Titel:
Maßgabenentscheidung, Ablehnung mit Maßgaben, Ausweisung spezialpräventiv, Abschiebungsandrohung, paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, verminderte Schuldfähigkeit, ärztlich begleitete Abschiebung, konkret-individuelle staatliche Zusicherung, Wiederholungsgefahr bei Unterbringung, Fiktionsbescheinigung, Anordnung der Fortgeltungswirkung, Beteiligung Bundesamt, Schwerbehinderung, Reisefähigkeit
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 72 Abs. 2, 81, 84 § 11, 53, 54 Abs. 1 Nr. 1, 55, 59, 60 Abs. 5, 60 Abs. 7, 60a Abs. 2 S. 1, 60a Abs. 2c,
EMRK Art. 3
Schlagworte:
Maßgabenentscheidung, Ablehnung mit Maßgaben, Ausweisung spezialpräventiv, Abschiebungsandrohung, paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, verminderte Schuldfähigkeit, ärztlich begleitete Abschiebung, konkret-individuelle staatliche Zusicherung, Wiederholungsgefahr bei Unterbringung, Fiktionsbescheinigung, Anordnung der Fortgeltungswirkung, Beteiligung Bundesamt, Schwerbehinderung, Reisefähigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2025, 28403
Tenor
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt, mit der Maßgabe, dass
a) vor Durchführung der Abschiebung eine amtsärztliche Untersuchung oder Stellungnahme unter Einbeziehung der Berichte des Bezirkskrankenhauses … vom 23. März 2021, 13. Februar 2023, 25. August 2023, 20. März 2024, 11. September 2024 sowie sämtlicher bis zum Zeitpunkt der Untersuchung oder Stellungnahme dem Antragsgegner vorliegenden neueren fachärztlichen Unterlagen ergibt, dass der Antragsteller bei ärztlicher Begleitung reisefähig ist beziehungsweise unter welchen vom Antragsgegner sicherzustellenden Modalitäten der Antragsteller reisefähig ist,
b) vor Durchführung der Abschiebung vom Antragsgegner unter Vorlage der unter Buchstabe a genannten Unterlagen eine konkret-individuelle Zusicherung des Zielstaates eingeholt wird,
(1) dass der Antragsteller unmittelbar bei seiner Ankunft ärztlich begleitet in Empfang genommen und in eine für Personen mit seiner Erkrankung geeignete Unterbringung verbracht wird, in der eine psychiatrische Behandlung zur Verfügung steht und
(2) dass sein Verbleib in einer solchen Unterbringung sichergestellt wird, bis ärztlich und – soweit nach brasilianischem Recht erforderlich – gerichtlich überprüft wurde, ob nach brasilianischem medizinischen Standard und Recht eine weitere erkrankungsgerechte Unterbringung und/oder rechtliche oder medizinische Betreuung des Antragstellers erforderlich ist,
c) dem Antragsteller bei seiner Abschiebung ein aktueller Medikationsplan in englischer oder portugiesischer Sprache sowie ein Vorrat seiner zum Abschiebungszeitpunkt aktuellen Medikation für mindestens sechs Monate mitgegeben werden,
d) dem Antragsteller bei seiner Abschiebung die unter Buchstabe a genannten Unterlagen mit beglaubigter Übersetzung in die portugiesische Sprache mitgegeben werden,
e) der Antragsteller während des gesamten Abschiebevorgangs ärztlich betreut wird und am Zielflughafen samt der unter Buchstabe c und d genannten Medikamente und Unterlagen medizinischem Fachpersonal übergeben wird,
f) sobald eine entsprechende amtsärztliche Äußerung oder Stellungnahme vorliegt, aufgrund der eine Abschiebung des Antragstellers erwogen wird, diese der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers sowie dem beschließenden Gericht in Abschrift zur Kenntnis gegeben wird,
g) sobald entsprechende Zusicherungen des brasilianischen Staates vorliegen, aufgrund derer eine Abschiebung des Antragstellers erwogen wird, diese Erklärungen der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers und dem beschließenden Gericht in Abschrift sowie mit beglaubigter Übersetzung in die deutsche Sprache zur Kenntnis gegeben werden und h) eine Abschiebung nicht vor Ablauf von 12 Werktagen nach Eingang der Unterlagen bei der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers durchgeführt wird.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen einen Bescheid, mit welchem die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und der Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde.
2
Der am …1999 in S. (Brasilien) geborene Antragsteller ist brasilianischer Staatsangehöriger. Er wuchs zunächst zusammen mit seinen Geschwistern (N. , geboren am …1996 und T. , geboren am …2001, beide brasilianische Staatsangehörige) mit seinen Eltern in Brasilien auf. Im Jahr 2009 verließ seine Mutter … zusammen mit seiner älteren Schwester N. das Heimatland, heiratete im Mai 2009 den deutschen Staatsangehörigen …, lebte fortan mit der Tochter bei diesem in … (Landkreis …*) und führte den Nachnamen … Der Antragsteller und sein jüngerer Bruder T. lebten anschließend wechselnd beim Vater und der Großmutter in Brasilien. Am 31. Januar 2011 reiste der Antragsteller mit seinem Bruder T. visumfrei in das Bundesgebiet ein, um einen Aufenthaltstitel zum Kindernachzug zur Mutter zu beantragen.
3
In einem Aktenvermerk vom 7. November 2011 hielt der zuständige Sachbearbeiter der Ausländerbehörde des Landratsamts … (im Folgenden: Ausländerbehörde) fest, es sei der Ausländerbehörde von verschiedenen Seiten zugetragen worden, dass die beiden Kinder T. und A. verhaltensauffällig seien. Es falle ihnen offensichtlich schwer, sich an die hiesigen Verhältnisse und Gepflogenheiten anzupassen. Es sei von gefährlichem Spielverhalten berichtet worden, auch würden die Brüder von der Mutter und dem Stiefvater nicht ausreichend beaufsichtigt. In einem Gespräch am 8. September 2011 habe eine Mitarbeiterin des Kreisjugendamtes berichtet, sämtliche Kinder bereiteten Probleme. T. und A. hörten nicht auf die Eltern, T. sei nach mehreren Verhaltensauffälligkeiten von der Schule verwiesen worden. In einem persönlichen Gespräch mit dem Stiefvater der Kinder am 12. Oktober 2011 habe auch dieser von erzieherischen Problemen mit den Brüdern berichtet. Die Probleme des Kindes T. seien nach dessen Angaben wohl auch auf eine leichte geistige Behinderung zurückzuführen. T. habe in Brasilien Medikamente nehmen müssen und es werde aktuell abgeklärt, welche das gewesen seien. T. gehe nun wie seine Schwester auf eine Sonderschule, die …-Schule in … Der Antragsteller erhielt im November 2011 eine Aufenthaltserlaubnis zum Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG, gültig vom 22. November 2011 bis zum 2. Mai 2014. Er besuchte zunächst die Volksschule in … und ab dem 27. Februar 2012 wie seine Geschwister die …-Schule in … Am 27. Mai 2014 ging bei der Ausländerbehörde für den Antragsteller ein Antrag auf Erteilung beziehungsweise Neuerteilung eines Aufenthaltstitels ein. Dem Antragsteller wurde daraufhin am 11. Dezember 2014 eine bis zum 11. März 2015 gültige Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG ausgestellt. Mit Schreiben vom 8. September 2015 erteilte das Bayerische Landeskriminalamt der Ausländerbehörde eine Auskunft nach § 73 Abs. 2 und 3 AufenthG zur Prüfung von Versagungsgründen nach § 5 Abs. 4 AufenthG für den Zeitraum 6. August 2015 bis 5. September 2015, die mehrere Einträge enthielt. Die Ausländerbehörde vermerkte am 8. Juni 2016 in der Ausländerakte, dass derzeit aufgrund der Vielzahl an vorliegenden Straftaten der Fiktionsstatus belassen werden solle und Entscheidung(en) über die bereits begangenen Straftaten abgewartet werden sollten.
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Am 1. August 2016 wurde der Antragsteller vorläufig festgenommen. Seit dem 2. August 2016 ist der Antragsteller ununterbrochen in der Klinik für Forensische Psychiatrie des Bezirkskrankenhauses … (im Folgenden: Bezirkskrankenhaus) untergebracht. Zunächst erfolgte dies aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts … vom 2. August 2016 (. *), sodann aufgrund Urteils des Landgerichts … vom 13. März 2017 (Az. …*).
5
Mit vorgenanntem Urteil des Landgerichts … vom 13. März 2017 wurde der Antragsteller wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen und mit Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen, in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie Diebstahls in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung schuldig gesprochen. Weiter wurde die Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
6
Nach den Feststellungen des Strafgerichts fiel der Antragsteller seine gesamte Schulzeit über durch Fehlverhalten auf. Die Schule besuchte er unregelmäßig, verweigerte die Mitarbeit im Unterricht und kam zuletzt kaum noch in die Schule, die er im Sommer 2016 ohne Abschluss verließ. Gegenüber anderen Personen verhielt er sich wiederholt aggressiv und dissozial. Im Alter von 14 Jahren konsumierte der Antragsteller erstmals Cannabisprodukte. Vor seiner Inhaftierung rauchte er regelmäßig am Wochenende Marihuana, Haschisch und Kräutermischungen. Der Antragsteller litt wiederholt unter Verfolgungswahn. Dem Polizeieinsatz, der am 1. August 2016 zu seiner Inhaftierung führte, ging die wahnhafte Vorstellung des Antragstellers voraus, er würde von Polizisten verfolgt. Weiterhin litt er unter Sinnestäuschungen und wurde insbesondere immer wieder von sogenannten Lichtblitzen geplagt. Zum Zeitpunkt des strafgerichtlichen Urteils waren beim Antragsteller bereits eine Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (ICD-10 F91.2), eine psychische Verhaltensstörung durch Cannabinoide und Amphetamine (schädlicher Gebrauch, ICD-10 F12.1) eine psychotische Störung (ICD-10 F12.5) sowie eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (ICD-10 F 20.09) diagnostiziert worden. Der Antragsteller ist deswegen wiederholt in den Jahren 2013 bis 2015 in den Kinder- und Jugendpsychiatrien … und … in stationärer Behandlung gewesen (3. Mai bis 12. Juni 2013, 29. bis 30. September 2014, 15. November 2014 bis 3. Februar 2015 sowie 4. Februar 2016 bis 22. März 2016). Eine vom Kreisjugendamt … immer wieder empfohlene ambulante oder stationäre Kinder- und Jugendhilfe wurde vom Antragsteller und seiner Mutter wiederholt abgelehnt. Der Antragsteller hatte bis zum Zeitpunkt des strafgerichtlichen Urteils keine Krankheits- und Medikationseinsicht im Hinblick auf seine Schizophrenie. Er setzte eigenmächtig die verordneten Tabletten ab, so dass es zu akuten Krankheitssymptomen kam, die letztlich zu seinen Handlungen führten, infolge derer er am 1. August 2016 inhaftiert wurde.
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Im Februar 2015 hebelte der Antragsteller zusammen mit seinem Bruder T. in einer katholischen Kirche in … mit einem Schraubenzieher und einem Hammer den mit einem Schloss versperrten Opferstock auf und entwendete hieraus 100,00 Euro Münzgeld. Am Opferstock entstand hierdurch ein Schaden in Höhe von 100,00 Euro.
8
Am 17. August 2015 gegen 6.00 Uhr hielt sich der Antragsteller mit einer anderweitig verfolgten Person am Parkplatz des Busbahnhofs in … auf. Nachdem die beiden eine 0,7-Liter-Flasche Jägermeister leergetrunken hatten, warf der Antragsteller die leere Flasche aus einer Entfernung von circa zehn Metern gegen die Scheibe einer Bushaltestelle, an welcher sie in Scherben zerbrach. Es entbrannte ein Konflikt mit einem Busfahrer, der im weiteren Verlauf versuchte, ihn und die anderweitig verfolgte Person festzuhalten, bis die durch einen weiteren Passanten verständigte Polizei einträfe. Nachdem der Antragsteller sich erneut losgerissen hatte, verpasste er dem Busfahrer von hinten einen Stoß, so dass dieser vor seinem Fahrzeug zu Boden ging. Der Antragsteller stützte sich sodann mit den Armen am Pkw ab und trat den Busfahrer mindestens einmal heftig mit beiden Füßen und schlug ihm im Verlauf des Geschehens jedenfalls einmal gezielt und wuchtig mit der Faust ins Gesicht, um ihn zu verletzen. Der Busfahrer erlitt eine circa einen Zentimeter große Platzwunde unterhalb des linken Auges, ein Hämatom am linken Auge sowie Prellungen und Schmerzen im Rücken- und Rippenbereich.
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In der Nacht vom 26. auf den 27. November 2015 drückte der Antragsteller die Plastikscheibe des Gewächshauses einer Gärtnerei in … ein. Hierdurch gelangte er in die Geschäftsräume, wo er die versperrte Geldkassette aufbrach und hieraus 220,00 Euro Bargeld entwendete. Weiter entwendete er zwei Digitalkameras sowie 10 Rosen. Der Gesamtentwendungsschaden betrug circa 450,00 Euro, der Sachschaden circa 1.000,00 Euro.
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Am Abend des 4. Juni 2016 geriet ein Freund des Antragstellers in einen Konflikt mit einem nicht uniformierten Polizisten, der sich wegen des Verdachts einer Straftat in den Dienst versetzt und sich mit seinem Dienstausweis ausgewiesen hatte. Nachdem er sich entfernt hatte, traf der Freund den Antragsteller in der Nähe und berichtete ihm von dem Vorfall, bei dem der Polizist ihn am Kopf getroffen hatte. Daraufhin rannte der Antragsteller mit erhobenen Fäusten auf den Polizisten zu und griff diesen an um ihn zu verletzen. Der Polizist erlitt Platzwunden an der rechten Schläfe und am rechten Jochbein sowie an der linken und rechten Kopfseite, eine Kratzverletzung am rechten Oberschenkel sowie eine Prellung des rechten Fußes.
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In den Abendstunden des 1. August 2016 wurde der Antragsteller in der Wohnung seiner Familie in … zunehmend aggressiv und schrie herum. Er holte sich aus der Küche drei Fleischermesser mit einer Klingenlänge von jeweils 20 Zentimetern und ein Küchenbeil mit einer Klingenlänge von 17,5 und einer Breite von 8 Zentimetern und drohte damit, seine Schwester, seine Mutter und anschließend sich selbst in der Wohnung „abzustechen“. In seinem Wahn ging der Antragsteller davon aus, von Polizisten verfolgt zu werden. Die Schwester des Antragstellers rief gegen 22.15 Uhr die Polizei, woraufhin gegen 22.40 Uhr vier Polizeibeamte im Anwesen ankamen. Sie konnten den Antragsteller am Fenster des Wintergartens mit Messern bewaffnet stehen sehen und redeten auf diesen ein um ihn dazu zu bewegen, die Messer wegzulegen. Einer der Polizeibeamten begab sich in den unteren Flur des Anwesens und fand den Antragsteller im Treppenhaus des ersten Obergeschosses an der Treppe sitzend vor, die Messer neben sich liegend. Es wurde ein polizeilicher Hundeführer mit Diensthund hinzugeholt. Der Antragsteller bedrohte die Polizeibeamten, sie sollten kommen, dann werde er sie „abstechen“ und sprach Beleidigungen aus. Er drohte auch, den Diensthund „abzustechen“. Schließlich ließ der Hundeführer den Diensthund von der Leine und lief dem Hund, der die Treppe zum Antragsteller hochlief, nach. Daraufhin holte der Antragsteller weit nach hinten aus und warf das Fleischerbeil mit voller Wucht in Richtung des Treppenaufgangs. Ihm war bewusst, dass der Polizeibeamte von dem Beil getroffen und tödlich verletzt hätte werden können und fand sich damit ab. Der Polizeibeamte wurde nur deshalb verfehlt, weil er dem Wurf seitlich ausweichen konnte. Durch den anschließenden Biss des Hundes in die Wade des Antragstellers ließ dieser reflexartig das weiter in seiner Hand befindliche Messer los und wurde so von weiteren Angriffen abgehalten. Nach den Feststellungen und Würdigungen des Strafgerichts war der Antragsteller zum Zeitpunkt des Vorfalls am 1. August 2016 infolge seiner Erkrankung an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie in seiner Fähigkeit, das Unrecht seines Verhaltens einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB. Die Erkrankung war sicher mitursächlich, möglicherweise sogar ausschließlich ursächlich für die Tatbegehung. Zum Zeitpunkt des Strafurteils bestand nach der Feststellung des Strafgerichts eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass der Antragsteller infolge seiner krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB auch künftig weitere Opfer schwerst schädigen wird, wenn nicht seine Unterbringung angeordnet wird.
