Inhalt

LG Passau, Endurteil v. 21.10.2025 – 1 O 9/25
Titel:

Sittenwidrigkeit, Zustellung eines Versäumnisurteils, Ersatzzustellung, Abschalteinrichtung, Einwand des Rechtsmissbrauchs, Geschäftsräume, Restwert, Elektronisches Dokument, Geschäftsraum, Schädigungsvorsatz, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Fristwahrung, Rechtsprechung des BGH, Betriebsuntersagung, Einseitige Erledigungserklärung, Verbotsirrtum, OLG Koblenz, Klagepartei, OLG München, Zustellungsadressat

Schlagworte:
Versäumnisurteil, Einspruch, Zustellung, Fristwahrung, Rechtsmissbrauch, Geschäftsraum, Schadensersatz
Fundstelle:
BeckRS 2025, 28974

Tenor

1. Das Versäumnisurteil des Landgerichts Passau vom 25.02.2025, Az.: 1 O 9/25 wird auf - gehoben.
2. Die Klage wird abgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 16.440,56 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von 15.837,95 EUR (zunächst 16.440,56 EUR) Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Pkws Opel Astra 1.6 CDTi, 100 kW, karbonschwarz (FIN:...). Hilfsweise begehrt er die Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 2.820,00 EUR, mithin 15% des Kaufpreises.
2
Das streitgegenständliche Fahrzeug wurde von der O. GmbH als Rechtsvorgängerin der Beklagten hergestellt. In dem Pkw wurde ein Dieselmotor mit der Baumusterbezeichnung B16DTH opt. LVL mit 1,598 Liter Hubraum und einer Nennleistung von 100 kW bei 3500 Umdrehungen pro Minute verbaut. Das Fahrzeug verfügt über einen LNT (Lean NOx Trap) Speicherkatalysator.
3
Das Fahrzeug hält die gesetzlichen Grenzwerte der Abgasnorm Euro 6 unter den normierten Bedingungen des NEFZ (Neuer Europäischer Prüfzyklus) ein.
4
Am 04.03.2015 wurde das streitgegenständliche Fahrzeug erstmals zugelassen. Mit Darlehensvertrag vom 05.06.2015 nahm der Kläger ein Darlehen über 18.800,00 EUR zum Zwecke der Finanzierung des Erwerbs des streitgegenständlichen Fahrzeugs auf. Es fielen Finanzierungskosten in Höhe von 4.758,56 EUR an (Darlehensvertrag vom 05.06.2015, Anlage K4b). Am 20.05.2015 erwarb der Kläger das streitgegenständliche Fahrzeug von der Verkäuferin ... mit einem Kilometerstand von 217 km zu einem Preis von insgesamt 18.800,00 EUR brutto (Verbindliche Bestellung, Anlage K4a).
5
Das Fahrzeug hatte zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 30.09.2025 einen Kilometerstand von 123.345 km. Der Kläger hat den streitgegenständlichen Pkw seit Juni 2024 abbezahlt.
6
Im Zuge des „Abgasskandals“ ist es auch Jahre nach Aufdeckung der Manipulationen bei der V. AG noch zu keiner einzigen Fahrzeugstilllegung gekommen (Bl. 150 d.A.).
7
Der Kläger behauptet, das Fahrzeug verfüge über einen Umschaltmechanismus, der dazu führe, dass die Steuersoftware des Fahrzeuges zwischen einem Test- und einem Schutzmodus umschalte. Hierzu sei die Motorsteuerung so programmiert, dass der Testmodus immer im Leerlauf des Fahrzeugs aktiviert und nur so lange beibehalten werde, wie sich das Fahrzeug innerhalb der Bedingungen des Prüfzyklus befinde. Hierzu seien in der Motorsteuerung zur Erkennung des Prüfzyklus Bedingungen hinterlegt, bei deren Überschreiten in einen Schutzmodus gewechselt werde. Erst unter Bedingungen, die nur bei Betrieb des Fahrzeugs im Leerlauf vorherrschten, kehre das Fahrzeug in einen Modus, den der Kläger als Testmodus bezeichnet, zurück. Die Fahrzeugsoftware nehme diese Umschaltung anhand einer für die unterschiedlichen Gänge definierten Kombination aus der Motordrehzahl und der Menge des eingespritzten Diesels vor. Der Kläger trägt vor, dass die Fahrzeugsteuerung die Abgasrückführungsrate reduziere, wenn die Bedingungen des behaupteten Testmodus verlassen werden. Das Fahrzeug stoße dadurch in dem behaupteten Schutzmodus mehr Stickstoffdioxid aus als in dem behaupteten Testmodus, auch wenn das Fahrzeug gleich beansprucht werde.
8
Der Kläger ist der Ansicht, ein Organ der Rechtsvorgängerin der Beklagten hätte die Implementierung dieses behaupteten Umschaltmechanismus in der Fahrzeugsteuerungssoftware bewusst veranlasst. Er meint, ihm – dem Kläger – wäre es gelungen, das Fahrzeug günstiger zu erwerben, wenn er von den behaupteten Umständen bei Erwerb des Fahrzeuges Kenntnis gehabt hätte. Es drohten Maßnahmen bis hin zu einer Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung durch die Zulassungsbehörde.
9
Der Kläger ist der Ansicht, in dem streitgegenständlichen Fahrzeug kämen mehrere Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zum Einsatz. Für die Schadensentstehung sei der Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend. Ferner meint der Kläger, Leistungsort für die Rückgewähr des Fahrzeugs sei der Wohnsitz des Klägers. Er vertritt die Rechtsansicht, mit Klageerhebung sei die Beklagte in Annahmeverzug geraten.
