Inhalt

VGH München, Beschluss v. 21.10.2025 – 15 ZB 25.1520
Titel:

Einfügen eines Wohnhauses in die nähere Umgebung

Normenkette:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 3a S. 1 Nr. 1 lit. b
Leitsätze:
1. Maßstabsbildend iSd § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Reichweite der näheren Umgebung im Rahmen der überbaubaren Grundstücksfläche ist auf diejenigen Grundstücke beschränkt, die durch die gleiche Erschließungsstraße erschlossen sind und regelmäßig auch auf der gleichen Straßenseite liegen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Falle einer Erweiterung (§ 34 Abs. 3a S. 1 Nr. 1 lit. b BauGB) ist nicht allein auf die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen abzustellen, sondern auch darauf, dass die Erweiterung der vorhandenen Bausubstanz der Sache nach kein neues Bauvorhaben darstellen darf. Dies gilt auch, wenn beide Ziele – Erneuerung und Erweiterung – zusammentreffen. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Neubau eines Mehrfamilienhauses im Innenbereich, Maßgebende nähere Umgebung, Maß der baulichen Nutzung, überbaubare Grundstücksfläche, Abweichung im Einzelfall bei „erweiternder Erneuerung“., Baugenehmigung, Rahmen der näheren Umgebung, Erschließungsstraße, Straßenseite, Abweichung, erweiternde Erneuerung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 27.02.2025 – RO 7 K 22.2263
Fundstelle:
BeckRS 2025, 29140

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 90.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung zum Neubau eines Wohnhauses (9 Wohneinheiten) mit Tiefgarage. Das auf dem Baugrundstück vorhandene Wohnhaus soll zuvor vollständig abgebrochen werden.
2
Mit Bescheid vom 5. September 2022 lehnte die Beklagte die beantragte Baugenehmigung ab, weil sich das Vorhaben nicht in die nähere Umgebung einfüge. Die hiergegen erhobene Verpflichtungsklage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 27. Februar 2025 ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, das Bauvorhaben orientiere sich hinsichtlich der Grundfläche und der Höhe nicht an den in der Umgebung vorzufindenden Referenzobjekten. Darüber hinaus füge es sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die maßgebliche Umgebung ein. Die Überschreitung der maßgeblichen Umgebungsbebauung führe zu städtebaulichen Spannungen und die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Zulassung einer Abweichung vom Erfordernis des Einfügens in die nähere Umgebung im Einzelfall. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
3
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
5
Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin als Rechtsmittelführerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerin ergeben sich solche hier allerdings nicht.
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1. Das Vorbringen, das Verwaltungsgericht habe den Rahmen der näheren Umgebung zu eng gezogen, führt nicht zum Erfolg.
7
Die Klägerin ist der Ansicht, das Verwaltungsgericht verkenne, dass sich die Wirkung des Bestandsgebäudes nicht auf den von ihm gezogenen Bereich beschränke. Insbesondere riegele die vorhandene Bebauung die Sichtbeziehung zur Bebauung westlich der G. straße nicht ab, sondern binde diese ein.
8
Nach dem hier anzuwendenden § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Maßstabsbildend i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, B.v. 4.1.2022 – 4 B 35.21 – juris Rn. 6; BayVGH, U.v. 26.10.2021 – 15 B 19.2130 – juris Rn. 45). Dabei ist die nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann. Bei der bauplanungsrechtlichen Beurteilung der Art der baulichen Nutzung bzw. der Ermittlung des Gebietscharakters kann der maßgebliche prägende Umgebungsbereich weiter zu ziehen sei als etwa bei der eher kleinräumig ausgerichteten Beurteilung des Nutzungsmaßes oder der überbaubaren Grundstücksfläche. Entscheidend ist, wie weit die wechselseitigen Auswirkungen im Verhältnis von Vorhaben und Umgebung im jeweiligen Einzelfall reichen (vgl. BVerwG, B.v. 4.1.2022 – 4 B 35.21 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 19.8.2022 – 15 ZB 22.1400 – juris Rn. 11 m.w.N.).