12
Das Bezirkskrankenhaus regte mit Schreiben vom 22. Mai 2017 mit Blick auf den kurz bevorstehenden Eintritt der Volljährigkeit des Antragstellers eine gesetzliche Betreuung an. Mit Schreiben vom 18. Juli 2017 führte es hierzu aus, der Antragsteller leide unter anderem an einer paranaoid-halluzinatorischen Schizophrenie (ICD-10 F20.0). Die Erkrankung sei schwerwiegend ausgeprägt und betreffe Wahrnehmungen, Kognitionen, Affektbildung, Dynamisierungsfähigkeit und psychophysische Belastbarkeit. Hinsichtlich dieser beeinträchtigten Qualitäten sei im Rahmen des längeren stationären Verlaufs tendenziell eine Besserung eingetreten, welche unter sehr engen und äußerst strukturierten Bedingungen eine weitestgehend unproblematische Führbarkeit des Untergebrachten zulasse. Um den Antragsteller hinsichtlich der paranoiden Psychose effizienter und optimierter behandeln zu können, sei es unumgänglich, diesen über Medikamentenwirkung, -risiken und -nebenwirkungen aufklären zu können. Der Antragsteller sei inhaltlich hinsichtlich des Verständnisses und der Überblicksfähigkeit überfordert, diesbezüglich Entscheidungen selbst treffen zu können. In Zeiten verstärkter psychotischer Aktivierung, die sich auch situations- und stressorenabhängig immer mal wieder während des Behandlungsverlaufs abzeichne, zeige sich der Antragsteller insgesamt dysphorisch gereizt, misstrauischer und krankheitsbedingt dann auch ablehnender. Gerade in diesen Zeiten wäre dann eine Dosisanpassung oder gar Umstellung auf ein potenteres Psychopharmakon wesentlich und benötige es dazu das Einverständnis des Patienten beziehungsweise seines Betreuers. Mit dieser Entscheidung sei der Antragsteller jedoch überfordert. Nachdem der Antragsteller im September 2017 wegen seines Betreuungsbedarfs durch einen Neurologen psychiatrisch begutachtet wurde, ordnete das Amtsgericht … mit Beschluss vom 16. November 2017 (Az. …*) die Betreuung für die Aufgabenbereiche Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern an und bestellte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers zur Betreuerin. Die Betreuung wurde mit Beschluss vom 16. Oktober 2019 verlängert.
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Mit Schreiben vom 19. Juli 2017 hörte die Ausländerbehörde den Antragsteller zur beabsichtigten Ausweisung, Ablehnung der Verlängerung beziehungsweise Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie Abschiebungsandrohung an. Mit Schreiben vom 9. August 2017 nahm der damalige Bevollmächtigte des Antragstellers hierzu Stellung und bat, von der Ausweisung abzusehen. Mit Schreiben vom 3. Januar 2018 zeigte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers dessen Vertretung durch sie an und nahm nach Akteneinsicht mit Schreiben vom 6. Februar 2018 zur beabsichtigten Ausweisung Stellung. Hierzu legte sie auch eine ärztliche Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses vom 26. Januar 2018 vor.
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Mit Bescheid vom 7. Februar 2018 stellte das Versorgungsamt (Zentrum Bayern Familie und Soziales – Region …*) beim Antragsteller eine Behinderung im Sinne des § 2 SGB IX mit einem Grad der Behinderung von 50 fest und stellte ihm einen Schwerbehindertenausweis aus. Mit Änderungsbescheid vom 31. Juli 2023 wurde auf Antrag vom 7. November 2022 zu diesem Datum rückwirkend ein Grad der Behinderung von 80 festgestellt.
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Die Ausländerbehörde schrieb das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 16. Juli 2018 zur Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG an und legte hierzu das Schreiben der Betreuerin des Antragstellers vom 6. Februar 2017, den ärztlichen Bericht vom 26. Januar 2018 sowie den Bescheid des Versorgungsamtes vom 7. Februar 2018 vor. Ein weiterer Arztbrief vom 20. September 2018 wurde dem Bundesamt mit Schreiben vom 27. November 2018 übersendet. Mit Schreiben vom 19. August 2019 nahm das Bundesamt zu den beabsichtigten ausländerrechtlichen Maßnahmen nach § 72 Abs. 2 AufenthG Stellung. Da im vorgelegten Fall allein Krankheitsgründe als Prüfgegenstand zielstaatsbezogener Abschiebeverbote vorgetragen würden, komme es allein auf das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG an. Diesbezüglich ergehe aus Sicht des Bundesamtes eine differenzierte Stellungnahme. Eine auf den Antragsteller zu beziehende individuelle und konkrete Gefahrenlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sei nur dann festzustellen, wenn eine Übergabe in geeignete Hände nicht möglich sei, der Vater oder eine andere Person nicht als Betreuer eingesetzt werden könne, eine Unterbringung des Antragstellers entweder in der Familie des Vaters oder in anderen stationären Strukturen nicht erfolgen könne oder Medikamente für mindestens ein halbes Jahr nicht mitgegeben würden. Unstreitig leide der Antragsteller an einer Paranoiden Schizophrenie und einer Polytoxikomanie. Die Erkrankungen würden mit Risperidon, Bisoprolol und Clozapin behandelt. Unbehandelt würde der Antragsteller ein eigenbeziehungsweise fremdgefährdendes Verhalten entwickeln. Die Erkrankungen des Antragstellers könnten in Brasilien behandelt werden, auch sei die Finanzierung der Behandlung und der Medikamente kostenfrei im Rahmen des einheitlichen Gesundheitssystems SUS möglich. Sollten dennoch Kosten anfallen, so habe der Antragsteller im In- und Ausland zahlreiche Verwandte, die ihn finanziell unterstützen könnten. Dies gelte auch für die Sicherung des Lebensunterhaltes. Insofern könne die Abschiebung unter der Maßgabe der Übergabe in geeignete Hände erfolgen. Diese Sicherstellung liege nach der Rechtsprechung im Verantwortungsbereich der Ausländerbehörde. Hierunter falle auch das Organisieren der Betreuung, das Ausfindigmachen von Familienangehörigen, hier des Vaters, und die Aufnahme des Antragstellers in dessen Verantwortungsbereich oder in den stationären Bereich. Zudem sei es ratsam, einen Medikamentenvorrat mitzugeben.
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Auf Anfrage der Ausländerbehörde mit Sachverhaltsschilderung vom 2. Dezember 2019 teilte das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Recife (Brasilien) mit, dass weder der biologische Vater noch die Großmutter des Antragstellers in Salvador hätten ausfindig gemacht werden können. Da es in Brasilien kein Meldesystem gebe, seien die Aussichten, diese zu finden, sehr gering. Ohne nahe Angehörige, die sich gegebenenfalls um eine Einweisung in eine psychiatrische Institution kümmern „und zahlen !!“ könnten, könne der Antragsteller in Brasilien nicht behandelt werden. Eine Einweisung durch den Staat sehe die Policia Federal im vorliegenden Fall als nicht gegeben an. Mit E-Mail vom 8. Juli 2020 ergänzte die Vertreterin des Generalkonsulats, nach derzeitigem Stand sei eine Einweisung des Antragstellers nach einer Abschiebung nach Brasilien nicht möglich. Wie bereits vorher angedeutet, würde der Antragsteller in Brasilien auf sich gestellt sein und bei Straffälligkeit vermutlich in einen normalen Strafvollzug verbracht werden. Eine günstigere Prognose könne nicht abgegeben werden. Man wolle zudem die Recherche und Stellungnahme eines Rechtsreferendars aus Brasília nicht vorenthalten, die im Februar 2020 beim Generalkonsulat eingegangen sei. Die Analyse des Rechtsreferendars enthält eine deutschsprachige Zusammenfassung des Antwortschreibens der Policia Federal vom 4. Februar 2020. Die Policia Federal habe sich auf den Standpunkt gestellt, dass eine Abschiebung des Antragstellers wegen fehlender familiärer Unterstützung derzeit nicht möglich sei. Ihre ablehnende Haltung stütze die Policia Federal auf die Vorschriften bezüglich der Rechte und des Schutzes von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aufgrund der von der diagnostizierten Krankheit ausgehenden Gefahr sowohl für sich als auch für andere sei es notwendig, die Behandlung des Antragstellers in Brasilien entsprechend fortzusetzen. Für einen stationären Krankenhausaufenthalt bedürfe es jedoch eines „detaillierten medizinischen Berichts“ (médico circunstanciado) in dem eine ausführliche Begründung für einen solchen dargelegt werden müsse. Hinzu komme, dass ein solcher Krankenhausaufenthalt allein auf Grund einer brasilianischen richterlichen Entscheidung angeordnet werden könne. Nach brasilianischem Recht sei jedoch der übergeordnete Zweck der Behandlung eines psychisch Kranken die Wiedereingliederung des Patienten in sein soziales Umfeld und ein stationärer, unfreiwilliger Krankenhausaufenthalt „ultima ratio“, die nur in unheilbaren Fällen durchgeführt werden solle. Da die Schädlichkeit psychiatrischer Krankenhausaufenthalte mehr als erwiesen sei, könne die Mehrheit der psychisch Kranken aufgrund des enormen medizinischen Fortschritts in Bezug auf Beruhigungsmittel bei ihren Familien leben. Für eine Information der brasilianischen Behörden über die Rückführung des Antragstellers fehle es seines Erachtens an einer gesetzlichen Grundlage im deutschen Recht. Auf Anfrage der Ausländerbehörde vom 26. Juli 2023, ob sich bezüglich den Gegebenheiten, der Rechtslage, der Auffassung der brasilianischen Behörden oder der Einschätzung des Generalkonsulats in den vergangenen drei Jahren etwas geändert habe, teilte das Generalkonsulat mit, in Bezug auf die Mitarbeit der brasilianischen Behörden habe sich nach der derzeitigen Einschätzung an den vormals beschriebenen Umständen wenig geändert. Erschwerend komme hinzu, dass der aktuelle Präsident Brasiliens die Schließung der letzten verbliebenen geschlossenen psychiatrischen Kliniken aufgrund des Gesetzes „Lei 10.216, de 2001“ vorantreiben wolle.
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Im Bericht des Bezirkskrankenhauses vom 26. Januar 2018 wurde erläutert, der Suchtmittelkonsum des Antragstellers vor seiner Unterbringung sei eher als unbewusst intendierter Versuch zu sehen, aus der Psychose resultierende Defizite des Wohlbefindens und der sozialen Interaktionsfähigkeit selbst – im Sinne einer Selbstmedikation – händeln zu können. Den Diagnosen sei immanent, dass sie auch über das 20. Lebensjahr hinaus weiterhin vorliegen würden und der Verlauf stressoren- und complianceabhängig von erheblichen Schwankungen gekennzeichnet sein werde. Es stehe zudem zu erwarten, dass der Antragsteller außerhalb eines beschützenden Rahmens in beschaffungsdeliquentes Verhalten abweichen müsse. Die Medikation zur Verbesserung der Symptomatik der schweren Psychose sei außerordentlich wichtig, da sich ohne sie umgehend wieder Symptome wie hohes Misstrauen, ausgeprägte Gereiztheit und in diesem Zusammenhang auch Affektstörungen bis hin zu massiv fremd- und eigengefährdenden Verhalten einstellen könnten. Im Falle einer Abschiebung, welche per se einen erheblichen Stressor und somit einen Belastungsfaktor darstelle, sei eine Verschlechterung des psychopathologischen Befundes zu erwarten. Ohne Medikation und unterstützenden Rahmen sei äußerst zeitnah mit psychotischer Dekompensation zu rechnen, wobei dann auch umgehend mit eigen- und fremdaggressivem Verhalten zu rechnen sei. Im Falle wieder verstärkter Symptombildung wie Halluzinationen, Wahn, Angst und Misstrauen und wegen bisher nicht ausreichend im Patienten verankerter Copingstrategien sei unabhängig von der Medikation wieder hohe Reizbarkeit, paranoide Umdeutungsbereitschaft, Verunsicherung und somit auch fremdaggressives Verhalten – quasi zur Abwehr des Bedrohungserlebens – zu erwarten. In den Berichten des Bezirkskrankenhauses vom 20. September 2018, 23. März 2021, 13. Februar 2023 wurden die zuvor ausgeführten Ergebnisse jeweils bestätigt. Der Patient bedürfe überdauernd der moderierenden Unterstützung sowohl der auf der Station anwesenden Pflegemitarbeiter als auch der akademischen Mitarbeiter um krisenhafte Zuspitzungen zu deeskalieren, die sich in seinem Umfeld entwickelten. Es sei immer wieder zu – auch tätlichen – Konflikten mit Mitpatienten gekommen, in deren Folge der Antragsteller immer wieder kurzfristig auf die Kriseninterventionsstation FP-6 habe verlegt werden müssen. Auch die als vertretbar und legal-prognostisch günstig zu bewertenden begleiteten Ausgänge hätten immer wieder dem psychopathologischen Zustandsbild angepasst werden müssen und gelegentlich nicht umgesetzt werden können. Stets wird ausgeführt, dass wesentliche Therapiefortschritte nicht hätten erreicht werden können. Im Zuge der Deliktbearbeitung hätten bisher ebenfalls keine Erfolge verzeichnet werden können, da hierfür eine psychische Stabilität von Nöten sei, über die der Patient nicht verfüge.
