Titel:
Rechtswahl bei einem Verkehrshaftpflichtversicherungsvertrag
Normenketten:
EGVVG Art. 7 Abs. 1, Abs. 2, Art. 10 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 aF
EGVVG Art. 9, Art. 10
ZPO § 68
VVG § 110
Leitsätze:
1. Bezieht sich ein Haftpflichtversicherungsvertrag auf die betriebliche Haftung des Versicherungsnehmers als Spediteur, Frachtführer oder Lagerhalter aus entgeltlichen Verkehrsverträgen, so ist das Risiko in dem Mitgliedstaat belegen, in dem sich das Unternehmen, die Betriebsstätte oder die entsprechende Einrichtung befindet, auf die sich der Vertrag bezieht. (Rn. 9 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für solche Versicherungsverträge über ein Großrisiko besteht eine erweiterte Möglichkeit der freien Rechtswahl. (Rn. 12 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist im Haftpflichtprozess der Versicherer dem Haftpflichtschuldner oder seinem Prozessstandschafter als Nebenintervenient beigetreten, und hat das Haftpflichtgericht seiner Entscheidung die Geltung deutschen Rechts zugrunde gelegt, so kann der Versicherer im Deckungsprozess nicht mehr mit der Behauptung gehört werden, für das Haftpflichtverhältnis gelte vereinbarungsgemäß italienisches Recht. (Rn. 15 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkehrsvertrag, Verkehrshaftpflichtversicherungsvertrag, Rechtswahl, italienisches Recht, Transportversicherung, Betriebsstätte, Belegenheit des Risikos, Interventionswirkung, Nebenintervenient, Bindungswirkung
Vorinstanzen:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 11.08.2025 – 25 U 1959/24 e
LG München I, Berichtigungsbeschluss vom 17.06.2024 – 10 HK O 24843/14
LG München I, Endurteil vom 29.04.2024 – 10 HK O 24843/14
Fundstelle:
BeckRS 2025, 29489
Tenor
Der Senat, der weiterhin beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weist ergänzend zu seinem Hinweisbeschluss vom 11. August 2025 (VersR 2025, 1323 = ZInsO 2025, 2148; fortan: erster Hinweis) auf Folgendes hin:
Entscheidungsgründe
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1. Der Versicherungsvertrag zwischen der Schuldnerin und der Beklagten unterliegt – wie auch bisher im Ergebnis angenommen – dem deutschen Recht. Zwar will die Beklagte behaupten, sie habe mit der Schuldnerin die Geltung italienischen Rechts vereinbart. Eine solche Rechtswahl wäre auch – auf anderer rechtlicher Grundlage als im ersten Hinweis angenommen – zulässig gewesen. Jedoch kann die Beklagte mit der Behauptung einer vom deutschen Recht abweichenden Rechtswahl gemäß § 68 ZPO nicht gehört werden.
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a) Die Beklagte macht in ihrer Gegenerklärung vom 30. September 2025 (unter 3, „3“, 4 und 6) geltend, sie habe schon im ersten Rechtszug unter Beweisantritt eine Vereinbarung italienischen Rechts unabhängig von der schriftlichen Fixierung in der Anlage B 1 behauptet.
3
Bei den Verhandlungen über den Abschluss eines Versicherungsvertrags (Spediteurhaftungsversicherung) zwischen der Schuldnerin und der Beklagten sei Herr C… auf Seiten der Schuldnerin aufgetreten und habe in Abstimmung mit deren Geschäftsführerin Frau H… gehandelt; Frau R… sei für die Versicherungsmaklerin A… GmbH/S.r.l, Via …, … (Italien) aufgetreten, die als Vertreterin der Beklagten gehandelt habe. Auf Vorschlag von Frau R…, mit dem Herr C… ausdrücklich einverstanden gewesen sei, hätten beide sich im August 2009 ausdrücklich auf die Geltung italienischen Rechts für den Versicherungsvertrag geeinigt. Die Beklagte „stellt … klar“, „unabhängig von den eingereichten Anlagen“ sei die Geltung italienischen Rechts vereinbart gewesen (vgl. Gegenerklärung, S. 6 unter 6).