10
Das Landgericht Passau hat am 25.02.2025 ohne mündliche Verhandlung gemäß § 331 Abs. 3 ZPO ein Versäumnisurteil gegen die Beklagte erlassen. Hiergegen hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 26.03.2025 Einspruch eingelegt. Die Klagepartei hat in der mündlichen Verhandlung vom 30.09.2025 den Rechtsstreit im Hinblick auf eine Summe von 602,61 € teilweise einseitig für erledigt erklärt.
11
Der Kläger beantragt zuletzt,
I. Das Versäumnisurteil des Landgerichts Passau vom 25.02.2025 wird aufrechterhalten mit der Maßgabe, dass statt der in Ziffer 1. des Versäumnisurteils zugesprochenen Summe von 16.440,56 € nunmehr eine Summe von 15.837,95 € zugesprochen wird.
II. Für den Fall, dass das Gericht eine Haftung der Beklagten aus § 826 BGB nicht begründet sieht, wird hilfsweise beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger einen in das Ermessen des Gerichts gestellten Schadensersatz, aber mindestens 2.820,00 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
12
Die Beklagte beantragt zuletzt,
Das Versäumnisurteil des Landgerichts Passau vom 25. Februar 2025 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
13
Die Beklagte behauptet, im Jahre 2017 habe die niederländische Typgenehmigungsbehörde einen Motor des streitgegenständlichen Typs im Rahmen der Marktüberwachung nachträglich eingehend untersucht und die Zulässigkeit des Emissionskontrollsystems bestätigt.
14
Ein Schädigungsvorsatz und eine Haftung wegen fahrlässigen Verhaltens werde bestritten. Im Zeitpunkt des behaupteten schädigenden Verhaltens könne sich die Beklagte auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen. Die Abgasrückführung sei an eine zunehmende bzw. niedrigere Umgebungstemperatur anzupassen. Sie sei bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug in einem Temperaturband von minus 11 Grad Celsius bis 34,5 Grad Celsius aktiv und schütze den Motor vor Versottung und Verrußung. Damit sei der sichere Fahrbetrieb gewährleistet. Die Abgasnachbehandlung erfolge ergänzend mit einem Speicherkatalysator (LNT) in einem Temperaturbereich von minus 11 Grad Celsius bis 33,5 Grad Celsius. Das AGR-System werden in Abhängigkeit der Motordrehzahl und des Umgebungsluftdrucks gesteuert. Dies funktioniere gleichermaßen auf dem Prüfstand als auch auf der Straße. Das Emissionskontrollsystem habe mit einer Prüfstands- oder Prüfzykluserkennung nichts gemein.
15
Auch aus der neueren Rechtsprechung des EUGH und des BGH ergeben sich kein Anspruch des Klägers. Die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des europäischen Typgenehmigungsrechts habe der Auffassung von Mitarbeitern des Kraftfahrtbundesamtes sowie der Industrie insgesamt entsprochen. Zur Zulässigkeit von Thermofenstern habe es damals keine abweichende Rechtsauffassung gegeben.
16
Das Fahrzeug sei im April 2022 mit einem durch das KBA (Kraftfahrtbundesamt) genehmigten Software-Update nachgerüstet worden und befinde sich damit auf dem aktuellen emissionstechnischen Stand. Außerdem seien die Ansprüche verjährt, die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung.
17
Dem Kläger sei auch kein Differenzschaden entstanden. Die Klagepartei müsse sich die gezogenen Nutzungen sowie den Restwert des Fahrzeuges anrechnen lassen, ein etwaiger Schaden sei dadurch aufgezehrt. Zudem fehle es auch deswegen an einem ersatzfähigen Schaden, da die Klagepartei das Fahrzeug uneingeschränkt nutzen könne.
18
Der Kläger erwidert hierauf, dass eine Reduzierung hinsichtlich etwaiger Nutzungen nicht in Betracht komme, da diese den Wert des Fahrzeugs vorliegend nicht aufzehrten. Ebenso wenig sei der Restwert bei der Berechnung des Differenzschadens zu berücksichtigen. Jedenfalls liege dieser unter dem Wert, der sich nach Abzug der Nutzungen vom Kaufpreis ergebe. Die zu erwartende Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeuges betrage mindestens 300.000 km. Das Gericht hat am 30.09.2025 mündlich verhandelt. Zur Ergänzung und Vervollständigung des Tatbestand:es wird auf die eingereichten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 30.09.2025 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

19
Die zulässige Klage erweist sich als unbegründet.
A.
20
Das Verfahren war in die Lage vor der Säumnis zurückzuversetzen, § 342 ZPO.
21
Der gemäß § 338 ZPO gegen das Versäumnisurteil statthafte Einspruch der Beklagten war fristgerecht (§ 339 Abs. 1 ZPO), weil das Versäumnisurteil des Landgerichts Passau vom 25.02.2025 zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung am 26.03.2025 nicht an die Beklagte zugestellt war.
22
Es ist die Aufgabe des erkennenden Gerichts, die Zustellung eines Versäumnisurteils und die Fristwahrung eines hiergegen eingelegten Einspruchs von Amts wegen zu prüfen (st.Rspr. BGH NJW-RR 2024, 608; NJW 2018, 2894; NJW-RR 2014, 1532).
23
Die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gemäß § 180 S. 1 ZPO lagen bei Ausführung der Zustellung am 28.02.2025 nicht vor.
24
Voraussetzung für eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ist die Unausführbarkeit einer Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 ZPO. Erforderlich ist ein vorheriger Versuch einer Zustellung durch persönliche Übergabe in den Geschäftsräumen (Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 ZPO § 180 Rn. 3). Bei den Räumlichkeiten ... handelt es sich um einen Geschäftsraum der Beklagten (1). Die Übergabe an eine dort beschäftigte Person wäre zum fraglichen Zeitpunkt ausführbar gewesen (2), § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Der Einwand des Rechtsmissbrauchs überzeugt nicht (3).