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Im Bericht vom 23. August 2023 wurde vom Bezirkskrankenhaus ausgeführt, der Antragsteller habe vom 17. März 2021 bis 6. November 2022 über eine Lockerungsstufe B (alleiniger Ausgang auf dem Gelände) verfügt und sei von Juli 2022 bis zu einem Zwischenfall im November 2022 auf einer offenen Station gewesen. Im November 2022 sei es zu einem Zwischenfall mit einem Mitpatienten gekommen, der vom Antragsteller sowohl körperlich als auch verbal attackiert worden sei. Allerdings sei unklar, was der Auslöser für die Gewalttätigkeit gewesen sei. Zudem sei der Antragsteller am 28. November 2022 positiv auf Cannabinoide getestet worden. Der Antragsteller sei überfordert gewesen. Schon zu diesem Zeitpunkt habe sich eine beginnende Verschlechterung des psychopathologischen Zustandes bemerkbar gemacht. Am 14. Dezember 2022 sei der Antragsteller von der Kriseninterventionsstation auf die Station FP-4 verlegt worden. Im Verlauf habe sich der Antragsteller zunehmend dysphorisch, angespannt und zeitweise laut gezeigt. Es habe eine deutlich ausgeprägte Störung des formalen Denkens mit verlangsamter Antwortlatenz, zerfahrener Denkstruktur und Inkohärenz bestanden. Im Stationsalltag habe immer wieder beobachtet werden können, wie der Antragsteller auf Portugiesisch Mitpatienten beleidigt, unkontrollierte ruckartige Bewegungen ausgeführt und Selbstgespräche geführt habe. Aufgrund zunehmender psychopathologischer Zustandsverschlechterung sowie seit Jahren bestehenden Augenbeschwerden in Form von Flimmern habe der Verdacht auf eine hirnorganische Störung bestanden. Bis auf unspezifische Veränderungen habe die bildgebende Diagnostik mittels Magnetresonanztomographie jedoch nichts ergeben, insbesondere habe sich der Verdacht auf Multiple Sklerose nicht bestätigt. Inzwischen habe sich der Zustand des Antragstellers weiterhin zunehmend verschlechtert. Jegliche Kontaktaufnahmen hätten zu Missverständnissen und Verwirrung geführt. Mit alltäglichen Angelegenheiten habe sich der Antragsteller schnell überfordert gezeigt und habe inzwischen wieder kurzfristig auf die Kriseninterventionsstation verlegt werden müssen. Der Antragsteller verfüge kaum über Fähigkeiten zur Selbstreflektion, überschätze seine Fähigkeiten, es bestünden eine hochgradige Unreife sowie Sozialisationsdefizite. Der Antragsteller sei nicht hinreichend in der Lage, eigenreflexiv Frühwarnsymptome im Vorfeld von psychischen Dekompensationen wahrzunehmen, er sei hier komplett auf Außenkontrolle und Lenkung angewiesen. Ohne den schützenden Rahmen der aktuellen Behandlungsstation seien jederzeit psychotische Exazerbationen mit Zunahme an impulsiv-dysphorisch gereiztem, in diesem Zusammenhang dann auch selbst- und fremdgefährdendem, Verhalten möglich.
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Mit Bescheid vom 21. Dezember 2023 wies die Ausländerbehörde den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und lehnte seinen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels ab (Ziffer 2). Weiter wurde gegen den Antragsteller ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, welches auf die Dauer von acht Jahren ab seiner Abschiebung beziehungsweise Ausreise aus dem Bundesgebiet befristet wurde, wobei sich diese Frist im Falle einer erfolgreich abgeschlossenen und nachgewiesenen psychiatrischen Behandlung auf fünf Jahre nach Abschiebung beziehungsweise Ausreise verkürzt (Ziffer 3). Dem Antragsteller wurde die Abschiebung unmittelbar aus der angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Brasilien oder in einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen kann oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist, angedroht; für den Fall, dass der Antragsteller sich zum Zeitpunkt der Vollziehbarkeit des Bescheides nicht mehr im Maßregelvollzug befindet, wurde er verpflichtet, die Bundesrepublik Deutschland unverzüglich zu verlassen. Für den Fall, dass der Antragsteller seiner Ausreisepflicht nicht bis spätestens einen Monat nach der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nachkommt, wurde ihm die Abschiebung nach Brasilien oder in einen anderen Staat, der die Einreise erlaubt oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 4).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Das vom Landgericht … mit Urteil vom 13. März 2017 abgeurteilte Verhalten des Antragstellers erfülle die Voraussetzungen des schwerwiegenden Ausweisungsinteresses des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (entspricht § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG n. F.). Ungeachtet der wegen des ordnungsrechtlichen Charakters der Ausweisung unerheblichen Schuldfrage handele es sich bei der Anlasstat um einen Fall schwerster Kriminalität. Die ausländerrechtliche Prognose auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls führe zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr. Das strafrechtlich geahndete Verhalten des Antragstellers stelle eine schwere Gefahr für Leib, Leben und körperliche Unversehrtheit und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. Das Landgericht … habe hierzu festgestellt, dass aufgrund der noch fortbestehenden Erkrankung an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehe, dass der Antragsteller auch künftig weitere Opfer schwerst schädigen würde, wenn keine Unterbringung angeordnet würde. Nach dem Verhalten des Antragstellers und der psychiatrischen Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses vom 25. August 2023 sei auch im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung noch mit erneuten Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere auch gleichartiger Straftaten, durch den Antragsteller zu rechnen, weil wesentliche Therapiefortschritte nicht hätten erreicht werden können. Der vom Antragsteller ausgeübten massiven Gewalt, die zum Tod eines Menschen beziehungsweise schwersten Verletzungen hätte führen sollen und damit Leben und Unversehrtheit eines Menschen akut gefährdet habe, wohne eine solch erhebliche Schwere inne, dass sie mit Blick auf die als hoch einzustufende Wiederholungsgefahr dem Ausweisungsinteresse besonderes Gewicht verleihe.
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Zudem sei eine Ausweisung auch aus generalpräventiven Gesichtspunkten geboten. Ein Gesetzesverstoß in Form einer schweren Straftat gegen besonders schützenswerte Rechtsgüter wie Leib, Leben und Gesundheit bedürfe wegen seiner Schwere neben der strafrechtlichen Verurteilung auch ausländerrechtliche Konsequenzen, um zu zeigen, dass ein solches Verhalten auch aus ausländerrechtlicher Sicht unter keinen Umständen hingenommen werde.
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Eines der in § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG normierten Bleibeinteressen erfülle der Antragsteller nicht. Die Voraussetzungen für das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses im Sinne des § 55 Abs. 1 AufenthG könne er schon deshalb nicht erfüllen, weil der Antragsteller nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sei und auch die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht vorlägen. Auch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse im Sinne des § 55 Abs. 2 AufenthG liege beim Antragsteller nicht vor. Es werde nicht verkannt, dass der Antragsteller nach langer Abwesenheit von seinem Heimatland und mit seiner psychiatrischen Erkrankung bei einer Rückkehr in sein Heimatland auf Schwierigkeiten stoßen werde. Diese erreichten jedoch nicht ein solches Maß, dass sich die Rückkehr unter Beachtung der verfassungsrechtlichen und konventionsrechtlichen Vorgaben als unzumutbar darstelle.
23
Die Abwägung der Interessen nach § 53 Abs. 2 AufenthG ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise des Antragstellers überwiege. Hierbei sei insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass der Antragsteller als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist und dort aufgewachsen sei und sich die Mutter des Antragstellers und zwei seiner Geschwister im Bundesgebiet aufhielten. Der Vater des Antragstellers, dessen Großeltern sowie eine weitere Schwester lebten jedoch noch im Heimatland. Selbst unter Würdigung der Umstände, dass der Antragsteller sich seit fast 13 Jahren dauerhaft im Bundesgebiet aufhalte sowie ein relativ großer Teil seiner bestehenden familiären und sozialen Bindungen ebenfalls im Bundesgebiet zu finden sei, träfen ihn die Folgen einer Ausweisung im Hinblick auf eine ungesicherte Zukunft nicht unverhältnismäßig. Es sei dem Antragsteller durchaus zumutbar und möglich, sich in die Gegebenheiten seines Heimatstaates wieder einzufinden und sich dort zurechtzufinden. Er spreche die Sprache seines Heimatstaates. Durch seine Verwandten in Brasilien oder durch Transferleistungen seiner Mutter und Geschwister in Deutschland könne er finanzielle Unterstützung erhalten. Die Chancen einer (Re-)Integration im Herkunftsstaat seien nicht schlechter zu beurteilen, als die Chance einer Einfügung in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, die dem Antragsteller bisher nicht gelungen sei.
24
Der Antrag des Antragstellers auf Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung vom 12. Mai 2014 sei gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wegen der in Ziffer 1 des Bescheides verfügten Ausweisung abzulehnen, da die Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits kraft Gesetzes ausgeschlossen sei.
25
Die Befristung des nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG zu erlassenden Einreise- und Aufenthaltsverbotes richte sich nach § 11 Abs. 5 AufenthG, weil vom Antragsteller eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Es könne jederzeit erneut mit einem krankheitsbedingten Gewaltausbruch, insbesondere mit einer Gefährdung von Leib und Leben anderer Personen, gerechnet werden. Es sei eine weitere langjährige psychiatrische Behandlung erforderlich, deren nachhaltiger Erfolg noch ungewiss sei. Besonders schützenswerte familiäre und persönliche Bindungen, die einer Ausweisung entgegenstünden, habe der Antragsteller nicht. Eine kurze Frist würde aufgrund der Wiederholungsgefahr den Ausweisungszweck vollkommen verfehlen. Die Möglichkeit der Bedingung der Befristung für den Fall des Nachweises einer erfolgreich abgeschlossenen psychiatrischen Behandlung ergebe sich aus § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG.
26
Auch die Voraussetzungen für eine Abschiebung nach § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG lägen vor. Der Antragsteller sei gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, da er keinen Aufenthaltstitel (mehr) besitze, die Ausreisepflicht sei nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG durch den streitgegenständlichen Bescheid vollziehbar und eine Ausreisefrist nach § 59 Abs. 5 AufenthG nicht gewährt worden. Die Erfüllung der bestehenden Ausreiseverpflichtung sei nicht gesichert, so dass die Überwachung der Ausreise nach § 58 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG erforderlich sei.
27
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG, insbesondere nach dessen Absatz 7 bestehe nicht. Hierzu sei gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG das Bundesamt beteiligt worden. Die psychiatrische Erkrankung des Antragstellers sei in Brasilien behandelbar und sowohl die Behandlung als auch die Medikamente kostenfrei im einheitlichen Gesundheitssystem verfügbar. Für einen Übergangszeitraum sei auch die Mitgabe der erforderlichen Medikamente möglich. Weiterhin könne der Antragsteller durch seine in Brasilien lebende Verwandtschaft und die von der Ausländerbehörde im Rahmen der Abschiebung zu informierenden Behörden bei dessen Rückkehr nach Brasilien in Empfang genommen und entsprechend unterstützt werden. Zudem könne der Antragsteller Transferleistungen von seinen in Deutschland lebenden nahen Angehörigen erhalten.
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Mit am selben Tag beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth eingegangenem Schriftsatz vom 22. Januar 2024 reichte die Betreuerin des Antragstellers als dessen Prozessbevollmächtigte Klage gegen den Bescheid vom 21. Dezember 2023 ein mit den Anträgen, den Antragsgegner zu verurteilen, den Bescheid (Az. …*) vom 21.12.2023, zugestellt am 27.12.2023, aufzuheben (Ziffer 1), festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 AufenthG vorliegen (Ziffer 2) sowie den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller die bestehende Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, hilfsweise eine neue Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (Ziffer 3). Zugleich beantragte sie, dem Antragsteller für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Prozesskostenhilfe unter ihrer Beiordnung zu bewilligen (Ziffer 5). Das Klageverfahren wird am hiesigen Gericht unter dem Aktenzeichen B 6 K 24.59 geführt.
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Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der letzte Kontakt des Antragstellers zu seinem alkoholkranken Vater liege einige Jahre zurück. Dessen Aufenthalt und Kontaktdaten seien unbekannt. Auch zu etwaigen weiteren Familienmitgliedern bestehe kein Kontakt und seien keine Kontaktdaten vorhanden. Die Ausführungen des Antragsgegners, dass der Vater, die Großmutter und eine weitere Schwester des Antragstellers noch in Brasilien leben würden, könnten nicht nachvollzogen werden. Von einer weiteren angeblichen Schwester des Antragstellers und zur Frage, ob Vater und Großmutter noch lebten, sei nichts bekannt. Es sei auch nicht vom Antragsgegner vorgetragen, weshalb er der Ansicht sei, dass der Antragsteller von seinem alkoholkranken Vater und seiner Oma – sofern diese noch lebten – Hilfe zu erwarten habe. Diese Erkenntnis würde nämlich voraussetzen, dass Informationen über die Einkommens- und Lebenssituation der angeblich noch lebenden Verwandten vorlägen. Bei einer Ausreise nach Brasilien habe der Antragsteller keinerlei familiären Rückhalt oder sonstige soziale Kontakte, die ihm helfen würden, seine Existenz in Brasilien mit seiner Erkrankung und ohne entsprechende Ausbildung zu sichern, zumal der Antragsteller als Kind im Alter von 11 Jahren mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Deutschland eingereist und nicht mit dem Leben in Südamerika vertraut sei. Er habe daher keine Möglichkeit gehabt Überlebensstrategien in Brasilien zu entwickeln, was jedoch aufgrund des – im Vergleich zu Deutschland – fehlenden sozialen staatlichen Netzes existentiell notwendig sei. Zudem sei es dem Antragsteller aktuell aufgrund seiner Erkrankung schon in Deutschland nicht möglich ein geregeltes Leben mit eigenem Einkommen zu führen. Er sei auf Hilfe angewiesen, auch wenn er derzeit Fortschritte mache. Darüber hinaus benötige der Antragsteller hochpreisige Medikamente, die für ihn in Brasilien weder zu erhalten noch finanzierbar seien. Eine Krankenversicherung in Brasilien bestehe für den Antragsteller nicht und auch eine staatliche Unterstützung hierfür sei nicht vorhanden. Ohne die Medikamente bestehe beim Antragsteller die Gefahr des Ausbruchs schwerer Psychosen sowie eigen- und fremdgefährdenden Verhaltens.
30
Im Falle einer Abschiebung sei zudem aufgrund des erheblichen Stressfaktors mit einer Verschlechterung des psychopathologischen Befundes zu rechnen. Insofern sei der Antragsteller auch nicht reisefähig.
31
Soweit der Antragsgegner sich darauf berufe, dass keine Behandlungserfolge zu verzeichnen seien, werde darauf verwiesen, dass seitens der Bevollmächtigten des Antragstellers bereits mehrfach darauf hingewiesen worden sei, dass eine Entscheidung über den Aufenthaltsstatus des Antragstellers für diesen von elementarer Wichtigkeit sei. Der Antragsgegner sei über Jahre mit zahlreichen Schreiben und E-Mails der Bevollmächtigten immer wieder gebeten worden, eine schnelle Entscheidung zu treffen, da der Antragsteller durch die Unsicherheit über seine Zukunft in Deutschland bei seiner Familie immer wieder in seiner Therapie zurückgeworfen worden sei, weil ihn die Angst vor einer Abschiebung nach Brasilien dermaßen verfolgt habe. Die Bevollmächtigte habe aus diesem Grund den Antragsgegner unter Fristsetzung zu seiner Entscheidung aufgefordert, da seitens der Therapeuten des Antragstellers mitgeteilt worden sei, dass ein längeres Zuwarten auf eine Entscheidung den Zustand des Antragstellers weiter verschlechtern würde. Insofern seien die Therapieerfolge durch den Antragsgegner bewusst durch eine Nichtverbescheidung boykottiert worden, so dass es grob unbillig sei, dass sich dieser nun darauf berufe, dass keinerlei nennenswerte Therapieerfolge erzielt worden seien. Dies sei zudem nicht richtig, da die Einstellung mit neuen Medikamenten eine deutliche Verbesserung des Zustandes des Antragstellers bewirkt habe. Er sei zwischenzeitlich krankheitseinsichtig und arbeite gut mit. Er habe es geschafft, die Lockerungsstufe C zu erreichen und es sei ein Umzug in eine betreute Wohngemeinschaft geplant. Dies stelle einen erheblichen Fortschritt da, was unter anderem auf die neue Medikation und Therapie zurückzuführen sei. Allerdings hätte der Antragsteller bereits größere Erfolge erzielen können, wenn seitens des Antragsgegners sein ausländerrechtlicher Status, der den Antragsteller sehr belaste, schnellstmöglich geklärt worden wäre.