9
Hiervon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen (UA S. 7), während das Zulassungsvorbringen diese Differenzierung vermissen lässt. Die Klägerin geht vielmehr insgesamt davon aus, dass sich die Wirkung nicht auf den vom Verwaltungsgericht gezogenen Bereich beschränke und setzt sich damit nicht ausreichend mit den Entscheidungsgründen des Verwaltungsgerichts auseinander.
10
Das Verwaltungsgericht kommt unter Berücksichtigung der in den Akten befindlichen Luftbilder, Straßenaufnahmen und des zugänglichen Kartenmaterials zu dem Ergebnis, dass für das Maß der baulichen Nutzung auf die der U. straße anliegende Bebauung sowie die östlich der G. straße anliegende Bebauung abzustellen ist (UA S. 8). Dem stellt das Zulassungsvorbringen lediglich die eigene, gegenteilige Auffassung der Klägerin gegenüber, ohne damit zugleich substantiierte Zweifel an den tatsächlichen Feststellungen oder rechtlichen Bewertungen des Verwaltungsgerichts aufzuzeigen. Insbesondere im Hinblick auf die überwiegend vorhandene Wohnbebauung ist gegen die Orientierung des Verwaltungsgerichts am Straßengeviert nichts zu erinnern (vgl. BayVGH, U.v. 10.7.1998 – 2 B 96.2819 – juris Rn. 25; B.v. 1.4.2025 – 2 CS 25.488 – juris Rn. 5). Entgegen dem Zulassungsvorbringen stellt das Verwaltungsgericht auch nicht allein auf eine (fehlende) Sichtbeziehung ab, sondern berücksichtigt die Entfernung sowie eine trennende Wirkung der G. straße. Hiermit setzt sich die Klägerin nicht auseinander.
11
Auf Basis einer wertenden Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – juris Rn. 20) ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass sich in der näheren Umgebung kein Referenzobjekt findet, das mit dem beantragten Vorhaben vergleichbar ist und sich das Vorhaben in Bezug auf die Grundfläche und die Höhe nicht an den in der Umgebung vorzufindenden Referenzobjekten orientiert (UA S. 10). Es setzt sich hierbei argumentativ mit den maßgeblichen Faktoren der Grundfläche, der Geschosszahl, der Höhe sowie dem Verhältnis zur Freifläche, insbesondere auch unter Bewertung des gewerblich genutzten Gebäudes nordwestlich des Baugrundstücks auseinander (UA S. 9 f.). Hiergegen ist ebenfalls nichts zu erinnern (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – juris Rn. 17). Dass das Zulassungsvorbringen dem maßgeblich eine andere Bereichsabgrenzung entgegenstellt und darauf verweist, dass sich die größere Höhe aus der Anpassung an moderne Bedürfnisse ergäbe, genügt nicht, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts darzulegen.
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2. Soweit die Klägerin geltend macht, das beantragte Vorhaben füge sich nach der überbaubaren Grundstücksfläche ein, bleibt der Antrag ebenfalls erfolglos. Hierauf kommt es im Rahmen der Prüfung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht mehr an.
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Stützt das Verwaltungsgericht seine Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Gründe, hier einerseits auf das Maß der baulichen Nutzung und andererseits auf die überbaubare Grundstücksfläche, kommt eine Zulassung der Berufung nur dann in Betracht, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2021 15 ZB 21.2277 – juris Rn. 6 m.w.N.). Dies ist hier – wie die obigen Ausführungen zeigen – nicht der Fall.
