Titel:
Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung, Verwirkung, betriebliches Eingliederungsmanagement, venire contra factum proprium
Normenketten:
BeamtStG § 26 Abs. 1
BayBG Art. 65 Abs. 1, Abs. 2
SGB IX § 167 Abs. 2
BGB § 242
Leitsatz:
Die Befugnis zur Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung gemäß Art. 65 Abs. 2 BayBG kann nicht verwirkt werden.
Schlagworte:
Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung, Verwirkung, betriebliches Eingliederungsmanagement, venire contra factum proprium
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 22.11.2024 – M 5 E 24.5866
Fundstelle:
BeckRS 2025, 2849
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
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Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Senat gemäß § 146 Abs. 6 Satz 4 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen nicht die Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die Antragstellerin im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig von der Verpflichtung zur Durchführung einer amtsärztlichen Untersuchung freizustellen, mangels glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs zu Recht abgelehnt. Die streitgegenständliche Untersuchungsanordnung vom 22. Januar 2024 erweist sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig.
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1. Die Antragstellerin meint, der Untersuchungsanordnung stehe der Einwand der Verwirkung entgegen. Bis zur Anberaumung des Untersuchungstermins (Schreiben der Regierung von Oberbayern Medizinische Untersuchungsstelle vom 26.8.2024) seien „mehr als acht Monate“ und damit ein ganz erheblicher und ungewöhnlicher Zeitraum seit Erlass der am 31. Januar 2024 der Antragstellerin zugestellten Untersuchungsanordnung vergangen (Zeitmoment). Der Antragsgegner habe am 28. November 2023 ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) eingeleitet, dem die Antragstellerin ausdrücklich zugestimmt habe. Nach Erlass der verfahrensgegenständlichen Untersuchungsanordnung vom 22. Januar 2024 habe er erneut knapp zweieinhalb Monate später mit Schreiben vom 2. April 2024 ein BEM angeboten, dem die Antragstellerin wiederum zugestimmt habe. Vor diesem Hintergrund habe die Antragstellerin darauf vertrauen können, dass der Antragsgegner von dem Vorhaben, sie amtsärztlich untersuchen zu lassen, abgerückt sei (Umstandsmoment). Der Einwand der Verwirkung betreffe nicht den Erlass der streitgegenständlichen Untersuchungsanordnung, sondern das (verzichtbare) Recht, die Untersuchungsanordnung im Hinblick auf den Zeitablauf und das unterbreitete Angebot eines BEM noch zu vollziehen.
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2. Damit dringt die Antragstellerin nicht durch.
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2.1 Die Befugnis zur Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung gemäß Art. 65 Abs. 2 BayBG kann nicht verwirkt werden.
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Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für das Rechtsinstitut der Verwirkung ist der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Die Verwirkung ist eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes und gilt auch im öffentlichen Recht, namentlich im öffentlichen Dienstrecht. Die Befugnis zur Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung zur Klärung von substantiierten Zweifeln an der Dienstunfähigkeit eines Beamten ist jedoch keine verwirkbare Rechtsposition (vgl. dazu allgemein BVerwG, U.v. 30.8.2018 – 2 C 10.17 – NVwZ 2018, 1866 – juris Rn. 18 ff.; BayVGH, B.v. 28.12.2016 – 15 CS 16.1774 – juris Rn. 33; B.v. 24.3.2022 – 6 CE 21.2753 – juris Rn. 17 m.w.N.).