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Der Antragsgegner begründe das Ausweisungsinteresse damit, dass der Antragsteller wiederholt und in einem erheblichen Umfang gegen die in der Bundesrepublik Deutschland geltende Rechtsordnung verstoßen habe. Hierbei verkenne der Antragsgegner, dass es sich bei den im streitgegenständlichen Bescheid aufgelisteten zwei Straftaten um Jugendstrafrecht gehandelt habe und diese zehn beziehungsweise acht Jahre zurücklägen. Das aus dem Jahr 2014 aufgeführte Vergehen sei bereits aus dem Bundeszentralregister gelöscht worden und dürfe vorliegend nicht mehr zu Lasten des Antragstellers angeführt werden. Die Ursache für die Straftat im Jahr 2016 habe in der Erkrankung des Antragstellers gelegen, weswegen dieser in einem die Schuldfähigkeit ausschließenden Zustand gehandelt habe. Wäre der Antragsteller damals bereits in ärztlicher Behandlung gewesen, wäre es zu der Straftat nicht gekommen. Seit seiner Jugend, innerhalb derer der Antragsteller untherapiert aufgrund seiner Erkrankung zwei Straftaten begangen habe, sei dieser nicht mehr straffällig geworden. Als Erwachsener führe der Antragsteller ein straffreies Leben. Eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich etwaiger Straftaten bestünde beim Antragsteller nur dann, wenn dieser aktuell ohne ärztliche Betreuung und Medikation aus dem Bezirkskrankenhaus oder einer anderen betreuten Wohnform entlassen würde. Dem stünde jedoch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … entgegen. Zudem führe der Antragsteller sich trotz zunehmender Lockerungen, wie etwa bei Stadt- und Geländeausgängen, straffrei.
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Beim Antragsteller lägen darüber hinaus die Voraussetzungen für ein schwerwiegendes Bleibeinteresse i. S. d. § 55 Abs. 2 AufenthG vor. Eine Abschiebung nach Brasilien würde den sicheren Tod des Antragstellers bedeuten, da dieser ohne Ärzte, soziales sowie familiäres Umfeld und Unterstützung, mangelnde Medikation und fehlende Überlebensstrategien dort nicht lebensfähig sei. Damit läge eine existentielle Gefährdung des Antragstellers vor, so dass sich eine Rückkehr nach Brasilien unter Beachtung der verfassungsrechtlichen sowie konventionsrechtlichen Vorgaben als unzumutbar darstelle.
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Die bereits zehn und acht Jahre zurückliegenden zwei Straftaten, die im Jugendalter aufgrund der Erkrankung des Antragstellers erfolgt seien, träten vorliegend aufgrund der durch die Medikation nicht drohenden Wiederholungsgefahr des straffrei lebenden Antragstellers hinter seinem hohen die Existenz betreffenden Bleibeinteresses klar zurück, sodass die Voraussetzungen für Abschiebeverbote erfüllt seien.
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Mit Schriftsatz vom 7. März 2024, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth eingegangen am 11. März 2024, stellte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage (Az. B 6 K 24.59) und beantragte,
die aufschiebende Wirkung der mit Schriftsatz vom 22.01.2024 erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 21.12.2023, Az.: …, des Antragsgegners wiederherzustellen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf das Vorbringen im Klageverfahren verwiesen. Es wurde nochmals betont, dass der Antragsteller mangels staatlicher oder sonstiger Unterstützung gänzlich ohne Versorgung wie Wohnung, Essen, Medikamente und ärztliche Betreuung wäre, da er aufgrund seiner Schwerbehinderung und seiner Erkrankungen nicht in der Lage wäre sich selbst zu versorgen, insbesondere dann nicht, wenn er keine medikamentöse, therapeutische und ärztliche Betreuung bekomme. Eine Ausreise nach Brasilien würde somit seinen Tod bedeuten. Der vom Antragsgegner behauptete familiäre Rückhalt in Brasilien sei faktisch nicht existent. Hierzu habe der Antragsgegner nichts vorgetragen, sondern lediglich pauschale Vermutungen ins Blaue hinein getätigt.
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Mit Schriftsatz vom 25. März 2024 legte die Prozessbevollmächtigte einen Klinikbericht des Bezirkskrankenhauses vom 20. März 2024 vor. Laut dem Bericht seien beim Antragsteller folgende Diagnosen bekannt: Paranoidhalluzinatorische Schizophrenie (F 20.0), Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F 91.2), Polytoxikomanie schädlicher Gebrauch (F 19.1) und ADHS im Erwachsenenalter (F 19.9). Der Antragsteller erhalte einbeziehungsweise zweimal täglich die Antipsychotika Aripiprazol, Haloperidol und Olanzapin, off-label gegen Impulsivität das Medikament Valporat Chrono und gegen Blickkrämpfe Biperiden. Unter dieser Medikation sei es gelungen, beim Antragsteller die psychotische Symptomatik zu kupieren. Der Antragsteller sei formal gedanklich geordneter geworden. Das impulsive Verhalten und emotionale Schwankungen seien kaum mehr vorhanden. Der Antragsteller zeige sich leider weiterhin als schwacher unstrukturierter Patient mit niedriger Stresstoleranz und Belastungsfähigkeit. Er besitze aktuell die Lockerungsstufe B2 (zweckgebundene alleinige Ausgänge zur Arbeitstherapie am Gelände). Es bestehe keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Aus medizinischer Sicht sei der Antragsteller reisefähig.
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Hierzu führte die Prozessbevollmächtigte aus, dass die attestierte medizinische Reisefähigkeit nicht nachvollzogen werden könne. Es werde in diesem Zusammenhang verkannt, dass eine solche Reise den Antragsteller psychisch massiv überfordern würde, was seine Therapiefortschritte zerstören würde. Die vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass bereits die drohende Abschiebung den Antragsteller immer wieder in seiner Therapie zurückgeworfen habe. Insofern sei davon auszugehen, dass eine Abschiebung und die damit verbundene Reise ihn völlig aus dem Gleichgewicht bringen würde. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller aufgrund seiner jahrelangen Unterbringung keinerlei Kompetenzen habe entwickeln können, zu reisen oder sich in anderen Ländern zurecht zu finden. Es möge zutreffend sein, dass der Antragsteller rein physisch in der Lage wäre zu reisen, psychisch und sozial würde hierbei jedoch eine völlige Überforderung vorliegen, was zu einem sofortigen und akuten Rückschritt in seiner Therapie und mit erheblichen sowohl physischen als auch psychischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen einherginge, die in keinem Verhältnis zu einer Ausreise stünden. Dies würde zudem durch eine vermutliche Nichteinnahme der Medikamente erheblich verschlimmert, wenn diese nicht überwacht würde.
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Mit Schriftsatz vom 4. April 2024 beantragte die Ausländerbehörde für den Antragsgegner den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abzulehnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheides Bezug genommen. Ergänzend wurde ausgeführt, dass der Antragsteller reisefähig sei. Dies werde auch dadurch untermauert, dass der Antragsteller in zwei kürzlich von ihm aus erfolgten Anrufen beim Sachbearbeiter der Ausländerbehörde nicht den Eindruck erweckt habe, dass er Angst vor einer Rückführung nach Brasilien habe. Er habe im Gegenteil am 2. April 2024 geäußert, in seine Heimat zurückkehren zu wollen. Ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis könne weder aus Art. 6 GG noch aus Art. 8 EMRK hergeleitet werden.
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Auch zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Eine Behandlung der Erkrankung des Antragstellers sei in Brasilien ohne wesentliche Verschlechterung möglich. Auch nahezu Mittellosen garantiere der brasilianische Staat kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung. Eine Lebensführung des Antragstellers bei seiner Rückkehr nach Brasilien werde nicht leicht werden. Eine existentielle, lebendbedrohliche Notlage werde aber nicht eintreten. Ein Empfangsraum in Brasilien könne durch den Antragsteller selbst beziehungsweise über seine Familie in Deutschland organisiert und sichergestellt werden. Der Antragsteller verfüge nach eigener telefonischer Aussage über eine große Familie in Brasilien und habe telefonischen Kontakt zu seinem Vater. Zudem stehe die Rückführung des Bruders des Antragstellers bevor, der sich um ihn kümmern könne. Das Existenzminimum könne, sollte es dem Antragsteller nicht möglich sein einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, durch die dortige Familie oder Zahlungen seiner Familie in Deutschland und gegebenenfalls Transferleistungen des brasilianischen Staates sichergestellt werden.
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In einem Schreiben vom 11. September 2024 berichtete das Bezirkskrankenhaus zum aktuellen Sachstand bezüglich des Antragstellers. Unter anderem wurde ausgeführt, die aktuelle Medikation bestehe nun aus einer intramuskulären Depotmedikation von Aripiprazol alle acht Wochen, sowie täglich morgens und abends Olanzapin sowie Valporat chrono. In den Wochen zuvor habe sich der Patient sehr wechselhaft bezüglich seiner Stimmungslage und Behandlungsbereitschaft gezeigt. Es sei vermehrt zur Verweigerung ergotherapeutischer Maßnahmen gekommen und der Antragsteller habe häufiger die angeordnete Medikation abgelehnt. Der Antragsteller habe seine Meinung bezüglich seines Verbleibs in Deutschland oder einer Abschiebung nach Brasilien zunehmend gewechselt, der Meinungswechsel sei sogar mehrmals täglich aufgetreten. In den Gesprächen sei deutlich geworden, dass der Antragsteller stark durch die Unklarheit seines Aufenthaltsstatus frustriert sei. Für ihn sei nicht nachvollziehbar, warum die Entscheidung so lange auf sich warten lasse. Hinsichtlich des geplanten Probewohnens in der Einrichtung … habe sich der Antragsteller ambivalent und skeptisch gezeigt. Es sei zu den bekannten selbstüberschätzenden Äußerungen gekommen, dass er in Vollzeit arbeiten und zu seiner Mutter ziehen könne. Gleichzeitig habe er geäußert, dass er keine Therapie mehr machen und nach Brasilien abgeschoben werden wolle, weshalb er mehrfach Therapieangebote und die Medikation verweigert habe. Die engmaschigen therapeutischen Bemühungen des gesamten Teams hätten seine Frustration nur kurzfristig auffangen können. Der Antragsteller habe eine sehr geringe Frustrationstoleranz und kaum Fähigkeiten zur adäquaten emotionalen Regulation gezeigt. Psychopathologisch habe man beobachten können, dass der Antragsteller vermehrt Selbstgespräche in seiner Muttersprache geführt habe. Er habe unkonzentriert gewirkt und sei häufig abgelenkt gewesen, im Kontakt habe er sich ablehnend gezeigt. Seine Denkstruktur sei mehr als gewöhnlich sprunghaft, faselig und teilweise zerfahren gewesen. Am 6. September 2024 habe der Antragsteller raptusartig ohne nachvollziehbaren Grund einem Mitpatienten ins Gesicht geschlagen. Einen anderen Mitpatienten, der dies zu unterbinden versucht habe, habe der Antragsteller mit einem Faustschlag in die rechte Oberkörperseite getroffen. Ein Mitarbeiter sei vom Antragsteller ebenfalls mit einem Faustschlag am Unterkiefer getroffen worden. Es habe ein Ascom-Alarm ausgelöst werden müssen und der Antragsteller sei von mehreren Mitarbeitern aufgrund akuter Fremdgefährdung in einen besonders gesicherten Isolationsraum begleitet worden. Dort habe er sich kooperativ und ruhig verhalten, es sei jedoch mehrfach beobachtet worden, dass der Antragsteller Selbstgespräche geführt habe. In seiner Erzählung habe der Antragsteller berichtet, dass er sich von dem betroffenen Mitpatienten seit längerem provoziert gefühlt habe, da dieser ihn „böse“ angeschaut habe. Warum er den anderen Mitpatienten und den Mitarbeiter geschlagen habe, könne er nicht erklären. Die Konsequenzen seines Verhaltens würden ihn nicht interessieren, er wolle keine Therapie mehr machen und nach Brasilien abgeschoben werden, da er hier keine Hilfe mehr von seiner Familie und keine „ordentliche Therapie“ bekomme. Am 10. September 2024 sei die Unterbringung im besonders gesicherten Raum beendet und der Antragsteller auf die Kriseninterventionsstation FP 06 verlegt worden, wo er sich aktuell in einem Absonderungszimmer (Überwachungsbereich) befinde. Aufgrund der Gewalt gegenüber Mitpatienten und Mitarbeitern sei der Antragsteller von Seiten der Klinik angezeigt worden. Es sei auch wichtig zu erwähnen, dass der Antragsteller während seines langjährigen Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus noch nie zuvor einen Mitarbeiter tätlich angegriffen habe. Der letzte Angriff auf einen Mitpatienten sei am 20. Februar 2022 gewesen. Aus Sicht der Klinik seien die psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen nach acht Jahren intensiver Behandlung ausgeschöpft. Die bisherige Lockerungsstufe B (alleiniger Geländeausgang) sei zurückgenommen worden. Das geplante Probewohnen in der Einrichtung … sei nicht mehr vertretbar und der Antragsteller sei von der Warteliste gestrichen worden. Es sei auch nicht realistisch, dass der Antragsteller wieder auf die Therapiestation zurückverlegt werde. Er sei nicht ausreichend absprachefähig, es bestehe ein latentes Gewaltpotential und ihm fehlten die notwendigen kognitiven Fähigkeiten für eine Psychotherapie sowie die Veränderungsmotivation. Dem Antragsteller sei bewusst, dass der Behandlungsplan gescheitert sei und er wünsche eine schnellstmögliche Abschiebung nach Brasilien. Auf Basis des aktuellen Behandlungsstandes könne derzeit keine positive Legal- und Sozialprognose gestellt werden.