25
1. Die Räumlichkeiten ... stellen Geschäftsräume der Beklagten dar.
26
Voraussetzung für das Vorliegen eines Geschäftsraumes ist, dass dort Geschäfte, gleich welcher Art, regelmäßig ausgeübt werden (Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 ZPO § 178 Rn. 16). Der Begriff des Geschäftsraums ist weit auszulegen und umfasst auch solche Räume, die von einem externen Dienstleister zur Entgegennahme von Zustelllungen im erkennbaren Auftrag des Adressaten unterhalten werden (Bellardita DGVZ 2021, 212 [214]). Geschäftsraum kann bei einer Aktiengesellschaft insbesondere ein Raum sein, über den die Aktiengesellschaft insofern verfügt, als sie in ihm durch Angestellte einer anderen Gesellschaft Arbeiten ausführen lässt, die ihrer Geschäftstätigkeit dienen (BFH BeckRS 1983, 22006636, amtl. Leitsatz). Selbiges gilt auch bei einer GmbH.
27
Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck des § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO schließen eine Zustellungsorganisation durch externe Dienstleister aus. Vielmehr ist nach dem Wortlaut und der Ratio legis erforderlich, aber auch ausreichend, dass in den Räumlichkeiten Geschäfte des Zustellungsadressaten, gleich welcher Art, regelmäßig ausgeübt werden (Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 ZPO § 178 Rn. 16). Die Entgegennahme von Zustellungen ist dem Rechts- und Interessenkreis des Zustellungsadressaten zuzuordnen und stellt damit die Ausübung von Geschäften des Zustellungsadressaten dar. Eine gegenteilige Sichtweise, die, soweit ersichtlich, in Rechtsprechung und Literatur nicht vertreten wird, würde zudem die Realität einer arbeitsteilig organisierten Wirtschaft verkennen.
28
Nach diesen Maßstäben handelt es sich bei der unstreitig durch den externen Dienstleister ... betriebenen Poststelle der Beklagten um einen Geschäftsraum der Beklagten im Sinne des § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO.
29
2. Das Schriftstück hätte zum fraglichen Zustellungszeitpunkt an eine dort beschäftigte Person übergeben werden können, § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO.
30
Die Zustellung kann an einen Mitarbeiter eines Dritten erfolgen, der dort – für den Zusteller erkennbar – zur Entgegennahme von Post eingesetzt ist, während bei bloß zufällig anwesenden Beschäftigten (etwa Handwerker) eine Übergabe nicht möglich ist (BGH NJW 2004, 2386 [2387]; Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 ZPO § 178 Rn. 17; Bellardita DGVZ 2021, 212 [214]).
31
Für diese Sichtweise spricht der Wortlaut des § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Dieser ist so formuliert, dass er sich gerade nicht auf Personen beschränkt, die bei dem Zustellungsadressaten selbst beschäftigt sind (BGH NJW 2004, 2386 [2387]; Bellardita DGVZ 2021, 212 [214]). Der Wortlaut fordert nur, dass die Person in den Geschäftsräumen beschäftigt ist. Hierunter fallen auch Personen, die bei externen Dienstleistern angestellt und in den Geschäftsräumen des Zustellungsempfängers beschäftigt sind. Der Wortlaut lässt auch die Art des Beschäftigungsverhältnisses (etwa Arbeitsverhältnis, Dienst- oder Werkvertrag) offen.
32
Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, eine Zustellung nicht unnötig zu erschweren (Bellardita DGVZ 2021, 212 [214]). Gleichzeitig ist Sinn und Zweck des § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO auch die Sicherstellung der Möglichkeit zur Kenntnisnahme, um den Anspruch auf rechtliches Gehör zu gewährleisten. Die Einschränkung des sehr weiten Wortlauts, dass eine Übergabe an bloß zufällig dort beschäftigte Personen wie etwa Handwerker nicht ausreichend ist (Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 ZPO § 178 Rn. 17), trägt dieser Tatsache Rechnung.
33
Im vorliegenden Fall ist das Gericht davon überzeugt, dass zum Zeitpunkt des Einlegens in den Sammelbriefkasten Personen des externen, hierfür beauftragten Dienstleisters ... anwesend waren, die zur Entgegennahme von Schriftstücken der Beklagten für den Zusteller erkennbar eingesetzt waren und an die eine Übergabe des Schriftstücks ausführbar war.
34
Die vorzunehmende Prüfung der Zustellung des Versäumnisurteils und die Fristwahrung des hiergegen eingelegten Einspruchs von Amts wegen (BGH NJW-RR 2024, 608; NJW 2018, 2894; NJW-RR 2014, 1532) berühren die allgemeine Beweislastverteilung nicht, entlasten die belastete Partei aber von ihrer subjektiven Beweisführungslast (BeckOK ZPO/Kersting ZPO § 56 Rn. 8). Das Gericht hat seine Überzeugung, ohne dass damit eine Absenkung des Beweismaßes verbunden wäre, im Freibeweisverfahren durch Ausschöpfung der in Betracht kommenden Erkenntnisquellen zu bilden (Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 Vorb. ZPO § 284 Rn. 6; BeckOK ZPO/Kersting ZPO § 56 Rn. 8). Ein Geständnis bindet das Gericht nicht, sondern ist als Beweisindiz zu würdigen (BeckOK ZPO/Kersting, ZPO § 56 Rn. 7).