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Mit Art. 65 Abs. 2 BayBG nimmt der Dienstherr eine ihm kompetenzmäßig zugewiesene, unverzichtbare Befugnis wahr, die maßgeblich von einem besonders gewichtigen öffentlichen Interesse geprägt ist. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG ist der Dienstherr verpflichtet, einen Beamten in den Ruhestand zu versetzen, wenn er wegen seines körperlichen Zustands oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist (vgl. BVerwG, B.v. 16.4.2020 – 2 B 5.19 – juris Rn. 10; U.v. 14.8.1974 – VI C 20.71 – BVerwGE 47, 1). Bestehen Zweifel an der Dienstfähigkeit eines Beamten, kommt der Dienstherr mit der gegenüber dem Beamten ausgesprochenen gemischt dienstlich-persönlichen Weisung, sich ärztlich untersuchen zu lassen, nicht nur seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem Beamten nach, sondern auch seiner – von Art. 33 Abs. 5 GG geschützten – Pflicht zur Gewährleistung der staatlichen Aufgabenerfüllung sowie der Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Der Dienstherr und die Allgemeinheit haben ein berechtigtes Interesse daran, dass hoheitliche Aufgaben nur von Beamten wahrgenommen werden, die zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten physisch und psychisch dauerhaft in der Lage sind (BVerfG, B.v. 21.10.2020 – 2 BvR 652/20 – NVwZ-RR 2021, 217 – juris Rn. 34, 36; BVerwG, U.v. 27.6.2024 – 2 C 17.23 – NVwZ 2024, 1683 – juris Rn. 17). Dieses öffentliche Interesse wird nicht dadurch geschmälert oder gar obsolet, dass zu dessen Durchsetzung von der Behörde über längere Zeit hinweg nichts bzw. wenig unternommen worden ist. Vor diesem Hintergrund ist die Befugnis zur Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung nicht verwirkbar, weil sie nicht verzichtbar ist, sondern zur Gewährleistung rechtmäßiger Zustände, hier zur Sicherstellung einer funktionsfähigen Verwaltung im öffentlichen Interesse, durchgesetzt werden muss (vgl. Rademacher in Schoch/Schneider, VwVfG, Stand Juli 2024, vor § 53 Rn. 38; Wysk in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 25. Aufl. 2024, § 53 Rn. 44; zu nicht verwirkbaren Befugnissen der Gefahrenabwehr: z.B. BVerwG, B.v. 7.8.2013 – 7 B 9.13 – juris Rn. 10; VGH BW, U.v. 1.4.2008 – 10 S 1388/06 – NVwZ-RR 2008, 696 – juris Rn. 50).
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Der Einwand, die Verwirkung betreffe nicht den Erlass der Untersuchungsanordnung, sondern das (verzichtbare) Recht, die Untersuchungsanordnung im Hinblick auf den Zeitablauf und das unterbreitete Angebot eines BEM noch zu vollziehen, erweist sich als Zirkelschluss. Streitgegenstand ist die Untersuchungsanordnung. Der Einwand der Verwirkung hat rechtshindernde Wirkungen (vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 53 Rn. 21). Er bezieht sich als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) naturgemäß auf die Ausübung („Vollzug“) eines Rechts.
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2.2 Die Voraussetzungen für die streitgegenständliche Untersuchungsanordnung, insbesondere die Zweifel an der Dienstunfähigkeit der Antragstellerin, sind auch nicht zwischenzeitlich weggefallen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Gesundheitszustand der Antragstellerin seit Erlass der Untersuchungsanordnung verbessert und diese insbesondere ihren Dienst wiederaufgenommen hätte.
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2.3 In der Einladung zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements liegt schließlich kein widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium, § 242 BGB), das dem Vollzug der Untersuchungsanordnung entgegenstehen würde. Die Antragstellerin konnte nicht darauf vertrauen, dass der Antragsgegner vor dem Hintergrund des unterbreiteten Angebots zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements von einer amtsärztlichen Untersuchung Abstand genommen hätte. Dies gilt unabhängig davon, dass die Antragstellerin dem Angebot zugestimmt hat und es zu einer Zeit unterbreitet wurde, zu der üblicherweise mit der Anberaumung eines Untersuchungstermins zu rechnen gewesen wäre.
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Die Information und Einladung des Dienstherrn zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements vom 2. April 2024 beruhte, wie bereits das entsprechende Angebot vom 28. November 2023, auf der Verpflichtung zur Hilfestellung bei krankheitsbedingten, betrieblichen Komplikationen nach § 167 Abs. 2 SGB IX. Die Vorschrift findet auch auf Beamte Anwendung (vgl. BVerwG, U.v. 5.6.2014 – 2 C 22.13 – BVerwGE 150, 1 – juris Rn. 38 zur inhaltsgleichen Vorgängerregelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis 31.12.2017 gültigen Fassung). Der Dienstherr muss bereits zu einem frühen Zeitpunkt, überwacht und unterstützt durch den Personalrat und ggf. die Schwerbehindertenvertretung, die Initiative ergreifen und die Möglichkeiten klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