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Der Senat muss derzeit nicht entscheiden, ob die Behauptung einer Rechtswahlvereinbarung „unabhängig von den eingereichten Anlagen“ ein im Berufungsverfahren neues und damit nur unter den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassendes Verteidigungsmittel ist. Hierauf kommt es nicht an, weil die Behauptung aus anderen Gründen prozessual unbeachtlich ist.
5
b) Allerdings wäre eine Wahl italienischen Rechts für den Versicherungsvertrag gemäß Art. 10 EGVVG in der vom 1. August 2008 bis 16. Dezember 2009 geltenden Fassung des Gesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. I S. 2631) zulässig gewesen.
6
aa) Der Senat hat bei seinen Ausführungen zur Rechtswahl im ersten Hinweis (S. 5-8 unter II 3 a bb) irrtümlich die Ausnahmevorschrift des Art. 37 Satz 1 Nr. 4 EGBGB in der vom 30. Juni 2000 bis 16. Dezember 2009 geltenden Fassung des Gesetzes vom 27. Juni 2000 (BGBl. I S. 897) nicht in den Blick genommen. Nach dieser Vorschrift sind die im ersten Hinweis herangezogenen Vorschriften der Art. 27, 28 EGBGB aF hier nicht anzuwenden.
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(1) Gemäß Art. 37 Satz 1 Nr. 4 EGBGB aF sind die Art. 27-29, 30-36 EGBGB aF nicht anzuwenden auf Versicherungsverträge, die in dem Geltungsbereich des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum belegene Risiken decken, mit Ausnahme von Rückversicherungsverträgen, wobei für die Entscheidung, ob ein Risiko in diesem Gebiet belegen ist, deutsches Recht anzuwenden ist.
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(2) Der Versicherungsvertrag deckt ein in dem Geltungsbereich des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft belegenes Risiko.
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Die Frage, wo das Risiko belegen ist, entscheidet Art. 7 Abs. 2 EGVVG in der vom 18. Dezember 2007 bis 16. Dezember 2009 geltenden Fassung des Gesetzes vom 10. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2833). Hier wurde weder ein Risiko mit Bezug auf unbewegliche Sachen versichert noch ein solches mit Bezug auf Reise- und Ferienrisiken (vgl. Art. 7 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3 EGVVG aF). Ebenso wenig geht es um eine Versicherung von Risiken mit Bezug auf einzutragende und kennzeichenpflichtige Fahrzeuge gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 2 EGVVG aF. Der Vertrag mit der Beklagten bezieht sich auf die betriebliche Haftung des Versicherungsnehmers unabhängig von einzelnen Fahrzeugen; versichert ist gemäß Nr. 1 des Vertrags grundsätzlich die Haftung des Versicherungsnehmers als Spediteur, Frachtführer oder Lagerhalter aus entgeltlichen Verkehrsverträgen.
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Deshalb ist gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 4 lit. b EGVVG aF das Risiko in dem Mitgliedstaat belegen, in dem sich das Unternehmen, die Betriebsstätte oder die entsprechende Einrichtung befindet, auf die sich der Vertrag bezieht. Dies ist Deutschland als der Mitgliedstaat der Europäischen Union, in dem sich die Niederlassung der Schuldnerin in Kiefersfelden befindet, auf die sich der Vertrag bezieht (vgl. auch erster Hinweis, S. 8 unter II 3 a bb (3) aE).