35
Hier ist die Beklagte nach allgemeinen Grundsätzen für die Fristwahrung ihres Einspruchs aufgrund fehlender Zustellung objektiv beweisbelastet, weil es sich um eine für sie günstige Tatsache handelt (BGH NJW 1981, 1673 [1674]).
36
Die Postzustellungsurkunde vom 28.02.2025 begründet gemäß §§ 182 Abs. 1 S. 2, 318 Abs. 1 ZPO grundsätzlich den Vollbeweis für die hierin bezeugten Tatsachen (Thomas/Putzo/Hüßtege 46. Aufl. 2025 ZPO § 418 Rn. 2), nämlich dass die Übergabe versucht wurde (Ziffer 9 der PZU, Bl. zu 45 d.A.) und nicht möglich war (Ziffer 10.2 der PZU, Bl. zu 45 d.A.).
37
Der gem. § 318 Abs. 2 ZPO mögliche Gegenbeweis ist hier geführt. Das Gericht ist davon überzeugt, dass eine Übergabe zur fraglichen Zeit möglich gewesen wäre.
38
Die Beklagte hat vorgetragen, dass die Übergabe durch den Postbediensteten tatsächlich ausführbar gewesen wäre und hierzu ausführlich und substantiiert zur Organisation der Zustellungsentgegennahme durch den externen Dienstleister ... vorgetragen. Sie hat insbesondere dargelegt, dass sich im Eingangsbereich des ... ein bereits von außen als solcher erkennbarer Empfangsbereich befindet, der von Montag bis Freitag in der Zeit von 07:00 bis 19:00 Uhr geöffnet und durchgehend besetzt ist. Hierzu hat sie Lichtbilder vorgelegt, die diese Darlegungen stützen (Anlagen B1 und B2). Die Beklagte hat weiter vorgetragen, dass die Beschäftigten im Empfangsbereich, die für ein weiteres Unternehmen tätig sind, instruiert sind, Zusteller anzuweisen, eine persönliche Übergabe an einen Beschäftigten der ... in deren Büroräumlichkeiten ... vorzunehmen. Sie hat ferner dargelegt, dass der Geschäftsraum zum fraglichen Zeitpunkt mit zur Entgegennahme von Schriftstücken instruierten Personen besetzt war. Weiter hat sie ausgeführt, dass die Zustellung auf diese Weise auch regelmäßig erfolgt. Dieser Darlegung der Beklagten ist der Kläger nicht entgegengetreten, der Vortrag der Klagepartei war auf Rechtsausführungen zur fehlenden Geschäftsraumeigenschaft und Treue und Glauben beschränkt.
39
Die Beklagte hat eine eidesstattliche Versicherung des ..., Rechtsanwalt und Managing Director der ... dieser wird an Eides statt versichert, dass das Empfangspersonal angewiesen ist, Zusteller bei „gelben Briefen“ zu einer persönlichen Übergabe an einen Beschäftigten der ... in deren Büroräumlichkeiten in ... anzuweisen. Er versichert weiter, dass am fraglichen Tag während der Bürozeiten von 08:30 Uhr bis 18:00 Uhr mindestens drei Mitarbeitende durchgehend anwesend waren. In der eidesstattlichen Versicherung führt er aus:
„Ich habe daher u.a. anhand der in unserem Büro üblichen Zeiterfassung und Kalendereinträge folgendes ermitteln können: Am Freitag, den 28. Februar 2025, war der Empfang des ... nach meiner Erinnerung – wie jeden Tag – von 07:00 bis 19:00 Uhr durchgehend ordnungsgemäß besetzt. Unser ... -Büro war wie üblich von 8:30 Uhr bis 18:00 Uhr besetzt. Ich selbst war an diesem Tag in unseren Büroräumlichkeiten. Neben mir waren zu den Bürozeiten drei weitere Mitarbeitende, namentlich, ... und ... , vor Ort anwesend.“
40
Anhaltspunkte, die Zweifel an dieser Darstellung erwecken könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Das Gericht hält es nach diesen Darstellungen für ausgeschlossen, dass der Zusteller einen Versuch unternommen hat, das Schriftstück in den Räumlichkeiten zu übergeben. Lebensnah erscheint es, dass der Zusteller sich den Weg ..., bzw. das Warten auf einen Mitarbeiter von ... gespart hat, obwohl dies unschwer möglich gewesen wäre und stattdessen das Schriftstück in den unbeschrifteten Sammelbriefkasten am Gebäudeeingang geworfen hat.
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Nach diesen Feststellungen beobachtet die eingesetzte ... einen ausgeprägten Sorgfaltsmaßstab und veranlasst stets sämtliche Maßnahmen, die zur Sicherstellung einer professionellen Postbearbeitung vernünftigerweise veranlasst sind.
42
3. Das Berufen auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung ist der Beklagten auch nicht aus Gesichtspunkten von Treu und Glauben verwehrt.
43
An die Einhaltung der Vorschriften über die Zustellung mit Postzustellungsauftrag (§§ 176 Abs. 2, 177 ff. ZPO) zu erinnern, stellt grundsätzlich kein rechtsmissbräuchliches Verhalten dar. Die rechtlichen Ausführungen der Klagepartei, die Beklagte unterhalte in den Räumlichkeiten keine Geschäftsräume, gehen ins Leere, weil die Beklagte an der Anschrift im ... tatsächlich Geschäftsräume unterhält (s.o.). Richtig ist, dass bei einer vorsätzlichen Herbeiführung eines Rechtsscheins eines Geschäftsraumes in der Absicht, sich auf die Nichtzustellung mangels tatsächlich unterhaltenen Geschäftsraumes zu berufen, der Einwand des Rechtsmissbrauchs durchdringen mag. Grundsätzlich garantiert eine Handelsregisterauskunft oder behördliche Meldung aber nicht, dass an einer Adresse bei Nichtantreffen gemäß §§ 178 ff. ZPO ersatzzugestellt werden kann. Selbst der fahrlässig verursachte Rechtsschein einer Wohnung oder eines Geschäftsraumes genügt nach der Rechtsprechung des BGH nicht für eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO (BGH NJW 2011, 2440 [2441]; BGH NJW-RR 2010, 489 (490), OLG Dresden BeckRS 2016, 16379 Rn. 24; Baumann LTZ 2022, 17 [20]; Baumann in: Riehm/Dörr (Hrsg.) Handbuch „Digitalisierung und Zivilverfahren“ 1. Aufl. 2023 § 13 Rn. 39).