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Dieses Angebot ist losgelöst von der Untersuchungsanordnung zu betrachten und kann dem Beamten sowohl vor als auch während des dienstrechtlichen Verfahrens zur Klärung bestehender Zweifel an der Dienstunfähigkeit des Beamten unterbreitet werden. Durch die Einladung zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements setzt sich der Dienstherr jedenfalls nicht in Widerspruch zu einer zuvor erfolgten Untersuchungsanordnung, auch wenn sich letztere häufig zeitlich erst an ein erfolgloses BEM anschließen dürfte. Denn das betriebliche Eingliederungsmanagement unterscheidet sich von der Untersuchungsanordnung hinsichtlich Voraussetzungen, Zweck und Rechtsfolgen. Die Anordnung in § 167 Abs. 2 SGB IX und das Dienstunfähigkeitsverfahren sind jeweils eigenständige Verfahren, die in rechtlicher Hinsicht nicht verknüpft sind (BVerwG, U.v. 5.6.2014 – 2 C 22.13 – BVerwGE 150, 1 – juris Rn. 49). Voraussetzung für die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 167 Abs. 2 SGB IX sind krankheitsbedingte Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen innerhalb eines Jahres. Der Mechanismus greift daher oftmals früher als das dienstrechtliche Instrumentarium (vgl. Art. 65 Abs. 1 BayBG) und unabhängig davon, ob aus den Fehlzeiten auf eine mögliche Dienstunfähigkeit geschlossen werden kann. Zudem setzt es die Einwilligung des Betroffenen voraus. Auch die sich aus dem betrieblichen Eingliederungsmanagement ergebenden Reaktionsmöglichkeiten sind nicht auf den amtsbezogenen Dienstfähigkeitsbegriff ausgerichtet und umfassen damit auch „niederschwelligere“ Vorfeldmaßnahmen, wie etwa den Einsatz von technischen Hilfsmitteln, die Anpassung des Arbeitsgeräts, die Umgestaltung des Arbeitsplatzes, die Verteilung von Arbeitszeiten oder Umsetzungen. Der Sache nach erfordert das betriebliche Eingliederungsmanagement eine Analyse der bestehenden Arbeitsbedingungen im Hinblick auf die gesundheitlichen Einschränkungen des Beschäftigten, um Möglichkeiten einer leidensgerechten Anpassung des konkreten Arbeitsplatzes auszuloten. Bezugspunkt der Dienstfähigkeit einer Beamtin oder eines Beamten ist hingegen das jeweilige abstrakt-funktionelle Amt (BVerwG, U.v. 5.6.2014 a.a.O. Rn. 41). Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist auch nicht auf den Abschluss eines Zurruhesetzungsverfahrens gerichtet; es dient vielmehr dazu, bereits den Eintritt einer Dienstunfähigkeit und damit den materiellen Anknüpfungspunkt entsprechender Verfahren zu vermeiden (BVerwG, U.v. 5.6.2014 a.a.O. Rn. 49).
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Hinzu kommt, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer fortlaufenden Krankschreibung zu keinem Zeitpunkt mit BEM-Maßnahmen begonnen hat. Soweit sie die beigefügten Einverständniserklärungen jeweils unterschrieben zurückgesandt hat, wurde auch damit kein BEM „eingeleitet“. Vielmehr bekundete die Antragstellerin mit diesen Einverständniserklärungen lediglich ihre (grundsätzliche) Bereitschaft zur Durchführung eines BEM. Wie die Antragstellerin angesichts des völlig ungewissen Zeithorizonts für etwaige BEM-Maßnahmen meinte glauben zu können, das nachfolgend unterbreitete (offenkundig standardisiert formulierte) Angebot zur Durchführung von (nicht näher konkretisierten) BEM-Maßnahmen bedeute einen Verzicht des Dienstherrn auf die amtsärztliche Untersuchung, erschließt sich nicht.
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Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob der Geschäftsleiter des Amtsgerichts – entsprechend seiner vorgelegten, von der Beschwerdebegründung angezweifelten dienstlichen Erklärung – die Antragstellerin während des Genesungsgesprächs am 30. November 2024 ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass parallel zur Überprüfung ihrer Dienstfähigkeit im Rahmen einer amtsärztlichen Untersuchung auch die Möglichkeit der Durchführung eines BEM-Verfahrens besteht.
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Schließlich bleibt festzustellen, dass die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements keine Voraussetzung für die Untersuchungsanordnung ist (stRspr zuletzt BayVGH, B.v. 21.10.2024 – 3 CE 24.1417 – juris Rn. 23; SächsOVG, B.v. 25.1.2023 – 2 B 13/23 – juris Rn. 14 f.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 5.6.2014 – 2 C 22.13 – juris Rn. 46) und des erkennenden Senats (BayVGH, B.v. 22.5.2015 – 3 CE 15.520 – juris Rn. 30 m.w.N.) wirkt sich die Frage, ob ein betriebliches Eingliederungsmanagement gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, nicht auf die Rechtmäßigkeit einer Ruhestandsversetzung aus (vgl. BayVGH, B.v. 28.7.2020 – 3 CE 20.1262 – juris Rn. 6 m.w.N.). Entsprechendes gilt für die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2018 – 3 B 16.1996 – juris Rn. 48; B.v. 25.6.2012 – 3 C 12.12 – Rn. 16). Für die Prävention nach den beamtenrechtlichen Verwaltungsvorschriften gilt nichts anderes (vgl. BayVGH, B.v. 13.2.2024 – 3 CE 24.112 – Rn. 9 [n.v.]).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).