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Auf gerichtliche Anforderung vom 21. Juni 2024 übersendete das Bundesamt dem Gericht am 25. September 2024 eine aktualisierte Stellungnahme nach § 72 Abs. 2 AufenthG. Aus Sicht des Bundesamtes liegen beim Antragsteller keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vor. In E-Mails vom 3. und 16. September 2024 habe die Ausländerbehörde mitgeteilt, dass in Brasilien der Vater, die Großmutter – deren Adresse vorhanden sei – sowie der Bruder des Antragstellers lebten, der am 31. Juli 2024 nach Salvador (Brasilien) abgeschoben worden sei. Weiter zitierte das Bundesamt wörtlich die am 8. Juli 2020 vom Generalkonsulat mitübersendete „nicht vorenthaltene“ Recherche des Rechtsreferendars vom 12. Februar 2020 als „Bericht der Deutschen Botschaft in Brasilia“, der unter „C. Eigene Stellungnahme“ schrieb, seiner Einschätzung nach könne eine medizinische Behandlung des Antragstellers – solange sämtliche anderen Voraussetzungen wie ausführlicher ärztlicher Befund und richterliche Anordnung vorliegen – ohne wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes in Brasilien fortgesetzt werden. Darüber hinaus sei der Prüfungsmaßstab ein nationaler und letztlich auf die Bewertung des Vorliegens einer Extremgefahr beschränkt. Eine solche Extremgefahr könne aufgrund der vorhandenen medizinischen Versorgung des Antragstellers in Brasilien nicht angenommen werden. Weiter führte das Bundesamt aus, in diesem Zusammenhang habe die Ausländerbehörde mitgeteilt, dass der Antragsteller in einem Telefonat im Juni 2021 bestätigt habe, dass seine Schwester N. Kontakt zum Vater habe. In einem Gespräch im März 2023 habe der Antragsteller geäußert, eine große Familie im Herkunftsland zu haben und auch über telefonischen Kontakt zum Vater zu verfügen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liege nicht vor, insbesondere bestehe keine Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK dergestalt, dass zu befürchten sei, dass der Antragsteller in Brasilien nicht in der Lage sei, seinen existentiellen Lebensunterhalt zu sichern, kein Obdach zu finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung zu haben. Der Antragsteller könne zwar aufgrund seiner Erkrankung derzeit keine Erwerbstätigkeit ausüben. Ungeachtet dessen könne er finanzielle Unterstützung durch die in Deutschland lebenden Verwandten erhalten. Zudem lebe der Bruder nunmehr in Brasilien und könne auch für den Lebensunterhalt des Antragstellers sorgen. Auch lebe die Großmutter, deren Adresse bekannt sei, im Herkunftsland und bestehe zum Vater Kontakt. Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- und Ausland sei in die Prognose, ob eine Gefahr für Leib und Leben bestehe, mit einzubeziehen.
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Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liege nicht vor. Nach dem Bericht der European Union Agency for Asylum (EUAA) könnten psychische Erkrankungen in Brasilien sowohl in privaten als auch öffentlichen Einrichtungen behandelt werden. Öffentliche Zentren für psychosoziale Betreuung versorgten Menschen mit schweren anhaltenden psychischen Störungen sowie mit psychischen Störungen, die durch den Missbrauch von Alkohol oder anderen Drogen verursacht würden und eine intensive Überwachung benötigten. Der Zugang zu diesen Zentren könne über die ambulanten Dienste einer primär spezialisierten Pflegeeinheit oder durch Überweisung einer Notaufnahme erfolgen. Allen möglichen Gesundheitsbeeinträchtigungen könne mit den im Herkunftsland vorhandenen medizinischen Mitteln begegnet werden. Eine psychiatrische Langzeitbehandlung bei chronisch psychotischen Patienten sei ebenso möglich, wie ein betreutes Wohnen oder die Pflege zu Hause durch eine psychiatrische Pflegekraft. Alle derzeit verordneten Medikamente seien verfügbar. Allerdings sei Aripiprazol nicht in der Variante der Depotinjektion verfügbar, könne aber durch andere gleich wirksame Wirkstoffe ausgetauscht werden. Im Übrigen entscheide der Facharzt vor Ort, welche Medikamente er verordne. SUS sei das einheitliche Gesundheitssystem, das allen brasilianischen Bürgern in ländlichen und städtischen Gebieten den freien Zugang zu Gesundheitsleistungen ermögliche. Jegliche Bezahlung von Dienstleistungen im öffentlichen Sektor sei verboten. Die notwendigen Medikamente würden ebenso kostenfrei ausgegeben. Eine Übergabe des Antragstellers in geeignete Hände habe zu erfolgen. Diese Sicherstellung liege nach der Rechtsprechung im Verantwortungsbereich der Ausländerbehörde. Ob und inwieweit eine weitere Behandlung des nunmehr austherapierten Antragstellers im Heimatland erfolge, liege im Zuständigkeitsbereich der dort behandelnden Fachärzte. Insoweit habe die Ausländerbehörde, wie von der Policia Federal mitgeteilt, einen ausführlichen ärztlichen Bericht in Übersetzung anzufordern.
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Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2024 teilte die Ausländerbehörde zur Aktualisierung des Sachverhaltes mit, dass T. , der Bruder des Antragstellers, am 31. Juli 2024 nach Salvador in Brasilien abgeschoben worden sei und es diesem nach Aussagen der Schwester N. dort gut ginge und er eine eigene Wohnung habe. Insofern wäre hier auch eine erste Anlaufstelle für den Betroffenen im Falle einer Rückführung vorhanden. Das Amtsgericht … habe als zuständige Strafvollstreckungsbehörde mit Bescheid vom 26. September 2024 (Az. …*) gemäß § 456a StPO entschieden, mit dem Zeitpunkt der Abschiebung des Antragstellers, frühestens zum 1. Dezember 2024, von der weiteren Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abzusehen.
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Mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2024 nahm die Bevollmächtigte des Antragstellers zum Schreiben des Bundesamtes vom 25. September 2024 Stellung. Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes sei eine Abschiebung sowohl nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK als auch nach § 60 Abs. 7 AufenthG unzulässig. Der existentiell notwendige Lebensunterhalt des Antragstellers wäre in Brasilien nicht gesichert. Der Antragsteller habe in Brasilien keinerlei sozialen Kontakte und insbesondere auch keine familiären Kontakte, wie in der Stellungnahme des Bundesamtes falsch und unsubstantiiert ausgeführt werde. Er habe weder Vermögen oder Einkommen, noch einen Anspruch auf staatliche Unterstützung, so dass er nach seiner Ankunft in Brasilien obdachlos wäre. Wie dem entgegengewirkt werden könnte, führe das Bundesamt nicht aus. Darüber hinaus sei der Antragsteller unstreitig auf permanente ärztliche Betreuung und Medikation angewiesen. Das Bundesamt trage vor, das Aripiprazol nicht in der Variante einer Depotinjektion verfügbar sei, es aber gleich wirksame Wirkstoffe gebe, über die ein Facharzt vor Ort entscheiden würde. Dem könne nicht gefolgt werden. Es habe jahrelang gedauert, eine geeignete Medikation für den Antragsteller zu finden. Eine Umstellung auf andere Medikamente würde seinen Zustand erheblich verschlechtern. Zudem sei der Antragsteller nicht in der Lage, Medikamente regelmäßig selbständig einzunehmen, weshalb eine Depotinjektion unerlässlich sei und er ohne diese einer extremen Gefahr ausgesetzt wäre. Es werde bestritten, dass alle anderen notwendigen Medikamente verfügbar seien. Zudem führe das Bundesamt nicht aus, ob die Kosten für diese Medikamente auch über das SUS getragen würden. Dies sei nämlich nicht der Fall. Das Bundesamt verweise hier lediglich pauschal auf das SUS. Unerwähnt bleibe, dass vom SUS nur rudimentäre Leistungen erbracht würden und daher eine Versorgung, wie beispielsweise in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung, nicht erbracht werde. Insbesondere würden auch nicht alle Kosten für Medikamente und Behandlungen übernommen, weshalb der kleine Teil der vermögenden Brasilianer hier entweder Zusatzversicherungen abschließe oder die nicht übernommenen Kosten selbst trage. Hierzu sei der Antragsteller aber nicht in der Lage und würde daher seine lebensnotwendigen Medikamente und eine entsprechende ärztliche Behandlung trotz des SUS nicht erhalten. Der Antragsteller müsste erhebliche Zuzahlungen leisten, für die ihm die finanziellen Mittel fehlten. Die internationale Krankenversicherung „APRIL international“ führe hierzu aus, nach einer Überweisung durch eine elementare SUS-Einheit seien Behandlungen beim Allgemeinarzt und beim Facharzt, Untersuchungen und Tests, Krankenhauseinweisung in ein zugelassenes Zentrum des öffentlichen oder privaten Sektors sowie Medikamente, die als unbedingt notwendig aufgeführt sind und Medikamente, die im Krankenhaus verabreicht werden, vollständig gedeckt. Für andere Gesundheitsleistungen, die von Fachkräften oder privaten Einrichtungen erbracht würden und für die kein Versicherungsschutz durch die Vereinbarung mit dem öffentlichen Sektor bestehe, sowie für die meisten Medikamente trage der Versicherte die Kosten.
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Wie das Bundesamt in seinem Schreiben zutreffend ausführe, könne der Antragsteller keine Erwerbstätigkeit ausüben und auch keine staatliche Unterstützung erhalten. Die Sozialhilfe sei nämlich an den Schulbesuch der Kinder geknüpft, so dass diese für den Antragsteller nicht in Betracht komme. Andere staatliche Unterstützungsleistungen kämen ebenfalls nicht in Betracht. Aus der Stellungnahme des Bundesamtes gehe hervor, dass die Armut in der Bevölkerung jährlich steige und bereits 2021 8,4 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut und weitere 21 Prozent in normaler Armut lebten. Das bedeute, dass ein Drittel der Bevölkerung in extremer beziehungsweise normaler Armut lebe, was damit auch den schwerbehinderten Antragsteller treffen würde, der somit auch die notwendigen Zuzahlungen zu Medikamenten und ärztlichen Behandlungen nicht leisten könnte. Selbst wenn der Antragsteller finanziell und medizinisch in Brasilien abgesichert würde, wäre dieser trotzdem existentiell massiv gefährdet. Der Antragsteller sei schwerbehindert und stehe unter rechtlicher Betreuung. Er habe nie gelernt, eine Wohnung zu finden, Verträge zu schließen, mit Geld umzugehen, seine Post selbst zu bearbeiten, Anträge zu stellen oder sich selbst zu versorgen, etwa durch Einkaufen, Kochen oder Wäschewaschen. Wie aus allen ärztlichen Berichten ersichtlich sei, brauche der Antragsteller eine engmaschige Betreuung, die ihn im Leben strukturiert anleite. Ohne diese sei der Antragsteller nicht überlebensfähig, da ihm dafür auch die intellektuellen Fähigkeiten fehlten. Dies bleibe im Schreiben des Bundesamtes völlig unberücksichtigt, ebenso wie die Schwerbehinderung des Antragstellers. Dieser sei seit seinem 16. Lebensjahr im Bezirkskrankenhaus und habe Überlebensstrategien weder in Deutschland noch in Brasilien gelernt. Er sei nicht in der Lage allein Arzttermine auszumachen, wahrzunehmen, Rezepte einzulösen und zu bezahlen oder die Medikamente regelmäßig einzunehmen. Er wisse nicht, wie man eine Wohnung finde, Verträge abschließe, mit Geld umgehe oder koche. Dies ergebe sich auch aus den im Rahmen der Strafvollstreckung eingeholten externen Prognosegutachen, die zudem weitere Straftaten befürchten ließen, so dass eine Inhaftierung in Brasilien ohne entsprechende Betreuung ebenfalls drohen würde. Im Falle einer Inhaftierung wäre eine medikamentöse und ärztliche Betreuung ebenfalls nicht gegeben. Es sei falsch, dass der Antragsteller finanzielle Unterstützung durch die in Deutschland lebenden Verwandten erhalten könnte. Die in Deutschland lebenden Familienmitglieder verfügten selbst über keinerlei finanzielle Möglichkeiten um den Antragsteller zu unterstützen, täten dies nachweislich auch nicht und würden es auch zukünftig nicht tun können. Bereits in der Vergangenheit habe es oft Situationen gegeben, innerhalb derer der Antragsteller eine kleine finanzielle Unterstützung seitens seiner Familie gebraucht hätte, wie etwa zur Anschaffung von Kleidung oder eines CD-Players. Dies sei nicht möglich gewesen und der Antragsteller habe solche Anschaffungen in kleinen Raten über Monate durch sein Motivationsgeld im Bezirkskrankenhaus abstottern müssen. Zudem sei es der Familie finanziell sehr schlecht gegangen, so dass das damals an diese für den Antragsteller ausgezahlte Kindergeld nicht an den Antragsteller weitergegeben worden sei, obwohl dieser es dringend benötigt hätte und bereits im Bezirkskrankenhaus untergebracht gewesen sei, sodass die Familie für ihn keinerlei finanzielle Aufwendungen mehr zu bestreiten gehabt habe. Dies könne durch die Korrespondenz der Bevollmächtigten mit der Familie belegt werden. Auch sei nicht bekannt, wo und wovon der Bruder des Antragstellers in Brasilien lebe. Zu diesem bestehe kein Kontakt. Zudem handele es sich bei diesem um einen Kriminellen, der aufgrund zahlreicher Straftaten in Deutschland abgeschoben worden sei. Ferner bestehe weder zum Vater noch zu der Großmutter oder sonstigen Verwandten in Brasilien Kontakt. Es seien weder deren Namen, noch deren Kontaktdaten oder Adressen bekannt. Dies sei auch durch den damaligen Bezugstherapeuten Herrn … bestätigt worden. Der Antragsteller wünsche sich natürlich mit seiner Familie Kontakt und behaupte stets wahrheitswidrig, dass dieser Kontakt bestünde. Es könne jedoch durch die Bezugstherapeuten bestätigt werden, dass es sich dabei lediglich um Wunschdenken des Antragstellers handele, der nach außen gerne eine heile Familie darstelle. Trotz jahrelanger Betreuung des Antragstellers sei es weder den Bezugstherapeuten noch sonstigem Personal des Bezirkskrankenhauses gelungen, Kontakt zu diesen Familienmitgliedern herzustellen. Möglicherweise lebten die Großmutter sowie der alkoholabhängige Vater des Antragstellers auch nicht mehr.
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Der Antragsteller habe der Prozessbevollmächtigten in einem Telefonat am 17. Oktober 2024 mitgeteilt, dass er in Deutschland bei seiner Familie bleiben, seinen Schulabschluss nachholen und danach eine Ausbildung anfangen sowie in einer betreuten Wohngemeinschaft leben wolle. Der Antragsteller habe berichtet, dass er von den Mitarbeitern im Bezirkskrankenhaus dazu gedrängt worden sei, zu sagen, dass er nach Brasilien ausreisen wolle, weil man im Bezirkskrankenhaus nichts mehr für ihn machen könne. Dies sei ihm konkret durch Herrn … mitgeteilt worden. Dieser habe ihn auch gedrängt, ein Papier zu unterschreiben, damit dieser sich direkt an die Ausländerbehörde wenden könne. Zudem sei ihm nahegelegt worden, sich einen anderen Anwalt zu suchen, da die Bevollmächtigte des Antragstellers dessen Ausreise nach Brasilien verhindere. Man habe ihm dabei auch angeboten, ihm dabei zu helfen, sich einen neuen Anwalt zu suchen. Es sei daher dringend geboten, den Antragsteller vor einer etwaigen Entscheidung persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Der ehemalige Bezugstherapeut Herr … werde zudem bei einer Zeugeneinvernahme bestätigen können, dass der Antragsteller unter anderem auch deshalb immer wieder Rückschritte in der Therapie gemacht habe, weil ihn gerade das Thema mit der über Jahre über ihm schwebenden drohenden Abschiebung massiv belastet und ihn immer wieder aus der Bahn geworfen habe. Die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens sei auch deswegen erforderlich, da durch das Bezirkskrankenhaus nach Mitteilung des Antragstellers alles unternommen würde, die Abschiebung des Antragstellers voranzutreiben, wie sich auch aus der vom Antragsteller berichteten Einflussnahme durch das Personal ergebe. Der Antragsteller sei nicht austherapiert und werde ohne die seit Jahren anhaltende Belastung durch die drohende Abschiebung zukünftig erhebliche Therapiefortschritte machen. Die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens werde dies ergeben. Die Bevollmächtigte des Antragstellers habe deshalb seit Jahren versucht, eine Klärung des Aufenthaltsstatus mit der Ausländerbehörde zu erreichen. Insofern sei es grob unbillig, wenn sich die Ausländerbehörde nunmehr nach jahrelanger bewusst destruktiv langer Verfahrensdauer darauf berufe, dass der Antragsteller keine ausreichenden Therapiefortschritte gemacht habe, obwohl die Problematik, dass dadurch dessen Therapieerfolge blockiert würden, bekannt gewesen sei.