44
Die Ausführungen der Klagepartei liegen darauf bezogen neben der Sache. Es geht hier gerade nicht darum, dass die Beklagte sich darauf beruft, die Ersatzzustellung wäre mangels Bestehens eines Geschäftsraumes unwirksam. Nur in einem solchen Fall kommt es darauf an, ob vorsätzlich der Rechtsschein eines Geschäftsraumes geschaffen wurde, um sich später auf die Unwirksamkeit der (Ersatz-)Zustellung zu berufen. Hier liegen die Dinge anders: Die Beklagte trägt vor, dass die Räume ihre Geschäftsräume sind, was auch tatsächlich und rechtlich richtig ist. Wie sich daraus der Einwand des Rechtsmissbrauchs dogmatisch konstituieren soll, kann das erkennende Gericht nicht nachvollziehen.
45
4. Das Verfahren war daher gemäß § 342 ZPO in den Stand vor der Säumnis zurückzuversetzen.
B.
46
Die Klageanträge sind zulässig.
47
1. Das Landgericht Passau ist gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich und gemäß § 32 ZPO örtlich zuständig.
48
2. Das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse hinsichtlich des Antrags auf Feststellung des Annahmeverzuges ergibt sich aus den Folgen für die Zwangsvollstreckung (§§ 756, 765 ZPO, § 274 BGB).
49
Die Klagepartei hat in der mündlichen Verhandlung vom 30.09.2025 den Rechtsstreit im Hinblick auf eine Summe in Höhe von 602,61 € teilweise einseitig für erledigt erklärt. Die teilweise einseitige Erledigungserklärung, welche eine Klageänderung in eine Feststellungsklage darstellt, ist nach § 264 Nr. 2 ZPO zulässig.
C.
50
Die Klage ist jedoch unbegründet, weil dem Kläger keine Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zustehen.
51
1. Eine Haftung der Beklagten ergibt sich nicht unter dem Gesichtspunkt einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB.
52
a) Zwar kann in dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen ist, grundsätzlich eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung liegen, da dies dazu führen kann, dass der Widerruf der Typengenehmigung oder zumindest die Stilllegung des konkreten Fahrzeugs droht, sofern der Käufer nicht an der Rückrufaktion zur Beseitigung der Abschalteinrichtung teilnimmt. Mit der Inverkehrgabe des Fahrzeugs bringt der Hersteller jedenfalls konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden darf, das heißt über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei der Auslieferung des Fahrzeugs dem Hersteller bekannter, konstruktiver Eigenschaften gefährdet ist (BGH a.a.O.; OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19). Dies setzt voraus, dass nicht nur die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren formal erfolgreich durchlaufen wurden, sondern auch, dass die für den Fahrzeugtyp erforderliche EG-Typengenehmigung nicht durch eine Täuschung des zuständigen Kraftfahrtbundesamtes erschlichen worden ist und das Fahrzeug den für deren Erhalt und Fortbestand einzuhaltenden Vorschriften tatsächlich entspricht (OLG Koblenz a.a.O.).
53
b) Das zumindest bis zum Software-Update unstreitig vorhandene Thermofenster erfüllt den Tatbestand des § 826 BGB jedoch nicht (vgl. OLG München Endurteil v. 15.11.2023, Az. 7 U 1977/22). Die Abgasrückführung im streitgegenständlichen Fahrzeug ist zwar unstreitig abhängig von der Umgebungstemperatur. Ob es sich bei dem „Thermofenster“ um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, kann im Kontext des § 826 BGB allerdings dahinstehen. Denn selbst wenn man unterstellt, in der Motorsteuerungssoftware des streitgegenständlichen Fahrzeugs seien alle klägerseits behaupteten unzulässigen Abschalteinrichtungen enthalten, wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht zu begründen.
54
Beim Einsatz unzulässiger Abschalteinrichtungen kommt eine Sittenwidrigkeit nur dann in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von dem Einbau einer Einrichtung mit der in Rede stehenden Funktionsweise in den streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG München, Urteil vom 20. Januar 2020, Az. 21 U 5072/19). Bei nicht eindeutiger und nicht unzweifelhafter Gesetzeslage muss daher eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe des Herstellers in Betracht gezogen werden (OLG München a.a.O.). Hat dieser aber die Rechtslage fahrlässig verkannt, dann fehlt es sowohl am erforderlichen Schädigungsvorsatz als auch an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit wie der Kenntnis der die Sittenwidrigkeit begründenden Tatumstände (OLG München a.a.O.).
55
Unabhängig von der Frage, ob die Implementierung eines Thermofensters in tatsächlicher Hinsicht objektiv mit den (unions-)rechtlichen Vorschriften vereinbar ist oder nicht und damit, ob es sich bei der Verwendung von Thermofenstern tatsächlich – wie vom Kläger behauptet – um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, stellt sich das Inverkehrbringen eines solchermaßen konzipierten Fahrzeugs subjektiv jedenfalls nicht als sittenwidrige Handlung der Beklagten i.S.d. § 826 BGB dar.