14
Unabhängig davon ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass für die überbaubare Grundstücksfläche nur die Bebauung westlich der U. straße maßgebend ist, weil die Reichweite der näheren Umgebung i.R.d. überbaubaren Grundstücksfläche auf diejenigen Grundstücke beschränkt ist, die durch die gleiche Erschließungsstraße erschlossen sind und regelmäßig auch auf der gleichen Straßenseite liegen (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 2 ZB 21.1560 – juris Rn. 6 m.w.N.). Das Verwaltungsgericht nimmt danach eine faktische hintere Baugrenze, eine faktische vordere Baulinie sowie ein Überschreiten der Bebauungstiefe an (UA S. 12), während die Klägerin auch hier wiederum den maßgebenden Bereich zu weit fasst. Das von ihr angeführte „Referenzobjekt“ mit gewerblicher Nutzung ist nach dem o.g. zutreffenden Rahmen des Verwaltungsgerichts gerade nicht relevant. Das Verwaltungsgericht legt in der Begründung seiner Entscheidung auch dar, dass sich bei den o.g. Kriterien nicht um ein Zufallsprodukt handelt, sondern um den Ausdruck einer verfestigten städtebaulichen Situation. Die bloße gegenteilige Auffassung der Klägerin genügt auch insoweit nicht den Darlegungsanforderungen.
15
3. Die Klägerin dringt auch mit ihrem Vorbringen, sie habe einen Anspruch auf Erteilung einer Abweichung im Einzelfall nicht durch.
16
Nach § 34 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 lit. b BauGB kann vom Erfordernis des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB im Einzelfall abgewichen werden, wenn die Abweichung der Erweiterung, Änderung oder Erneuerung eines zulässigerweise errichteten, Wohnzwecken dienenden Gebäudes dient. Die Klägerin ist der Ansicht, dass es sich bei ihrem Vorhaben um eine „erweiternde Erneuerung“ handle und diese Voraussetzungen vorlägen. Letzterem ist nicht zu folgen.
17
Das Verwaltungsgericht führt aus, dass die Erneuerung einer Anlage voraussetzt, dass eine bestehende Anlage beseitigt und eine im Wesentlichen gleiche Anlage wiedererrichtet wird. Bei einer grundsätzlich möglichen Kombination von Erneuerung und Erweiterung darf kein Baukörper entstehen, der sich nach Standort und Bauvolumen als anderer Baukörper darstellt, der nicht mehr dem Zweck des § 34 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 lit. b BauGB – Vorhaben im Zusammenhang mit vorhandenem, Wohnzwecken dienendem Gebäude – entspricht. Die Erweiterung unter Beseitigung der bisherigen baulichen Anlage mit anschließender Neuerrichtung darf nicht dazu führen, dass das genehmigte Bauwerk ein aliud zu dem früheren Gebäude darstellt (UA S. 14). Dies ist zutreffend (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2024 – 15 ZB 24.196 – juris Rn. 8).
18
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist im Falle einer Erweiterung nicht allein auf die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen abzustellen, sondern auch darauf, dass die Erweiterung der vorhandenen Bausubstanz der Sache nach kein neues Bauvorhaben darstellen darf (vgl. BVerwG, B.v. 16.3.1993 – 4 B 253.92 – juris Rn. 22). Dies gilt auch, wenn beide Ziele – Erneuerung und Erweiterung – zusammentreffen. Auch insofern darf eine „gedachte Erweiterungsfähigkeit“ – wie sie die Klägerin anführt – der Sache nach kein neues Bauvorhaben darstellen (vgl. BVerwG, B.v. 16.3.1993 a.a.O. Rn. 23). Nach der nachvollziehbaren Bewertung des Verwaltungsgerichts handelt es sich bei dem beantragten Bauvorhaben aber um ein grundlegend anderes Bauvorhaben. Es begründet dies auch nicht allein mit dem Standort und einer nahezu vollständigen Überbauung des Grundstücks, sondern stellt maßgebend auf die Grundfläche und eine völlig andere Kubatur ab. Letzterem setzt das Zulassungsvorbringen nichts entgegen. Angesichts dessen bedarf auch keiner Erörterung mehr, ob eine Abweichung hier, wie von der Klägerin zwar behauptet, aber nicht näher dargelegt, städtebaulich vertretbar ist oder aber – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – zu städtebaulichen Spannungen führt, weil das beantragte Vorhaben im Falle seiner Genehmigung aufgrund seiner Vorbildwirkung eine planungsrechtlich relevante Umstrukturierung des Gebiets einleiten würde.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
20
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.1.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2015 – 15 C 14.508 – juris Rn. 5). Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
21
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Entscheidung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).