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bb) Daher richtet sich die Anknüpfung des Versicherungsvertrags nach Art. 7 bis 15 EGVVG in der vom 1. August 2008 bis 16. Dezember 2009 geltenden Fassung (vgl. Thume/Schwampe/Thume/Hartenstein, Transportversicherung, 3. Aufl. 2024, 10. Rn. 9; vgl. auch HK-BGB/Staudinger, 5. Aufl. 2007, Art. 37 EGBGB Rn. 5; Dörner, IPRax 2005, 26 unter III). Gemäß Art. 7 Abs. 1 EGVVG aF sind auf Versicherungsverträge mit Ausnahme der Rückversicherung, wenn sie in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum belegene Risiken decken, die Vorschriften der Art. 7 ff EGVVG aF anzuwenden.
12
cc) Art. 9 EGVVG in der Fassung des Gesetzes vom 21. Juli 1994 (BGBl. I S. 1630) erlaubt nur eine eingeschränkte Rechtswahl (vgl. Prölss/Martin/Armbrüster, VVG, 28. Aufl. 2010, Art. 9 EGVVG Rn. 1, 4; Schimikowski, Versicherungsvertragsrecht, 7. Aufl. 2024, Rn. 619) unter hier nicht vorliegenden Voraussetzungen. Möglich war die Wahl italienischen Rechts aber gemäß Art. 10 EGVVG in der Fassung des Gesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. I S. 2631).
13
Die erweiterte Rechtswahlmöglichkeit gemäß Art. 10 Abs. 1 EGVVG aF erlaubt die freie Rechtswahl für einen Versicherungsvertrag über ein Großrisiko. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EGVVG aF liegt ein solcher unter anderem dann vor, wenn sich der Vertrag bezieht auf Risiken der Transport- und Haftpflichtversicherungen, die von Anlage Teil A Nr. 7 oder Nr. 10 lit. b VAG in der vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung erfasst sind. Diese Vorschriften nennen sämtliche Schäden an transportierten Gütern, unabhängig von dem jeweils verwendeten Transportmittel, bzw. Haftpflicht aus Landtransporten (mit eigenem Antrieb).
14
Der Versicherungsvertrag zwischen der Schuldnerin und der Beklagten deckt Schäden an transportierten Gütern und Haftpflicht aus Landtransporten. Um solche geht es im Haftpflichtprozess und im vorliegenden Rechtsstreit gerade. Ein Versicherungsvertrag über ein Großrisiko im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EGVVG aF liegt daher vor.
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c) Die Beklagte ist aber durch die Interventionswirkung des § 68 ZPO gehindert, im vorliegenden Rechtsstreit die Anwendbarkeit eines anderen als des deutschen Rechts auf den Versicherungsvertrag mit der Schuldnerin geltend zu machen. Gemäß § 68 Halbsatz 1 ZPO wird der Nebenintervenient im Verhältnis zu der Hauptpartei mit der Behauptung nicht gehört, dass der Rechtsstreit, wie er dem Richter vorgelegen habe, unrichtig entschieden sei.
16
aa) Die Beklagte war im Haftpflichtprozess Nebenintervenientin des von ihr unterstützten, dort zweitbeklagten Insolvenzverwalters über das Vermögen der Schuldnerin (vgl. Anlage K 1, S. 2 oben; vgl. auch die Revisionsentscheidung des BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 – I ZR 151/21, BGHZ 234, 334 Rn. 2). Im vorliegenden Rechtsstreit ist das Verhältnis der Beklagten zu der von ihr im Haftpflichtprozess unterstützten Hauptpartei gegenständlich, weil der dort unterstützte Insolvenzverwalter Prozessstandschafter der Schuldnerin war und hier die Klägerin als einziehungsberechtigte Pfandgläubigerin anstelle der Schuldnerin gegen die Beklagte klagt (vgl. BGH, Urteil vom 19. November 2020 – I ZR 110/19, NJW 2021, 1242 Rn. 37 mwN; Stein/Jacoby, ZPO, 24. Aufl., § 68 Rn. 24).