56
aa) Objektiv sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach Inhalt oder Gesamtcharakter, der durch zusammenfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, das heißt mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht vereinbar ist (BGH, Urteil vom 19.11.2013 – VI ZR 336/12). Dass das Verhalten gegen vertragliche Pflichten oder das Gesetz verstößt, unbillig erscheint oder einen Schaden hervorruft, genügt nicht (OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 – 12 U 246/19). Insbesondere die Verfolgung eigener Interessen bei der Ausübung von Rechten ist im Grundsatz auch dann legitim, wenn damit eine Schädigung Dritter verbunden ist (BGH, Urteil vom 19.10.1987 – II ZR 9/87). Hinzutreten muss eine besondere Verwerflichkeit des Verhaltens, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage tretenden Gesinnung oder den eintretenden Folgen ergeben kann (BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19).
57
Subjektiv ist ein Bewusstsein der Sittenwidrigkeit nicht erforderlich. Der Schädiger muss aber grundsätzlich die Tatumstände kennen, die sein Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen (BGH, Urteil vom 13.09.2004 – II. ZR 276/02).
58
bb) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ist das Verhalten der Beklagten, ein mit einem sog. Thermofenster ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, vorliegend nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten. Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob das in dem streitgegenständlichen Fahrzeug installierte Thermofenster eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht. Zwar mag sich bei einer sog. „Schummelsoftware“, wie sie in dem VW-Dieselmotor des Typs EA 189 verwendet worden war, die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus dem Einsatz dieser Umschaltlogik, die – auf den Betriebszustand des Fahrzeugs abstellend – allein danach unterscheidet, ob sich dieses auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet, ergeben (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19). Eine solche Abschalteinrichtung mag eindeutig unzulässig sein und an dieser rechtlichen Wertung auch aus Sicht der Handelnden bzw. hierfür Verantwortlichen kein Zweifel bestehen (BGH a.a.O.; OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19; OLG München, Beschluss vom 10.02.2020 – 3 U 7524/19).
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Bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie hier dem Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft erwogen werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hatten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden (OLG Koblenz a.a.O.; OLG München a.a.O.). Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn – einmal unterstellt – hinsichtlich des hier in Rede stehenden Thermofensters von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegangen werden sollte, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe in Betracht gezogen werden (OLG Koblenz a.a.O.; OLG München a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 – 3 U 148/18).
60
Eine Sittenwidrigkeit käme hier – wie bereits aufgezeigt – gerade nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise in dem streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19; OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19; OLG München, Beschluss vom 10.02.2020 – 3 U 7524/19). Solche Anhaltspunkte sind von der Klagepartei nicht substantiiert vorgetragen. Zudem vermengt die klägerische Darstellung die in der beim Motor EA 189 für die Prüfstandsmanipulation behauptete Vorgehensweise in der Entwicklungsabteilung des VW-Konzerns mit dem „Thermofenster“ des hier streitgegenständlichen Motors mit der Motorkennung B16DTH.
61
Soweit daher – wie nicht – in Betracht zu ziehen wäre, dass die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt hat, fehlt es in subjektiver Hinsicht an dem für die Sittenwidrigkeit erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit. Eine Auslegung aber, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes wiederum kann aber nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19, OLG Koblenz a.a.O.; OLG München a.a.O.). Die Klagepartei hat auch nicht aufzeigen können, dass letztlich – trotz entsprechender Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der Behörden für diese Materie – ein Anlass zu einem Rückruf seitens des Kraftfahrtbundesamts und zu einer Aufforderung an die Beklagte, die Abgasreinigung auf andere Weise vorzunehmen, bestanden hätte.
62
cc) Gleiches gilt im Ergebnis nach Auffassung des Gerichts für die weiteren von der Klagepartei angeführten Abschalteinrichtungen. Der Vorwurf der Sittenwidrigkeit im Zusammenhang mit dem Einsatz unzulässiger Abschalteinrichtungen setzt nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 25.05.2020 (Az. VI ZR 252/19) voraus, dass infolge der durch Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung erschlichenen Typgenehmigung eine Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung droht und bei dem Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann. Allein der Umstand, dass das streitgegenständliche Fahrzeug, unterstellte man das behauptete unentdeckte Vorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen als gegeben, im normalen Straßenverkehr mehr Schadstoffe ausstoßen würde als ohne Abschalteinrichtung, wäre aus Umweltschutzgesichtspunkten sicherlich zu beanstanden, würde aber keine sittenwidrige Schädigung zum Nachteil des Vermögens des Klägers darstellen, der das Fahrzeug weiterhin gefahrlos benutzen kann.
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c) Auch ein Schädigungsvorsatz der Beklagten ist nicht nachgewiesen.
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Der erforderliche Schädigungsvorsatz im Rahmen von § 826 BGB, der getrennt von der Sittenwidrigkeit – auch von deren subjektiver Seite – festzustellen ist (vgl. BGH, Urteil vom 12.07.1966 – VI ZR 1/65), bezieht sich darauf, dass durch die Handlung einem anderen Schaden zugefügt wird. Fahrlässigkeit, auch grobe, genügt nicht (BGH, Urteil vom 06.06.1962 – V ZR 125/60). Der Vorsatz muss sich auf den Schaden erstrecken, eine nur allgemeine Vorstellung über eine etwa mögliche Schädigung genügt nicht (BGH, Urteil vom 24.04.2001 – VI ZR 36/20). Andererseits ist Schädigungsabsicht nicht erforderlich. Es genügt, dass der Schädiger den Schadenseintritt vorausgesehen und die Schädigung im Sinne eines direkten Vorsatzes gewollt oder jedenfalls im Sinne eines bedingten Vorsatzes billigend in Kauf genommen hat (BGH, Urteil vom 20.11.2012 – VI ZR 268/11). Maßgeblich ist dabei allein der Zeitpunkt des Inverkehrbringens des konkreten Fahrzeugs (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19).
