache deutsche Sprachkenntnisse entsprechen gemäß § 2 Abs. 9 AufenthG dem Niveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedstaaten Nr. R (98) 6 vom 17. März 1998 zum Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen – GER). Dies beinhaltet als unterstes Sprachniveau folgende sprachliche Fähigkeiten: „Kann vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden, die auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen. Kann sich und andere vorstellen und anderen Leuten Fragen zu ihrer Person stellen – z.B. wo sie wohnen, was für Leute sie kennen oder was für Dinge sie haben – und kann auf Fragen dieser Art Antwort geben. Kann sich auf einfache Art verständigen, wenn die Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind zu helfen.“ Umfasst sind nach der Definition des Sprachniveaus auch Grundkenntnisse der deutschen Schriftsprache (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – juris Rn. 14).
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Einfache deutsche Sprachkenntnisse im Sinne von § 2 Abs. 9 AufenthG hat die Klägerin unstreitig nicht nachgewiesen, sodass die Voraussetzung des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vorliegend nicht erfüllt ist.
39
b) Zugunsten der Klägerin greift jedoch der Ausnahmetatbestand des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG. Nach dieser Bestimmung ist § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG unbeachtlich, wenn der Ehegatte wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen.
40
aa) Die Ausnahmeregelung des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG erfordert stets eine Betrachtung des Einzelfalls. Das Abstellen auf die fehlende Nachweismöglichkeit bedeutet, dass nicht nur Umstände zu berücksichtigen sind, welche das sprachliche und schriftliche Ausdrucksvermögen unmittelbar beeinträchtigen. Auch eine Krankheit oder Behinderung, die den Antragsteller daran hindert, die geforderten Deutschkenntnisse in zumutbarer Weise zu erlernen (zB Art der Behinderung schließt den Besuch von Sprachkursen und eine eigenständige Aneignung der Deutschkenntnis aus), kann einen Ausnahmefall darstellen (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 15. Aufl. 2025, § 30 Nr. 30.1.4.2.2).
41
Maßgeblich für die Beurteilung ist nicht, ob der Ehegatte in der Lage ist, ein entsprechendes Sprachzertifikat vorzulegen. Denn der Nachweis einfacher deutscher Sprachkenntnisse im Sinne von § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG verlangt nicht zwingend die Vorlage eines entsprechenden Zertifikats einer akkreditierten Stelle. Die Vorlage eines solchen Zertifikats ist keine notwendige, sondern nur eine hinreichende Voraussetzung für den Nachweis der entsprechenden Sprachkompetenz (BVerwG, U.v. 29.11.2012 – 10 C 11.12 – BVerwGE 145, 172-184 – juris Rn. 27). Der Ausnahmetatbestand des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG ist daher nicht schon dann gegeben, wenn der Ehegatte wegen einer Erkrankung oder Behinderung kein solches Zertifikat vorlegen kann (VG Berlin, B.v. 5.6.2025 – 37 L 106/25 V – juris Rn. 16).
42
bb) Unter Heranziehung dieses Maßstabs ist zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 VwGO) anzunehmen, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankungen nicht in der Lage ist, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen.
43
Die Klägerin ist Analphabetin. Zwar reichen die mit einer Erstalphabetisierung im Erwachsenenalter allgemein verbundenen Schwierigkeiten für eine Ausnahme nach dieser Vorschrift nicht aus, da Analphabetismus nicht als Krankheit oder Behinderung im Sinne von § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG zu betrachten ist (BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – juris Rn. 17; SächsOVG, B.v. 29.6.2021 – 3 A 182/21 – juris Rn. 15).
44
Im speziellen Fall der Klägerin bestehen nach Auffassung der Kammer jedoch nicht lediglich allgemeine mit einer Erstalphabetisierung im Erwachsenenalter verbundene Schwierigkeiten. Die Klägerin leidet nach den vorgelegten ärztlichen Attesten und Stellungnahmen zudem unter diversen Erkrankungen. In den fachärztlichen Attesten der Ambulanz in … vom … … 2020 und vom … … 2021 wird bei der Klägerin unter anderem eine kognitive Störung diagnostiziert. Nach den ärztlichen Attesten vom … … 2023, vom … … 2024, vom … … 2024 und vom … … 2025 besteht bei der Klägerin zudem eine Intelligenzminderung. Die von der Deutschen Botschaft in Belgrad hinzugezogene Kooperationsärztin kommt in ihrer als „Ärztliche Meinung“ bezeichneten Stellungnahme vom … … 2022 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin objektiv nicht in der Lage ist, die Standard-Deutschprüfung auf dem Niveau A1 zu bestehen. Auch die ärztlichen Atteste vom … … 2023, vom … … 2024 und vom … … 2024 enthalten die Feststellung, dass eine erfolgreiche Durchführung eines Deutsch- bzw. Integrationskurses nicht zu erwarten ist.