49
Zum Vorfall am 6. September 2024 habe der Antragsteller seiner Prozessbevollmächtigten telefonisch berichtet, er habe nur in Notwehr gehandelt, da der Mitpatient auf ihn losgestürmt sei und der Antragsteller geglaubt habe, von diesem angegriffen zu werden. Auch dies zeige, dass der Antragsteller dringend auf Unterstützung in seinem Umfeld angewiesen sei um vor einer solchen Situation mit entsprechender körperlicher Reaktion bewahrt zu werden, da eine solche außerhalb einer geschützten Einrichtung die Inhaftierung in Brasilien mit lebensbedrohlichen Konsequenzen mangels Medikation zur Folge haben könne.
50
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowohl dieses als auch auf die des Hauptsacheverfahrens (Az. B 6 K 24.59) sowie auf die beigezogenen Akten des Landratsamtes … (Behördenakte Ausländerbehörde sowie zusammengestellte Strafakte), der Staatsanwaltschaft … mit den Aktenzeichen … und … (Ermittlungsakten) und des Amtsgerichts … mit dem Aktenzeichen … (Betreuungsakte, ab Bl. 206 elektronisch geführt) Bezug genommen.
51
1. Der gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen, ist entsprechend des Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers nach § 122 Abs. 1, § 88 VwGO sachdienlich als Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 22. Januar 2024 gegen die Ziffern 2, 3 und 4 des Bescheides des Antragsgegners vom 21. Dezember 2023 auszulegen, da die Klage gegen die in Ziffer 1 des Bescheides verfügte Ausweisung nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bereits aufschiebende Wirkung entfaltet.
52
2. Soweit sich der Antragsteller gegen die Ablehnung seines Antrags auf Erteilung beziehungsweise Verlängerung eines Aufenthaltstitels wendet, kann seine Zulässigkeit offen bleiben, weil der Antrag jedenfalls offensichtlich unbegründet ist.
53
a) An der Zulässigkeit bleiben unter Hinzuziehung der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verfügbaren Erkenntnismittel Zweifel.
54
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis entfällt zwar kraft Gesetzes nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, so dass insoweit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO grundsätzlich statthaft wäre.
55
Es ist jedoch nicht abschließend feststellbar, ob der Antragsteller diesbezüglich das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis hat. Die Zulässigkeit eines jeden Antrags auf gerichtliche Entscheidung erfordert, dass der Antragsteller ein schutzwürdiges Interesse an dem erstrebten Rechtsschutzziel hat (vgl. BayVGH, B. v. 30.7.2013 – 10 ZB 12.1138, 10 AS 13.1315 – juris Rn. 10). Dies setzt im Fall eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO voraus, dass die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu einer Verbesserung der Rechtsstellung des Antragstellers führen könnte, für diesen also nicht von vornherein nutzlos erscheint (vgl. BVerfG, B. v. 10.6.2020 – 2 BvR 297/20 – juris Rn. 14 m. w. N.). Gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels besteht daher nur dann ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, wenn dem Titelerteilungsantrag die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 Satz 1 AufenthG zukam. Denn in diesen Fällen ist in der Beseitigung der Fiktionswirkung durch die ablehnende Behördenentscheidung ein belastender, gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kraft Gesetzes sofort vollziehbarer Verwaltungsakt zu sehen (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, 19. Ed. Stand 1.7.2024, § 81 AufenthG Rn. 41 ff. m. w. N.). Die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers ist mit Ablauf des 2. Mai 2014 erloschen, ein Antrag auf Verlängerung beziehungsweise Neuerteilung eines Aufenthaltstitels wurde für ihn jedoch erst mit bei der Ausländerbehörde am 27. Mai 2014 eingegangenem Antrag und somit nach Ablauf des bisherigen Aufenthaltstitels gestellt. Eine kraft Gesetzes eintretende Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG konnte der Antrag damit nicht auslösen. Bei verspäteter Antragstellung kann die Ausländerbehörde jedoch nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Fortgeltungswirkung anordnen. Aus der vorgelegten Behördenakte ist auch ersichtlich, dass die Ausländerbehörde dem Antragsteller erstmals am 11. Dezember 2014 eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG ausgestellt hat. In einer solchen Ausstellung kann zwar auch die konkludente Anordnung der Fortgeltung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG liegen, alleine aus der Erteilung einer Fiktionsbescheinigung kann jedoch nicht darauf geschlossen werden, dass die Ausländerbehörde die Fortgeltungsfiktion auch angeordnet hat, weil die Fiktionsbescheinigung lediglich deklaratorischen Charakter besitzt. Entscheidend für die Auslegung des behördlichen Verhaltens sind stets die Umstände des Einzelfalls (vgl. zum Ganzen: Zimmerer in BeckOK MigR, 19. Ed. Stand 1.7.2024, § 81 AufenthG Rn. 34 f. m. etl. N. auch zur obergerichtlichen Rspr.). Eine entsprechende Verfügung ist in der den Antragsteller betreffenden Behördenakte nicht ersichtlich, die genaueren Umstände des Einzelfalls lassen sich im hiesigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht ermitteln.
56
b) Das Gericht kann die Frage der Zulässigkeit vorliegend jedoch offen lassen, weil der Antrag jedenfalls offensichtlich unbegründet ist.
57
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO entscheidet das Gericht auf Grundlage einer eigenen Abwägung des nach der Wertung des Gesetzgebers grundsätzlich gegebenen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und des Interesses des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens entsprechend nur auf der Grundlage einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann (st. Rspr. vgl. nur BVerwG, B. v. 16.9.2014 – 7 VR 1/14 – NVwZ 2015, 82 Rn. 10). Wird die Klage offensichtlich erfolglos bleiben, weil der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und/oder keine Rechte des Antragstellers verletzt, wird der Antrag abgelehnt (Külpmann in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 970 m. w. N.). Der Antrag hat hingegen Erfolg, wenn die Klage offensichtlich Erfolg haben wird, weil der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, weil dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts bestehen kann oder wenn das private Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Vollzugsinteresse aus anderen Gründen überwiegt.
58
An diesen Grundsätzen gemessen fällt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Soweit sich die Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung beziehungsweise Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides richtet, hat die Klage keine Erfolgsaussichten, weil die Ablehnung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt.
59
Dem Erfolg der Klage steht nach § 11 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Satz 1 AufenthG bereits die Sperrwirkung des in Ziffer 3 des Bescheides erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots entgegen.
60
aa) Die Titelerteilungssperre ist unmittelbare Folge des Einreise- und Aufenthaltsverbots. Der Eintritt der Titelerteilungssperre setzt ein vollziehbares Einreise- und Aufenthaltsverbot voraus, nicht aber dessen Bestandskraft. Da die Klage gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung hat und durch diesen Beschluss auch nicht angeordnet wird, ist diese Voraussetzung gegeben.
61
Dennoch kann es mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG erforderlich sein, im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auch die Rechtmäßigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots gerichtlich zu kontrollieren. Dies war unter der bis zum 20. August 2019 geltenden Rechtslage in Bezug auf die Ausweisung anerkannt, welche die Titelerteilungssperre unmittelbar auslöste. An einem solchen Erfordernis der inzidenten Kontrolle des auslösenden Verwaltungsakts hat sich infolge der Neufassung des § 11 AufenthG nichts dadurch geändert, dass die Titelerteilungssperre nun nicht mehr unmittelbar aus der Ausweisung, sondern aus dem nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zwingend mit der Ausweisung zu erlassenden Einreise- und Aufenthaltsverbot folgt. Da der Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots seinerseits wiederum allein den Erlass einer wirksamen Ausweisung erfordert, die ihrerseits weder bestandskräftig noch vollziehbar sein muss, kann im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Ablehnung eines Aufenthaltstitels die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Ausweisung nach wie vor nicht unberücksichtigt bleiben. Die Ausweisung bleibt auch nach der Neuregelung der eigentliche Grund für die Titelerteilungssperre und die intendierte Aufenthaltsbeendigung. Dagegen fordert das Gebot effektiven Rechtsschutzes im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht, bei der gerichtlichen Kontrolle der Versagung der Aufenthaltserlaubnis die Rechtmäßigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots auch im Übrigen umfassend zu berücksichtigen. Insbesondere muss die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung oder Neuerteilung eines Aufenthaltstitels nicht angeordnet werden, wenn das Einreise- und Aufenthaltsverbot nur deshalb rechtswidrig ist, weil es fehlerhaft befristet worden ist, die Ausweisung aber rechtmäßig ist (vgl. zum Ganzen: VGH BW, B. v. 31.1.2020 – 11 S 3477/19 – juris Rn. 16 ff.; VG München, B. v. 20.3.2023 – M 12 S 23.622 – juris Rn. 40 ff.).
62
bb) Die danach erforderliche Inzidentprüfung der Ausweisung ergibt, dass diese rechtmäßig ist. Daraus folgt, dass auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot, soweit es auf Grundlage der Ausweisung erlassen wurde, rechtmäßig ist. Daher besteht kein Grund, die Sperrwirkung des wirksam erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Versagung der Verlängerung oder Neuerteilung der Aufenthaltserlaubnis zu durchbrechen.
63
(1) Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
§§ 54 und 55 AufenthG konkretisieren den in § 53 Abs. 1 AufenthG geregelten Grundtatbestand, indem sie, nicht abschließend, einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beimessen, jeweils qualifiziert als entweder „besonders schwer wiegend“ (Abs. 1) oder als „schwer wiegend“ (Abs. 2). Auch wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist, ist bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisung stets festzustellen, ob die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht. Darüber hinaus können auch generalpräventive Gründe ein Ausweisungsinteresse begründen. Denn nicht nur das persönliche Verhalten eines Ausländers kann eine Gefahr darstellen, sondern nach dem Wortlaut von § 53 Abs. 1 AufenthG kann auch bereits der weitere Aufenthalt als solcher eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bewirken (BVerwG, U. v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 = InfAuslR 2019, 381 Rn. 17).
64
Bei der Abwägung zwischen den Ausweisungs- und den Bleibeinteressen, einer gebundenen und deshalb gerichtlich voll überprüfbaren Entscheidung auf der Tatbestandsseite, sind die in § 53 Abs. 2 AufenthG ebenfalls nicht abschließend aufgezählten Umstände und das Ausweisungsbeziehungsweise Bleibeinteresse gemäß §§ 54 und 55 AufenthG nach ihrem spezifischen Gewicht zu berücksichtigen (grundlegend zur spezialpräventiven Ausweisung BVerwG, U. v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883, jew. Rn. 20 ff.; grundlegend zur generalpräventiven Ausweisung BVerwG, U. v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 = InfAuslR 2019, 381 Rn. 17).
65
(2) Der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG jedenfalls unter spezialpräventiven Gesichtspunkten.
66
(a) Bezüglich des Antragstellers liegt ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet worden ist.
67
Diese Voraussetzungen sind beim Antragsteller erfüllt, denn er wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts … vom 13. März 2017 (Az. …*) wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen und mit Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen, in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie des Diebstahls in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung verurteilt und es wurde die Unterbringung des Antragstellers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Nicht gegen das Vorliegen des besonders schwer wiegenden Ausweisungsinteresses spricht, dass im Zeitpunkt der schwerwiegendsten Tat am 1. August 2016 nach den Feststellungen des Landgerichts … die Fähigkeiten des Antragstellers, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war und dass die Erkrankung des Antragstellers, wenn nicht sogar ausschließlich, mindestens mitursächlich für die Tatbegehung war. Dies folgt schon aus der Natur des Ausweisungsverfahrens, das als Instrument des Sicherheitsrechts die Abwehr der vom Aufenthalt eines Ausländers ausgehenden Gefahr bezweckt, so dass die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit keine maßgebende Rolle spielen kann (vgl. BayVGH, B. v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 9; B. v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 7; VG Bayreuth, B. v. 22.6.2023 – B 6 S 23.285 – juris Rn. 133). Seit dem 16. Mai 2024 ist zudem die Regelung des vertypten Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG um den Fall der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer oder mehrerer Straftaten ohne Verhängung einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren, jedoch mit Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB geregelt. Damit werden explizit die Fälle der Tatbegehung im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit erfasst.
68
(b) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geht auch noch weiterhin vom Antragsteller selbst aus, so dass spezialpräventive Gründe für eine Ausweisung sprechen.
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(aa) Eine spezialpräventiv motivierte Ausweisung, welche die Abwehr einer von dem Aufenthalt des Ausländers ausgehenden Gefährdung bezweckt, setzt die Feststellung einer Wiederholungsgefahr auf Grund einer individuellen Würdigung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls voraus. Hierfür haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B. v. 18.10.2022 – 19 ZB 22.1499 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, B. v. 9.1.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn. 15; B. v. 18.10.2022 – 19 ZB 22.1499 – juris Rn. 22 m. w. N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st. Rspr, vgl. statt Vieler: BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
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(bb) Bei Anlegung dieser Maßstäbe ergibt die Prognose, dass beim Antragsteller eine hohe Wiederholungsgefahr besteht.
71
Der Antragsteller hat seit seiner Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland als elfjähriges Kind Verhaltensauffälligkeiten gezeigt. Nach den Feststellungen des Landgerichts … konsumierte der Antragsteller ab dem vierzehnten Lebensjahr Cannabis- und andere berauschende Produkte. Etwa zeitgleich damit, nämlich erstmals vom 3. Mai 2013 bis zum 12. Juni 2013 begann eine Reihe von stationären Behandlungen in Kinder- und Jugendpsychiatrien. Wie die abgeurteilten Sachverhalte zeigen, eskalierte in dieser Zeit auch die Gefährlichkeit des Verhaltens des Antragstellers und er wurde regelmäßig straffällig. Dies gipfelte in dem Vorfall vom 1. August 2016, bei dem der Antragsteller unter anderem ein Fleischerbeil auf einen Polizeibeamten warf, wobei letzterer hätte tödlich verletzt werden können. Der Polizeibeamte wurde nur deswegen nicht getroffen, weil er dem Wurf seitlich ausweichen konnte. Der Antragsteller musste mit einem Diensthund niedergestreckt werden. Seit dem 2. August 2016 ist der Antragsteller ununterbrochen auf gerichtliche Anordnung im Bezirkskrankenhaus untergebracht. Diesbezüglich ging das Landgericht … im Urteil vom 13. März 2017 unter Berücksichtigung der gesamten Persönlichkeit, Biographie und Krankheitsentwicklung des Antragstellers nachvollziehbar davon aus, dass eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestand, dass der Antragsteller infolge seiner Erkrankungen auch künftig weitere Opfer schwerst schädigt, wenn nicht seine Unterbringung angeordnet wird. Die Kammer hat keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Einschätzung.