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Vorliegend kann jedoch – wie bereits dargelegt – nicht davon ausgegangen werden, dass auf Seiten der Beklagten bewusst eine – unterstellt – objektiv unzulässige Abschalteinrichtung verwendet wurde. Mangels anderweitiger greifbarer Anhaltspunkte ist nicht von einer vorsätzlichen Verkennung der Rechtslage auszugehen. Dann aber fehlt es am notwendigen Schädigungsvorsatz, weil dieser das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes verbunden mit einer mindestens billigenden Inkaufnahme desselben erfordert (OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 – 3 U 148/18; OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19; OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 – 12 U 246/19).
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2. Ein Anspruch des Klägers lässt sich ebenso wenig aus einer Haftung gemäß § 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. § 263 StGB in Gestalt eines Verstoßes gegen ein Schutzgesetz herleiten.
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Vor dem Hintergrund des fehlenden sittenwidrigen, täuschenden Verhaltens der Beklagten bleibt kein Raum für eine deliktische Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB. Solange die Beklagte nicht – jedenfalls nicht nachweisbar – in dem Bewusstsein handelte, ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, fehlt es an dem Nachweis einer willentlichen Täuschung des Käufers über das Nichtvorhandensein einer solchen (möglicherweise unzulässigen) Einrichtung (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19).
68
Im Übrigen fehlt es an der Bereicherungsabsicht und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Stoffgleichheit des auf Seiten der Beklagten erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden des Klägers (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az.: VI ZR 5/20).
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3. Die Beklagte haftet auch nicht nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6, 27 EG-FGV bzw. Art. 4 f. VO (EG) Nr. 715/2007.
70
Die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 26.06.2023, Az. VIa ZR 335/21) in Betracht kommende Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV trägt den Antrag des Klägers nicht.
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Es fehlt jedenfalls an einem von diesem Schutzzweck umfassten Schaden der Klagepartei. Weder hat die Klagepartei substanziierte Anhaltspunkte dafür in das Verfahren getragen, dass das streitgegenständliche Fahrzeug überhaupt unzulässige Abschalteinrichtungen enthält, noch sind irgendwelche konkreten Nachteile im Sinne einer drohenden Nutzungseinschränkung ersichtlich (s.o. unter Ziff. 1, ebenso OLG München, Beschluss vom 22.03.2023, Az. 19 U 785/23 e). Auch ein Schaden im Sinne einer Wertminderung, die abgrenzbar auf das angebliche Vorhandensein von Abschalteinrichtungen zurückführbar sein soll (und nicht etwa auf den aus umweltpolitischen Gründen veränderten Verhältnissen auf dem Gebrauchtwagenmarkt betreffend Diesel-Fahrzeuge) ist schlechthin nicht darstellbar. Zudem kann der Beklagtenpartei nicht einmal ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden, wenn auch das Kraftfahrtbundesamt die Konformität der Fahrzeuge bzw. Motoren der Beklagten gemessen am europäischen Zulassungsrecht nach amtlicher Prüfung nicht beanstandet hat (so auch OLG München, Urteil vom 28.03.2023, Az. 5 U 4525/22).
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Jedenfalls bis zur Entscheidung des EuGH vom 14. Juli 2022, C-134/20, durfte ein Automobilhersteller davon ausgehen, dass ein Thermofenster aus Gründen des Motor- oder Bauteilschutzes im Rahmen einer weiten Auslegung von Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. a VO (EG) 715/2007 zulässig sei. Insoweit befand er sich in einem unvermeidlichen Rechtsirrtum, da bis dahin nahezu alle europäischen Hersteller ihre Dieselfahrzeuge mit einem Thermofenster ausgerüstet hatten und dies trotz umfangreicher Untersuchungen von den zuständigen Überwachungsbehörden auch nicht beanstandet wurde. In einem solchen Fall fehlt es nicht nur am nach § 826 BGB erforderlichen Vorsatz, sondern auch am nach § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB erforderlichen Verschulden selbst in Gestalt einfacher Fahrlässigkeit. Hält die zuständige Aufsichtsbehörde ein Einschreiten wegen der Fahrkurvenerkennung im Motortyp EA288 nicht für geboten, kann dem Hersteller kein vorsätzlicher oder fahrlässige Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) 715/2007 zur Last gelegt werden (zu allem Vorstehenden: OLG München, Beschluss vom 16. Mai 2023 – 34 U 285/23 e –, juris).
73
Entsprechendes gilt für alle weiteren von der Klagepartei behaupteten, durch das Kraftfahrtbundesamt jedoch trotz Prüfung unbeanstandet gebliebenen Abschalteinrichtungen. Wenn das Kraftfahrtbundesamt nachträglich keine Beanstandungen gefunden hat, lässt dies den Rückschluss zu, dass es auch auf vorherige Erkundigung der Beklagten solche nicht erhoben hätte. In einem solchen Fall ist von einem unvermeidbaren Verbotsirrtum auszugehen (OLG München, Beschluss vom 22. August 2023 – 23 U 6799/20 –, juris; OLG München, Beschluss vom 22. August 2023 – 8 U 9416/21 –, juris).
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Insofern kommt es auf die Berechnung eines theoretisch möglichen Restschadens – welcher dim Übrigen aufgezehrt wäre – nicht mehr an.
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a) Ein etwaiger Schaden wäre im vorliegenden Fall hingegen durch die Anrechnung der Nutzungsvorteile und den Restwert aufgezehrt.