45
Anknüpfungspunkt für die Prüfung ist nach obigen Maßstäben zwar nicht die Fähigkeit der Klägerin, ein Sprachzertifikat vorzulegen. Unter Zugrundelegung der in den vorliegenden ärztlichen Attesten getroffenen Feststellungen ist bei der Klägerin jedoch von einer mangelnden Spracherwerbsfähigkeit als solcher auszugehen. So wird bereits in dem fachärztlichen Attest der Ambulanz in … vom … … 2021 darauf hingewiesen, dass die Klägerin nicht in der Lage ist, eine Fremdsprache zu lernen. Diese Einschätzung wird bestätigt durch die in der ärztlich-psychologischen gutachtlichen Äußerung vom … … 2024 getroffene Feststellung, dass eine Lernfähigkeit der Klägerin nicht mehr gegeben ist. Das ärztliche Attest vom … … 2024 kommt zu dem Ergebnis, dass das Erlernen neuer Inhalte bei der Klägerin massiv behindert sei.
46
Die Frage, ob die vorgelegten ärztlichen Atteste die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG erfüllen, bedarf keiner Entscheidung. § 60a Abs. 2c AufenthG findet entgegen der Auffassung der Beklagten hinsichtlich der Anforderungen, die an in diesem Zusammenhang vorgelegte ärztliche Unterlagen zu stellen sind, keine Anwendung. Diese Vorschrift gilt angesichts ihres eindeutigen Wortlauts sowie der systematischen Stellung allein für Abschiebungen. Ebenso scheidet eine analoge Anwendung der Vorschrift aus (vgl. zu § 36 Abs. 2 AufenthG BayVGH, B.v. 2.2.2024 – 19 CE 23.769 – juris Rn. 10). Gleichwohl kann der Nachweis einer psychischen Erkrankung nur anhand qualifizierter Belege gelingen. Scheidet die Anwendung des § 60a Abs. 2c AufenthG aus, ergeben sich die konkreten Anforderungen an den Nachweis gesundheitlicher Gründe aus dem allgemeinen Prozessrecht. Zu berücksichtigen ist der Maßstab, den das Bundesverwaltungsgericht aus der prozessualen Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO hergeleitet hat (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7). Die von dem Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Mindestanforderungen an die vorzulegenden Atteste, die zur Substantiierung eines Sachverständigenbeweisantrags, der das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Posttraumatischen Belastungsstörung zum Gegenstand hat, gelten auch mit Blick auf weitere psychische Erkrankungen (OVG NW, B.v. 10.11.2020 – 18 B 322/20 – juris Rn. 24). Zum Nachweis einer psychischen Erkrankung bedarf es daher regelmäßig eines entsprechend qualifizierten fachärztlichen Attests (jeweils zu § 36 Abs. 2 AufenthG BayVGH, B.v. 2.2.2024 – 19 CE 23.769 – juris Rn. 11; OVG LSA, B.v. 12.6.2025 – 2 M 46/25 – juris Rn. 19).
47
Zwar enthalten die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Atteste auch Diagnosen zu psychischen Erkrankungen. Unter Zugrundelegung insbesondere des ärztlichen Attests vom … … 2024 erschwert jedoch gerade die bei der Klägerin diagnostizierte Intelligenzminderung die Überwindung ihres Analphabetismus. Die oben dargestellten Grundsätze hat das Bundesverwaltungsgericht angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes der Posttraumatischen Belastungsstörung sowie seiner vielfältigen Symptome entwickelt (BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21/12 – juris Rn. 7) . Diese Überlegung trifft auf die bei der Klägerin diagnostizierte Intelligenzminderung nicht zu. Die zu dieser Diagnosestellung vorgelegten ärztlichen Atteste vom … … 2024, … … 2024 und … … 2025 sind daher nicht an den in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Anforderungen zu messen.
48
Zusammenfassend geht aus den vorgelegten ärztlichen Attesten und Stellungnahmen für das Gericht nachvollziehbar hervor, dass aufgrund der eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten der Klägerin bereits ihre Alphabetisierung erheblich erschwert ist, weshalb vorliegend nicht mehr von lediglich allgemeinen mit einer Erstalphabetisierung im Erwachsenenalter verbundenen Schwierigkeiten auszugehen ist. Jedenfalls ist im vorliegenden besonders gelagerten Einzelfall die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts angesichts ihrer kognitiven Fähigkeiten nicht in der Lage, den Erwerb der erforderlichen einfachen Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Für diese Einschätzung spricht auch der Umstand, dass die Klägerin seit mehreren Monaten einen Sprachkurs mit Alphabetisierung besucht, der offensichtlich jedoch nicht zum Erwerb von Sprachkenntnissen auf dem Niveau A1 geführt hat. Diese Einschätzung wird schließlich auch durch den seitens des Gerichts gewonnenen Eindruck von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist im Falle der Klägerin für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis daher nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG unbeachtlich.
49
Von dem Vorliegen der übrigen besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 30 AufenthG sowie der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG ist auszugehen.
50
2. Die der Klägerin in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids gesetzte Ausreisefrist, die in Nr. 3 des Bescheids ausgesprochene Abschiebungsandrohung sowie das in Nr. 4 des Bescheids für den Fall einer Abschiebung verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot sind daher ebenfalls aufzuheben.
51
II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.