72
Diese vom Antragsteller ausgehende extreme Gefahr ist trotz der nunmehr über acht Jahre andauernden Unterbringung und Behandlung bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht entfallen. Dies ergibt sich eindeutig sowohl aus den etlichen dem Gericht vorgelegten und in den beigezogenen Akten befindlichen ärztlichen Berichten, als auch aus dem Vorbringen der Prozessbevollmächtigten selbst.
73
Der Antragsteller leidet sicher an einer schweren Form der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie (ICD-10 F20.0) und Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (ICD-10 F91.2). Keine Anhaltspunkte für Zweifel hat das Gericht an den weiteren Diagnosen polytoxikomaner schädlicher Gebrauch (ICD-10 F19.1) und ADHS im Erwachsenenalter (ICD-10 F90.9).
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Zwar war laut dem Bericht des Bezirkskrankenhauses vom 26. Januar 2018 „tendenziell eine Besserung eingetreten“, diese ermöglichte jedoch nur eine „unter sehr engen und äußerst strukturierten Bedingungen weitestgehend unproblematische Führbarkeit des Untergebrachten“ sowie eine therapeutische Zugänglichkeit. In den Berichten des Bezirkskrankenhauses wurde über Jahre hinweg stets ausgeführt, dass wesentliche Therapiefortschritte nicht hätten erreicht werden können. Im Zuge der Deliktbearbeitung hätten bisher ebenfalls keine Erfolge verzeichnet werden können, da hierfür eine psychische Stabilität von Nöten sei, über die der Patient nicht verfüge. Seit November 2022 zeichnet sich nach den Klinikberichten sogar eine Verschlechterung des psychopathologischen Zustandes des Antragstellers ab. Aus dem bereits ausführlich zusammengefassten Bericht des Bezirkskrankenhauses vom 11. September 2024 ergeben sich erhebliche Rückschritte des Antragstellers. Die vom Antragsteller stets latent ausgehende Gefahr hat sich darin realisiert, dass er am 6. September 2024 zwei Mitpatienten und erstmals auch einen Mitarbeiter des Bezirkskrankenhauses tätlich angegriffen hat. Lockerungsstufen wurden zurückgenommen und der Antragsteller wurde von der Warteliste für ein geplantes Probewohnen in einer Einrichtung gestrichen. Das Bezirkskrankenhaus hält eine Rückverlegung des Antragstellers auf die geschlossene Therapiestation wegen seines latenten Gewaltpotentials nicht mehr für vertretbar und verneint eine positive Legal- und Sozialprognose. Die Einschätzung des Eskalations- und Gewaltpotentials wird nach eingehender Bewertung und Gesamtschau der vorgelegten und beigezogenen Unterlagen von der Kammer für nachvollziehbar und stimmig gehalten und das Bewertungsergebnis auch geteilt.
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Die Bevollmächtigte des Antragstellers tritt zwar der Darstellung des Bezirkskrankenhauses, dass der Antragsteller austherapiert sei, also die psychotherapeutischen und medikamentösen Maßnahmen zur Behandlung des Antragstellers ausgeschöpft seien und eine Therapie im Sinne einer nachhaltigen Zustandsverbesserung des Antragstellers in absehbarer Zeit nicht realistisch sei, mit substantiiertem Vorbringen entgegen. Bezüglich dieses Vorbringens bestätigen nahezu sämtliche Berichte des Bezirkskrankenhauses die Darstellung der Prozessbevollmächtigten, dass die Ungewissheit über seinen künftigen Aufenthaltsstatus und die Angst vor einer Abschiebung nach Brasilien den Antragsteller über Jahre hinweg in einem Ausmaß psychisch belastet haben, dass dies einen negativen Einfluss auf den gesundheitlichen Zustand und den Therapieverlauf des Antragstellers hatte. Deswegen hat sich seine Bevollmächtigte über Jahre hinweg unter Hinweis auf eine Blockade des Therapiefortschritts um eine zügige Klärung bezüglich der von der Ausländerbehörde beabsichtigten Ausweisung bemüht. Allerdings trägt seine Prozessbevollmächtigte selbst vor, dass der Antragsteller nicht in der Lage sei, ohne Überwachung seine Medikamente regelmäßig einzunehmen und dass in diesem Fall auch eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich etwaiger Straftaten bestünde. Er sei auf permanente engmaschige ärztliche und sonstige Betreuung angewiesen. Auch aus den im Rahmen der Strafvollstreckung eingeholten externen Prognosegutachten ergebe sich, dass in dem Fall, dass der Antragsteller in eine freie Lebenssituation ohne Betreuung entlassen werden würde, weitere Straftaten zu befürchten seien. Der Vorfall am 6. September 2024 sei vom Antragsteller als Notwehr wahrgenommen worden, was zeige, dass er dringend auf Unterstützung angewiesen sei um vor einer solchen Situation mit entsprechender körperlicher Reaktion bewahrt zu werden, da eine solche außerhalb einer geschützten Einrichtung zu erwarten sei.
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Damit entspricht es sogar dem unwidersprochenen und nachvollziehbaren Vorbringen der Antragstellerseite, dass der Antragsteller derzeit allenfalls in einer besonders gesicherten Umgebung unter ständiger Überwachung insbesondere der Medikation und permanenter fachkundiger Betreuung so gelenkt werden kann, dass die von ihm für sich und andere ausgehenden Gefahren sich nicht realisieren. Die anhaltende erhebliche Gefährlichkeit des Antragstellers außerhalb einer stationären Umgebung wird schließlich auch durch den Fortbestand der gerichtlich angeordneten Unterbringung selbst bestätigt. Angesichts der gegenüber § 63 Satz 1 StGB erhöhten Anforderungen, die § 67d Abs. 6 Satz 2 StGB an eine Unterbringung ab einer Dauer von sechs Jahren stellt, ist davon auszugehen, dass auch das Strafvollstreckungsgericht trotz mindestens jährlicher Überprüfung nach § 67e Abs. 1 und 2 StGB weiter hiervon ausgeht.
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Nicht gegen eine Wiederholungsgefahr spricht das Vorbringen, dass die abgeurteilten Straftaten in der Jugend des Antragstellers begangen worden seien, etliche Jahre zurücklägen und der Antragsteller als Erwachsener ein straffreies Leben geführt habe. Der Antragsteller ist seit dem 2. August 2016 ununterbrochen auf gerichtliche Anordnung im kontrollierten Umfeld einer psychiatrischen Behandlungsstation untergebracht. Ein straffreies Verhalten unter den regulierten und schützenden Bedingungen einer Unterbringung oder therapeutischen Wohngemeinschaft lässt nicht darauf schließen, dass es dem Antragsteller gelungen wäre, sein Verhalten innerlich gefestigt so weit zu ändern, dass auch ein straffreies Leben in Freiheit zu erwarten wäre (vgl. BayVGH, B. v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – juris Rn. 29; B. v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10 m. w. N.). Die Bevollmächtigte führt selbst aus, dass eine vom Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr bestünde, wenn er aus dem Bezirkskrankenhaus oder einer anderen betreuten Wohnform entlassen würde, was derzeit durch die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer verhindert werde. Auch wenn eine Entlassung des Antragstellers in ein freies Leben in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Jahren völlig unrealistisch erscheint, ist für die aufenthaltsrechtliche Prognose nicht darauf abzustellen, welche Gefahren vom Antragsteller bei unterstellter fortdauernder Unterbringung ausgehen. Die Unterbringung ist eine staatliche Maßnahme, die dem Schutz des Antragstellers und der Allgemeinheit vor den von ihm ausgehenden Gefahren dient. Sie beseitigt diese Gefahren jedoch nicht (vgl. etwa BayVGH, B. v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 5 ff.), weshalb ihnen auf ordnungsrechtlicher Ebene – wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen – mit einer spezialpräventiven Ausweisung entgegengewirkt werden muss.
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Auf die Frage, ob der Antragsteller derzeit austherapiert ist oder ob er nach einer für ihn positiven aufenthaltsrechtlichen Entscheidung zukünftig erhebliche Therapiefortschritte machen kann, kommt es nicht an. Maßgeblicher Prognosezeitpunkt für die Frage der Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung beziehungsweise im Verwaltungsstreitverfahren die Entscheidung des Gerichts über die Ausweisung (st. Rspr., vgl. nur BayVGH, B. v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 6). Ein Ausländer hat auch dann, wenn er sich noch in einer entsprechenden Einrichtung befindet und es Anzeichen für eine erfolgreiche Behandlung gibt, keinen Anspruch darauf, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus so lange andauert, bis seine Erkrankung so weit behandelt ist, dass die Maßnahme für erledigt erklärt werden kann. Mögliche künftige Entwicklungen, insbesondere durch eine fortlaufende therapeutische Behandlung, sagen nichts über die aktuell vom Antragsteller ausgehende Gefährdung aus. Insoweit besteht auch kein Grund, einen weiteren Therapieverlauf abzuwarten (vgl. BayVGH, B. v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 7; B. v. 12.6.2023 – 19 CS 23.708 – juris Rn. 21). Ohne Auswirkungen auf die zu treffende Gefahrenprognose bleiben auch die vorgebrachten möglichen Auswirkungen einer Ausweisung beziehungsweise Abschiebung auf den Therapieerfolg. Auch insoweit besteht kein Anspruch darauf, so lange in einer Therapieeinrichtung in der Bundesrepublik zu verbleiben, bis die Erkrankungssymptome in einem Maß gemildert wurden, dass keine negative Gefahrenprognose mehr besteht (BayVGH, B. v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 9).
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Weiter kommt es für die Gefahrenprognose nicht darauf an, ob die ausgebliebenen Therapiefortschritte teilweise auch auf die lange Dauer des Verwaltungsverfahrens zurückzuführen sind. Bei der Ausweisung handelt es sich nicht um eine Sanktion, sondern um eine Maßnahme der Gefahrenabwehr. Aus Sicht der Kammer bestehen nach dem aktuellen Verfahrensstand keine Zweifel daran, dass der Antragsteller seit Jahren und auch aktuell für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die Realisierung dieser Gefahr wird derzeit weitgehend durch die Unterbringung des Antragstellers eingedämmt. Für die Einschätzung der vom Antragsteller konkret ausgehenden Gefahr kommt es weder darauf an, ob jener diese Gefahr in irgendeiner Weise zu verschulden hat, noch ob andere – etwa die Ausländerbehörde – eine Mitursache für die ausgebliebene Beseitigung oder Abschwächung dieser Gefahr gesetzt haben.
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Ohne dass es hierauf noch ankäme ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Kammer davon ausgeht, dass die vom Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr auch bei einer kürzeren Dauer des Verwaltungsverfahrens aktuell nicht entfallen wäre. Zum einen zeigen die Berichte des Bezirkskrankenhauses, dass die behandelnden Personen den negativen Einfluss des ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Status auf den Zustand des Antragstellers bemerkt haben, ohne jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass es sich bei diesem Faktor um die Hauptursache für den unstabilen gesundheitlichen Zustand des Antragstellers handele. Vielmehr bestand wegen der anhaltenden Zustandsverschlechterung schon seit November 2022 der Verdacht einer hirnorganischen Erkrankung als Ursache. Es gibt keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der schwer und unheilbar erkrankte Antragsteller ohne diesen Faktor aktuell mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits Therapiefortschritte erzielt hätte, welche eine von ihm ausgehende Gefahr entfallen ließen. Es wäre auch ohne Weiteres nicht nachvollziehbar, warum sich ausgerechnet im November 2022, also über fünf Jahre nachdem das Thema Ausweisung durch die Anhörung der Ausländerbehörde aufkam, aber noch über ein Jahr bevor die angekündigte Ausweisungsverfügung erlassen wurde, der Zustand des Antragstellers deswegen so extrem verschlechtert haben sollte.
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(3) Dem Ausweisungsinteresse stehen Bleibeinteressen des Antragstellers gegenüber.
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(a) Ein in § 55 AufenthG vertyptes Bleibeinteresse besteht im Fall des Antragstellers nicht. Insbesondere liegt kein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG vor. Der Antragsteller ist zwar als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist und hält sich hier seit über fünf Jahren auf, dies jedoch seit dem 3. Mai 2014 nicht mehr rechtmäßig im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 AufenthG. Die letzte Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers ist mit Ablauf des 2. Mai 2014 erloschen. Danach wurden dem Antragsteller nur Fiktionsbescheinigungen ausgestellt. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 21. Dezember 2023 wurde sein Antrag auf Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt. Selbst wenn im Fall des Antragstellers nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG angeordnet worden sein sollte, werden nach § 55 Abs. 3 AufenthG Aufenthalte auf dieser Grundlage als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 jedoch nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde. Die bloße Antragstellung mit Fiktionswirkung würde damit für die Begründung eines vertypten Bleibeinteresses nicht ausreichen (vgl. BVerwG, U. v. 16.11.2023 – 1 C 32/22 – juris Rn. 14). Soweit die Prozessbevollmächtigte anbringt, beim Antragsteller lägen die Voraussetzungen für ein nach § 55 Abs. 2 AufenthG schwer wiegendes Bleibeinteresse vor, ist nicht erkennbar, auf welchen Tatbestand des Absatzes 2 sich diese Aussage beziehen könnte. Die in diesem Zusammenhang von ihr angeführten existenziellen Gefahren gehören nicht zu den in § 55 Abs. 2 AufenthG vertypten schwer wiegenden Bleibeinteressen.
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(b) In die Abwägung sind jedoch die sonstigen Belange des Antragstellers einzustellen, nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Gesichtspunkte der Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat.
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Ein unvertyptes Bleibeinteresse ergibt sich daraus, dass der Antragsteller als Minderjähriger im elften Lebensjahr in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seither, also fast vierzehn Jahre, in Deutschland aufhält. Der 25jährige Antragsteller hat damit den überwiegenden Teil seines Lebens im Bundesgebiet verbracht. Hinzu treten sein Recht auf Privatleben (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) sowie sein Anspruch auf Achtung seiner familiären Bindungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK. Die Mutter und Schwester des Antragstellers leben noch in Deutschland. Weiter sind bei der Abwägung die für den Antragsteller mit einer Rückkehr in sein Heimatland verbundenen Belastungen zu berücksichtigen. So begründen insbesondere die Erkrankungen des Antragstellers, die zu einem anerkannten Grad der Behinderung von 80 führen, Bleibeinteressen. Insoweit erscheint es nach Aktenlage wahrscheinlich, dass seine Erkrankungen mit dem in Deutschland bestehenden Krankenversicherungsschutz besser behandelt werden können oder zumindest eine größere Bandbreite an Therapien für den Antragsteller zur Verfügung steht. Bei einer Rückkehr in sein Heimatland wird langfristig voraussichtlich die Medikation des Antragstellers umgestellt werden müssen, was mit erheblichen Belastungen für den Antragsteller verbunden sein kann. Weiter entfiele mit der Rückkehr die berufsmäßige rechtliche Betreuung durch seine Bevollmächtigte. Selbst wenn es vergleichbare Institute und berufsmäßige Betreuer in Brasilien gibt, wäre mit dem Fortfall der Betreuung zunächst kein persönlicher und seinen Interessen verpflichteter Ansprechpartner für den Antragsteller greifbar und ist davon auszugehen, dass es ihm schwerfallen wird, zeitnah ein gleichwertiges Vertrauen zu einer neuen Person aufzubauen. Eine neue Betreuungsperson hätte auch nicht die langjährigen Einblicke in die Verhältnisse des Antragstellers.