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Die nach der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 26.06.2023, VI a ZR 335/21) in Betracht kommende Haftung nach § 823 II BGB i.V.m. § 6 I, § 27 I EG-FGV trägt den Klageantrag nicht, weil der Schutzzweck der EG-FGV nicht darin liegt, einen Käufer vor Abschluss eines nicht gewollten Vertrages zu schützen (aaO Rz 32). Erfasst ist jedoch der Schutz des Käufers, keine Vermögenseinbuße i.S.d. Differenzhypothese zu erleiden (BGH a.a.O., Rz. 32).
77
Bei der Ermittlung dieses Differenzschadens in Anwendung des § 287 I ZPO (a.a.O., Rz. 71) ist Bezugsgröße der Kaufpreis, wobei das Schätzungsermessen des Gerichts in einer Bandbreite zwischen 5% und 15% (BGH, a.a.O., Rz. 73) liegt. Insofern wäre zu berücksichtigen, dass die durch die bloße rechtliche Möglichkeit einer Nutzungsbeschränkung bewirkte Verringerung des objektiven Werts des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs mit einem Betrag von 5% bis 15% des Kaufpreises angemessen entschädigt ist (Festhaltung BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – Vla ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 41 f., 71 ff.).
78
Hier zieht das Gericht einen Betrag von 5% des Kaufpreises heran. Geht man davon aus, dass die von dem Kläger behaupteten, von der Beklagten bestrittenen unzulässigen Abschalteinrichtungen tatsächlich vorlagen, und unterstellt man, dass der Einwand des unvermeidbaren Verbotsirrtums durch die Beklagte im Lichte der BGH-Rechtsprechung (BGH, a.a.O., Rz. 64 ff.) nicht greift, so kommt somit maximal ein Schadensersatzanspruch des Klägers von 940 € Euro (5% von 18.800 €) in Betracht.
79
b) Nach der Rechtsprechung des BGH muss sich die Klägerin auf diesen Schadensersatzanspruch den gezogenen Vorteil anrechnen lassen (BGH, a.a.O., Rz. 80).
80
Dieser ist nach der linearen Berechnungsmethode zu schätzen (BGH, Urteil vom 24.07.2023, Az.: Via ZR 752/22 unter Verweis auf das Endurteil des OLG München vom 21.05.2023, Az.: 17 U 1476/20). Das Gericht geht von einer zu erwartenden Gesamtfahrleistung eines mit einem Dieselmotor ausgestatteten Fahrzeugs der unteren Mittelklasse von 200.000 km aus (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2022 – VIa ZR 227/21, BeckRS 2022 42085, Rz. 24, 27 „Kurzläufer-Rechtsprechung“). Damit ergibt sich eine für den PKW des Klägers zu erwartende Restlaufzeit von 199.783 km (Gesamtlaufleistung 200.000 km ./. Km-Stand bei Kauf 217 km).
81
Der Kläger ist mit dem Fahrzeug 123.128 km gefahren (123.345 km am 30.09.2025 ./. Km-Stand bei Kauf 217 km).
82
Der Nutzungsvorteil errechnet sich im vorliegenden Fall wie folgt:
„Kaufpreis 18.800 € x 123.128 gefahrene km = 11.586,60 €
199.783 km
Dazu kommt der Restwert des Fahrzeugs, der nicht nur dann zu berücksichtigen ist, wenn er tatsächlich realisiert wurde. Er stellt einen wertbildenden Faktor dar, der nicht unberücksichtigt bleiben kann, da er dem Kläger tatsächlich einen Wert schon während des Besitzes des PKW verschafft. Die Beklagte hat den Restwert mit 7.900 € angegeben (Anlagen B11 und B12).“
83
Die DAT-Bewertung für vergleichbare Fahrzeuge stellt eine geeignete Schätzhilfe dar (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 22.08.2023 – 8 U 271/21, Rn. 85). Diese Auskunft legt das Gericht für die Schätzung des Restwerts nach weiterer eigener Recherche mit demselben Ergebnis gem. § 287 ZPO zugrunde.
84
Nutzungsvorteile und Restwert ergeben zusammen 19.486,60 €. Diese Summe liegt damit höher als der Kaufpreis des Fahrzeugs. Ein Schaden ist nicht entstanden. Das unionsrechtliche Gebot, dem Käufer eines solchen Fahrzeugs eine angemessene Entschädigung seines durch den Erwerb entstandenen Schadens zu gewährleisten, ist nicht dadurch verletzt, dass Nutzungsvorteile und Restwert (lediglich) insoweit angerechnet werden, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen. Dies gilt auch dann, wenn dadurch der Anspruch aufgezehrt wird (Festhaltung BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 80).
85
4. Die weiteren geltend gemachten Schadenspositionen – insbesondere die Zinsen – sind mangels eines Hauptsacheanspruchs bzw. Verzugs ebenfalls unbegründet.
D.
86
I. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Kosten der Säumnis waren der Beklagten nicht gemäß § 344 ZPO aufzuerlegen, weil das Versäumnisurteil nicht in gesetzlicher Weise ergangen war. Die Frist zur Anzeige der Verteidigungsbereitschaft war zum Zeitpunkt des Erlasses des Versäumnisurteils noch nicht abgelaufen, weil die Klage nicht zugestellt war.
87
II. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 2 ZPO.
88
III. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 48 Abs. 1 S. 1 GKG, §§ 3, 4 ZPO. Der Wert von Haupt- und Hilfsantrag waren nicht zu addieren, weil es sich um eine echte Eventualklagehäufung handelt. Hier kommt es auf den höchsten Wert von mehreren Anträgen an.