17
bb) Mit der Behauptung, die Schuldnerin und die Beklagte als Vertragsparteien des Versicherungsvertrags hätten (wirksam) die Geltung italienischen Rechts vereinbart, würde die Beklagte behaupten, der Haftpflichtprozess sei unrichtig entschieden worden. Eine wirksame Vereinbarung italienischen Rechts (s.o. unter b) stünde der Anwendung der zum deutschen Versicherungsvertragsrecht gehörenden Vorschrift des § 110 VVG entgegen. Dies stünde im Widerspruch zur Entscheidung im Haftpflichtprozess, die auch darauf beruht, dass § 110 VVG auf den Versicherungsvertrag zwischen der Schuldnerin und der hiesigen Beklagten anwendbar ist.
18
Im Haftpflichtprozess hat das Landgericht entschieden, dass der dortige Beklagte zu 2 passiv legitimiert war, und sich hierfür auf § 110 VVG gestützt (vgl. LG Berlin, Urteil vom 17. Oktober 2014 – 100 O 84/13, vorgelegt als Anlage K 1, dort S. 6 vorletzter Absatz). Ebenso hat das Berufungsgericht im Haftpflichtprozess entschieden: Nachdem über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet sei, könne die Klägerin gemäß § 110 VVG wegen des ihr zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch der Schuldnerin gegenüber deren Versicherung (der Beklagten) verlangen; dieser Freistellungsanspruch könne durch unmittelbare Klage auf Zahlung gegen den Insolvenzverwalter, beschränkt auf die Leistung aus der Versicherungsforderung, geltend gemacht werden (KG, Urteil vom 16. September 2021 – 2 U 153/14, RdTW 2022, 365 Rn. 68). Der Bundesgerichtshof hat dies im Revisionsverfahren des Haftpflichtprozesses bestätigt: Die Klägerin könne von dem dortigen Beklagten zu 2 gemäß § 110 VVG wegen des auf sie übergegangenen Anspruchs ihrer Versicherungsnehmerin (der Hauptauftraggeberin) gegen die Schuldnerin abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch der Schuldnerin gegen die dortige Streithelferin (und hiesige Beklagte) verlangen; diesen Freistellungsanspruch könne die Klägerin aus gemäß § 86 VVG übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmerin durch unmittelbare Klage auf Zahlung gegen den dort zweitbeklagten Insolvenzverwalter, beschränkt auf die Leistung aus der Versicherungsforderung, geltend machen (BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 – I ZR 151/21, BGHZ 234, 334 Rn. 58).
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2. Entsprechendes gilt für den rechtlichen Gesichtspunkt des Dissenses, den die Gegenerklärung vom 30. September 2025 erneut anspricht (dort S. 6 unter 6). Im Haftpflichtprozess wurde festgestellt, dass die hiesige Beklagte der Transportversicherer der Schuldnerin ist (vgl. Anlage K 1, S. 5 Abs. 1; vgl. auch die Revisionsentscheidung des BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 – I ZR 151/21, BGHZ 234, 334 Rn. 2). Gemäß § 68 ZPO ist die Beklagte hieran gebunden, nachdem sie im Haftpflichtprozess als Streithelferin dem Insolvenzverwalter der Schuldnerin beigetreten war. Sie kann nicht mit der Behauptung gehört werden, der Versicherungsvertrag bestehe nicht.
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3. In der Gegenerklärung vom 30. September 2025 (unter 1) hat die Beklagte der teilweisen Erledigungserklärung der Klägerin (vgl. erster Hinweis, S. 13 f unter II 6) widersprochen. Der Widerspruch ist nicht innerhalb der Notfrist gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 ZPO erfolgt. Diese nicht verlängerbare Frist (vgl. § 224 Abs. 2 Halbsatz 2 ZPO) ist nicht verlängert worden durch die mit Verfügung vom 26. August 2025 erfolgte Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Hinweisbeschluss vom 11. August 2025.
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4. Die übrigen Ausführungen in der Gegenerklärung geben keinen Anlass zu weiteren Hinweisen gemäß § 139 ZPO.
22
5. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
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6. Zu diesen Hinweisen besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen.