Titel:
Unzulässige Popularklage gegen außer Kraft getretene Satzung
Normenketten:
BV Art. 98 Satz 4, Art. 120
VfGHG Art. 55 Abs. 1 Satz 1
Leitsätze:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen eine Ortsgestaltungssatzung, weil die angegriffenen Rechtsvorschriften im Verfahrensverlauf außer Kraft getreten sind. (Rn. 7 – 11)
1. Außer Kraft getretene Rechtsvorschriften unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur dann, wenn noch ein objektives Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Verfassung vereinbar waren. (Rn. 9) (red. LS Axel Burghart)
2. Ein objektives Interesse an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer außer Kraft getretenen Rechtsnorm kann bestehen, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Rechtsnorm noch rechtliche Wirkungen entfalten kann, weil sie für künftige Entscheidungen noch rechtlich relevant ist. (Rn. 9) (red. LS Axel Burghart)
3. Ein objektives Interesse an der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer außer Kraft getretenen Rechtsnorm wird nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen. (Rn. 9) (red. LS Axel Burghart)
Schlagworte:
Popularklage, Ortsgestaltungssatzung, Satzung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 2878
Tenor
Der Antrag wird abgewiesen.
Entscheidungsgründe
1
Die Antragsteller wenden sich gegen die Ortsgestaltungssatzung des Marktes Oberstdorf vom 10. November 2006, die der Marktgemeinderat aufgrund von Art. 89 und 91 Abs. 1 der Bayerischen Bauordnung (BayBO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 4. August 1997 (GVBl 433, ber. 1998 S. 270, BayRS 2132-1-I) – als „Neufassung“ der Ortsgestaltungssatzung vom 26. Juli 1999, geändert durch Satzung vom 26. November 2001, – am 19. Oktober 2006 beschlossen hat.
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Diese Ortsgestaltungssatzung ist durch die Satzung des Marktes Oberstdorf über die Ortsgestaltungssatzung (OGS) vom 13. August 2024 ersetzt worden, die vom Marktgemeinderat aufgrund von Art. 81 BayBO (i. d. F. der Bekanntmachung vom 14.8.2007, GVBl S. 588, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24.7.2023, GVBl S. 371) am 23. Juli 2024 beschlossen, nach der Ausfertigung durch Niederlegung in der Gemeindeverwaltung sowie im Amtsblatt für den Landkreis Oberallgäu vom 20. August 2024 bekannt gemacht worden und am 21. August 2024 in Kraft getreten ist. Nach § 5 Satz 2 der neuen Satzung ist die alte Ortsgestaltungssatzung am selben Tag außer Kraft getreten.
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1. Die Antragsteller haben am 27. Februar 2019 gegen die Ortsgestaltungssatzung vom 10. November 2006 Popularklage erhoben und beantragt, deren Festsetzungen 1 bis 11 wegen Verstoßes gegen die Art. 3 Abs. 1, Art. 101, 103 Abs. 1, Art. 118 Abs. 1 BV und gegen sonstiges Verfassungsrecht für ex tunc nichtig zu erklären. Sie machen – ihre umfangreichen Rügen zusammengefasst – geltend, dass diese Satzung gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 BV) verstoße, weil sie teilweise über die von der Ermächtigungsgrundlage gesetzten Grenzen hinausgehe und deshalb nicht gesetzmäßig sei. Darüber hinaus liege ein Verstoß gegen das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Bestimmtheitsgebot vor, weil einzelne Festsetzungen entweder widersprüchlich oder missverständlich seien. In der Geltung und Anwendung der gesetzwidrigen Ortsgestaltungssatzung liege zudem ein Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV). Fast alle Festsetzungen stellten einen massiven und ungerechtfertigten Eingriff in das Eigentumsgrundrecht (Art. 103 BV) dar. Daneben sei der Gleichheitsgrundsatz (Art. 118 BV) insbesondere wegen des festgelegten Geltungsbereichs verletzt. Schließlich verstoße die Satzung gegen das Willkürverbot, weil sie einerseits den Rahmen der Ermächtigungsgrundlage sprenge, andererseits wegen Ermittlungs- und Begründungsdefiziten sachwidrig sei. Insbesondere fehle es an einer ausreichenden Ortsbildanalyse und vor allem an einem darauf beruhenden schlüssigen Gestaltungskonzept.
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2. Der Bayerische Landtag und die Bayerische Staatsregierung haben von einer Äußerung abgesehen.
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3. Der Markt Oberstdorf hat mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 31. Mai 2019 mitgeteilt, dass die Ortsgestaltungssatzung überarbeitet werden soll, und angeregt, das Verfahren zunächst ruhend zu stellen. Nachdem er wiederholt über den Stand des Aufstellungsverfahrens informiert hatte, teilte er unter dem 13. November 2024 mit, dass die neue Ortsgestaltungssatzung inzwischen bekannt gemacht worden sei.
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4. Die Antragsteller haben mit Schreiben vom 2. Dezember 2024 vorgetragen, dass sie ihre Popularklage trotz des Außerkrafttretens der angegriffenen Rechtsvorschriften aufrechterhalten. Es bestehe weiterhin ein objektives Interesse an einer umfassenden Prüfung der angefochtenen Vorschriften anhand des bayerischen Verfassungsrechts. Erstens könne nicht ausgeschlossen werden, dass die angegriffenen Rechtsvorschriften nach wie vor Gegenstand noch laufender behördlicher oder gerichtlicher Verfahren seien. Zweitens bestehe nach wie vor ein öffentliches Interesse an der Klärung, welchen Qualitätsanforderungen der Normgeber beim Erlass einer Ortsgestaltungssatzung gerecht werden müsse und unter welchen Umständen die Missachtung solcher Qualitätsanforderungen die Verfassungswidrigkeit zur Folge habe. Das gelte insbesondere mit Blick auf die Durchführung notwendiger Ermittlungen, deren Offenlegung und Würdigung durch den Normgeber und den Maßstab, welcher insbesondere bei der Ermöglichung von Grundrechtseingriffen durch gebundene Verwaltungsentscheidungen anzusetzen sei.
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Die Popularklage ist unzulässig geworden, weil die angegriffenen Rechtsvorschriften im Verfahrensverlauf außer Kraft getreten sind.
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Bei den angegriffenen Bestimmungen der Ortsgestaltungssatzung vom 10. November 2006 handelt es sich um Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts, deren Verfassungswidrigkeit jedermann durch Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (Popularklage) geltend machen kann (Art. 98 Satz 4 BV, Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Sie sind jedoch kein zulässiger Prüfungsgegenstand im Popularklageverfahren mehr, weil sie inzwischen nach § 5 Satz 2 der Satzung des Marktes Oberstdorf über die Ortsgestaltungssatzung (OGS) vom 13. August 2024 außer Kraft getreten sind.
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Der Verfassungsgerichtshof hat bei der Prüfung, ob eine Rechtsvorschrift verfassungswidrig ist, seiner Beurteilung grundsätzlich den Rechtszustand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Außer Kraft getretene Rechtsvorschriften unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur dann, wenn noch ein objektives Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. Der Verfassungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein solches Interesse insbesondere dann bestehen kann, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Rechtsnorm noch rechtliche Wirkungen entfalten kann, weil sie für künftige (z. B. gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant ist (vgl. VerfGH vom 30.8.2017 VerfGHE 70, 162 Rn. 75; vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 164 Rn. 18; vom 7.12.2021 BayVBl 2022, 152 Rn. 41). Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen (VerfGH vom 27.9.2023 BayVBl 2024, 78 Rn. 36).
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Ein solches objektives (und nicht nur theoretisches) Interesse besteht mit Blick auf die außer Kraft getretenen Bestimmungen der Ortsgestaltungssatzung des Marktes Oberstdorf vom 10. November 2006 nicht. Dass alte Vorgaben „teils in verschärfter Form“ in die neue Ortsgestaltungssatzung übernommen wurden, ist in diesem Zusammenhang entgegen der Ansicht der Antragsteller schon deshalb unbeachtlich, weil die Nachfolgevorschriften keine bloßen Wiederholungen darstellen. Es handelt sich vielmehr um Neuregelungen auf der Grundlage einer aktuellen Ortsbildanalyse und einer Neubewertung durch den Satzungsgeber bei geänderter Sach- und Rechtslage.
11
Selbst wenn die außer Kraft getretenen Vorschriften, wie die Antragsteller vermuten, in einzelnen anhängigen behördlichen oder gerichtlichen Verfahren weiterhin Rechtswirkungen entfalten sollten, ergibt sich daraus ebenfalls kein objektives Interesse an der Klärung, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. Denn die Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV, die an die Antragsberechtigung geringe Anforderungen stellt (Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG: „jedermann“) und die an keine Frist gebunden ist, dient nicht in erster Linie dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen, der unter Umständen auch bei überholten Grundrechtseingriffen nachträglichen – subjektiven – gerichtlichen Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren beanspruchen kann (vgl. BVerfG vom 3.3.2004 BVerfGE 110, 77/85 ff.; BVerwG vom 22.11.2022 NVwZ 2023, 1000 Rn. 12 ff. zur nachträglichen gerichtlichen Klärung in einem Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO). Die verfassungsgerichtliche Popularklage ist vielmehr – anders als die Verfassungsbeschwerde nach Art. 120 BV zum Schutz der eigenen Grundrechte – ein objektives Verfahren (vgl. VerfGH BayVBl 2022, 152 Rn. 42; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 8). Daher ist die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht in dem Sinn zu verstehen, dass jede mögliche noch andauernde Rechtswirkung zum Nachteil Einzelner automatisch ein objektives Interesse an der Kontrolle von außer Kraft getretenem Recht im Rahmen einer Popularklage begründet. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Grundrechte als Institution betroffen sind, etwa weil es um eine Vielzahl von Fällen und nicht nur um einzelne Verfahren geht, in denen die Betroffenen auf Individualrechtsschutz zu verweisen sind (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 36). Dafür ist nichts ersichtlich.
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Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).