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(4) Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise des Antragstellers mit seinen gegenläufigen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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Im Rahmen der Abwägung ist nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Eine schematische Gegenüberstellung des nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als besonders schwer wiegend eingestuften Ausweisungsinteresses mit den nicht vertypten Bleibeinteressen des Antragstellers verbietet sich. Vielmehr müssen sowohl das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten und die von seinem weiteren Aufenthalt ausgehenden Gefahren als auch die für seinen Verbleib sprechenden Belange im Einzelnen gewürdigt und gewichtet werden. Bei der Gewichtung ist der verfassungs- und konventionsrechtliche Rang der Grundrechte des Betroffenen, insbesondere seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu beachten. Das Abwägungsergebnis muss zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.
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Dies zugrunde gelegt, ist festzustellen, dass von dem Antragsteller die Gefahr weiterer Straftaten für höchste Rechtsgüter, auch gerichtet gegen Leib und Leben anderer Personen, ausgeht. Es besteht die erhebliche Gefahr, dass es zu weiteren Straftaten kommt, die mindestens gleich schwer wiegen wie die der Ausweisung zugrundeliegende Anlasstat. Es spricht nichts dafür, dass diese Gefahr in absehbarer Zeit entfallen oder wesentlich gemindert sein könnte. Auf die ausführliche gerichtliche Darlegung der Wiederholungsgefahr wird verwiesen.
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Dem steht der seit seiner Kindheit andauernde lange Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet gegenüber. Im Rahmen der Gewichtung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung sein, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers im Inland sind in Beziehung zu setzen zu jenen an seinen Heimatstaat, soweit diese noch vorhanden sind (BayVGH, B. v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 29).
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Hiervon ausgehend ist festzustellen, dass der Antragsteller als Kind legal zum Familiennachzug zu seiner Mutter in das Bundesgebiet eingereist ist, hier einige Jahre die Schule besucht hat und den überwiegenden Teil seines Lebens in Deutschland verbracht hat. Im Rahmen der Gewichtung dieser privaten Belange ist jedoch zu berücksichtigen, dass es dem Antragsteller auf Grund seiner Erkrankung zu keinem Zeitpunkt gelungen ist, sich in die hiesigen Lebensverhältnisse zu integrieren. Eine geregelte Schulausbildung hat nicht stattgefunden, eine wirtschaftliche Integration oder Perspektive ist offensichtlich nicht gegeben. Das gesamte Leben des Antragstellers im Bundesgebiet ist von Verhaltensauffälligkeiten, aggressivem und dissozialen Verhalten, Regelbrüchen und Straftaten geprägt. Auch von einer sonstigen kulturellen oder gewichtigen sozialen Anbindung an das Bundesgebiet ist nicht auszugehen. Von den knapp vierzehn Aufenthaltsjahren war der Antragsteller über acht Jahre ununterbrochen im Bezirkskrankenhaus untergebracht. Zu den Lebensverhältnissen in Deutschland dürfte der Antragsteller deshalb kaum Bezug haben. Außerfamiliäre soziale Bindungen im Bundesgebiet sind nicht ersichtlich. Es leben zwar die Mutter und ältere Schwester des Antragstellers in Deutschland. Diese konnten ihn jedoch zu keinem Zeitpunkt relevant unterstützen. Ob aktuell überhaupt regelmäßiger persönlicher Kontakt zur Mutter oder Schwester besteht, wurde nicht vorgebracht. Nach dem Vorbringen seiner Bevollmächtigten hat der in Deutschland lebende Familienteil selbst kleine materielle Unterstützungsleistungen, die für den Antragsteller wichtig gewesen wären, verweigert und die Mutter das für den Antragsteller gezahlte Kindergeld für sich selbst vereinnahmt. Demgegenüber stehen allerdings auch keine tiefer greifenden Bindungen des Antragstellers an sein Heimatland. Er ist dort die ersten Lebensjahre aufgewachsen und spricht die Landessprache Portugiesisch. Nachdem seine Mutter im Jahr 2009 mit seiner älteren Schwester ausgewandert war, lebte er für knapp zwei Jahre mit seinem Bruder abwechselnd beim alkoholabhängigen Vater und der Großmutter. Nach Aktenlage gibt es Anhaltspunkte dafür, dass spätestens diese Lebensphase auch von mangelnder Fürsorge geprägt war. Der Antragsteller hatte danach nur noch wenige Male überhaupt telefonischen Kontakt zu seinem Vater. Mittlerweile lebt der aus der Strafhaft abgeschobene jüngere Bruder des Antragstellers ebenfalls wieder in Brasilien. Lebensverhältnisse, Gesundheitszustand und Kontaktmöglichkeiten zu diesen drei Verwandten sind unbekannt. Die Ausländerbehörde gab im Verfahren an, mittlerweile die Anschrift der Großmutter ausfindig gemacht zu haben. Aus dem Klinikbericht vom 23. März 2021 geht hervor, dass nach bisherigen Erkenntnissen die familiären Verhältnisse in Brasilien keine ausreichende Stabilität und Erfüllung des Grundbedürfnisses nach Sicherheit und der körperlichen Grundbedürfnisse bieten würden.
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Die Gesamtschau ergibt, dass der Antragsteller weder in Deutschland noch in Brasilien über tiefgreifende soziale oder kulturelle Anbindungen verfügt und in beiden Staaten keine Aussicht auf wirtschaftliche oder gesellschaftliche Integration besteht. Zu seinen Gunsten geht die Kammer jedoch davon aus, dass seine Bindungen und Kontakte in der Bundesrepublik Deutschland stärker ausgeprägt sind als in Brasilien. Dies hat jedoch bislang zu keiner erheblichen Stabilisation des Antragstellers geführt. Auch bei einem Verbleib in Deutschland sind die Möglichkeiten für den Antragsteller, ein selbstbestimmtes Leben außerhalb einer Behandlungsstation zu führen, nach dem bisherigen Behandlungsverlauf so fernliegend, dass die Verfügbarkeit eines staatlich gestellten Existenzminimums für diesen Fall allenfalls sehr gering ins Gewicht fällt. Die Kammer verkennt nicht, dass die Rückkehr in sein Heimatland für den Antragsteller mit einer erheblichen Umstellung und daraus folgenden Belastungen verbunden sein wird. Das Interesse an der Vermeidung dieser Belastungen vermag jedoch nach den zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts vorliegenden medizinischen Unterlagen das aus der erheblichen Gefährlichkeit des Antragstellers folgende öffentliche Interesse an seiner Ausreise nicht zu überwiegen.
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Soweit sich der Antragsteller für den Fall einer Rückkehr nach Brasilien in Bezug auf seine Erkrankung auf schwerwiegende bis lebensbedrohliche Folgen oder die Gefahr der Verelendung wegen fehlender Möglichkeit der Erwirtschaftung oder Sicherung eines Existenzminimums beruft, macht er zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geltend. Abschiebungsverbote führen für sich genommen jedoch nicht zur Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung. Sie erlangen erst in Bezug auf die Abschiebungsandrohung oder ihrer Aufrechterhaltung beziehungsweise Vollstreckung Bedeutung und lassen die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung, die für sich genommen noch keine Rückkehrentscheidung darstellt, grundsätzlich unberührt (vgl. noch ausschließlich auf die Vollstreckungsebene abstellend BayVGH, B. v. 5.10.2021 – 10 ZB 21.1725 – juris Rn. 15; B. v. 19.2.2024 – 19 ZB 22.2483 – juris Rn. 30 zur sog. „inlandsbezogenen Ausweisung“; B. v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 11).
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3. Soweit sich die Klage des Antragstellers gegen das in Ziffer 3 angeordnete und auf acht beziehungsweise fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot richtet, ist der Antrag zulässig, insbesondere wegen Entfalls der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG statthaft, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Auch insoweit bestehen keine rechtlichen Bedenken und kommen der Klage daher keine Erfolgsaussichten zu.
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Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen wurde, ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen und über die Länge der Frist desselben gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Vorliegend wurde der Antragsteller wegen einer strafrechtlichen Verurteilung und der von ihm ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgewiesen, so dass gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 AufenthG ein Zeitrahmen von zehn Jahren nicht überschritten werden soll. Innerhalb des gesetzlich eröffneten Fristrahmens muss die Ausländerbehörde bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, das heißt verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GrC und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden (BVerwG, U. v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – juris Rn. 23; U. v. 16.2.2022 – 1 C 6/21 – juris Rn. 58).
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Die behördliche Befristungsentscheidung erfüllt diese Vorgaben. Unter Berücksichtigung der bereits dargestellten mehrfachen und höchst gravierenden Straffälligkeit und der aller Voraussicht nach langfristig fortbestehenden Gefährlichkeit des Antragstellers und des Umstands, dass der volljährige Antragsteller im Bundesgebiet über keine engen oder regelmäßig persönlich gepflegten Beziehungen verfügt, erweist sich die Frist von acht Jahren trotz des langen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet als verhältnismäßig. Für den Fall, dass die Gefährlichkeit des Antragstellers wider Erwarten bereits in den nächsten Jahren nachweisbar entfallen sollte, wurde die Frist zudem erheblich verkürzt. Ein gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO überprüfbarer Ermessensfehler wurde nicht vorgebracht und ist auch nicht ersichtlich.
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4. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides erfolgte Androhung der Abschiebung ist ebenfalls zulässig, insbesondere wegen Entfalls der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. Art. 21a Satz 1, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, Art. 34 Satz 1, Art. 36 Abs. 1 Satz 1 VwZVG statthaft, hat jedoch in der Sache ebenso keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen für die Androhung der Abschiebung liegen vor. Der Antragsteller ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, weil seine Aufenthaltserlaubnis mit Ablauf des 2. Mai 2014 abgelaufen ist und eine möglicherweise auf seinen verspätet gestellten Antrag auf Erteilung beziehungsweise Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis hin nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG angeordnete Fiktionswirkung mit dem ablehnenden Bescheid vom 21. Dezember 2023 erloschen wäre. Die Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise war abweichend von § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach § 59 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entbehrlich, weil sich der Antragsteller in gerichtlich angeordneter Unterbringung befand und befindet.
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Dem Erlass der Abschiebungsandrohung stehen weder Abschiebungsverbote noch das Kindeswohl noch familiäre Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet oder dessen Gesundheitszustand entgegen (§ 59 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AufenthG).
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a) Dies folgt allerdings nicht bereits aus § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Danach stehen dem Erlass der Abschiebungsandrohung Abschiebungsverbote und die in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen, wenn der Ausländer auf Grund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausreisepflichtig ist oder gegen ihn ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Diese Ausnahmeregelung ist bereits deshalb nicht anwendbar, weil die Androhung der Abschiebung vor ihrem Inkrafttreten mit der Neufassung des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG mit Wirkung ab dem 27. Februar 2024 wirksam geworden ist (ausführlich BayVGH, B. v. 5.7.2024 – 10 ZB 23.1712 – juris Rn. 11 m. w. N.; HessVGH, B. v. 18.3.2024 – 3 B 1784/23 – juris Rn. 8 ff.; zur Anwendbarkeit der RL 2008/115/EG OVG Bremen, B. v. 2.10.2024 – 2 B 196/24 – juris Rn. 33; NdsOVG, U. v. 6.3.2024 – 13 LC 116/23 – juris Rn. 102).
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b) Eine nicht nur ganz kurzfristige gesundheitlich bedingte Reiseunfähigkeit, die bereits vor Erlass und damit auch bei der gerichtlichen Überprüfung der noch nicht bestandskräftigen Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen wäre, hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.
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aa) Eine bestehende Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein nach § 59 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AufenthG beachtliches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung darstellen, wenn und solange der Ausländer wegen seiner Erkrankung transportunfähig ist, weil zu erwarten ist, dass sich sein Gesundheitszustand durch und während der Reise beziehungsweise Abschiebung an sich wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne). Weiter muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet. Dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich unmittelbar durch die Abschiebung als solche – unabhängig vom Zielstaat – der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; zu beiden Formen der Reiseunfähigkeit BayVGH, B. v. 25.10.2022 – 19 ZB 22.1778 – juris Rn. 12 m. w. N.; B. v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 19). Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis wegen Reiseunfähigkeit ist nur dann auszugehen, wenn die Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung schon während der Abschiebung und der sich unmittelbar daran anschließenden Zeitspanne der Ankunft im Heimatland droht und dieser Gefahr nicht durch mögliche Vorkehrungen wie der Ausstattung mit einem Medikamentenvorrat, einer medizinischen Begleitung beim Abschiebevorgang oder der Übergabe an medizinisches Personal im Heimatland begegnet werden kann (BayVGH, B. v. 25.10.2022 – 19 ZB 22.1778 – juris Rn. 14 m. w. N.; B. v. 20.1.2022 – 19 CE 21.2437 – juris Rn. 20).
101
Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. In Konkretisierung seiner ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten (§ 82 AufenthG) muss der Ausländer deshalb gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann‚ durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Die zuständige Ausländerbehörde darf nach § 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nicht berücksichtigen, wenn der Ausländer die Pflicht zur unverzüglichen Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung verletzt, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, vor.
102
bb) Nach diesen Maßstäben ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts davon auszugehen, dass der Antragsteller reisefähig ist. Die von seiner Prozessbevollmächtigten vorgelegten Klinikberichte enthalten keine Aussagen, welche die in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG aufgestellte Vermutung widerlegen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners steht allerdings auch nicht positiv fest, dass der Antragsteller reisefähig ist. Insbesondere lässt der Klinikbericht vom 20. März 2024 eine solche Schlussfolgerung nicht zu. Zum einen ist der im Bericht attestierte gesundheitliche Zustand des Antragstellers offenbar überholt. Im März 2024 wurde noch beschrieben, durch die umgestellte Medikation sei es gelungen, beim Antragsteller die psychotische Symptomatik zu kupieren, er sei formal gedanklich geordneter geworden und impulsives Verhalten sowie emotionale Schwankungen seien kaum mehr vorhanden. Der Antragsteller besitze Lockerungsstufe B2 und es bestünden keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Im Klinikbericht vom 11. September 2024 wird allerdings dargestellt, dass der Antragsteller raptusartig einen Mitpatienten sowie einen weiteren Mitpatienten und einen Mitarbeiter, die zur Hilfe kamen, geschlagen habe. Die Lockerungsstufe sei zurückgenommen worden, der Antragsteller befinde sich in einem Absonderungszimmer im Überwachungsbereich, auch wegen seines latenten Gewaltpotentials sei eine Zurückverlegung auf die Therapiestation in absehbarer Zeit nicht denkbar. Weiter enthält der kurze Bericht des Bezirkskrankenhauses keinerlei Hinweise darauf, auf welcher Grundlage der Antragsteller als reisefähig bezeichnet wird. Zwar dürften an eine ärztliche Feststellung der Reisefähigkeit nicht dieselben Anforderungen zu stellen sein, wie an ihre Widerlegung (vgl. zur behördlich veranlassten Feststellung BayVGH, B. v. 18.12.2017 – 19 CE 17.1541 – juris Rn. 25). Allerdings wurde noch im ersten vorliegenden Klinikbericht vom 26. Januar 2018 ausgeführt, dass im Falle einer Abschiebung, welche per se einen erheblichen Stressor und somit auch einen Belastungsfaktor darstelle, eine Verschlechterung des psychopathologischen Befundes zu erwarten sei. Auch in den weiteren vorgelegten Berichten wird beispielsweise ausgeführt, der Antragsteller sei psychophysisch hochgradig vermindert belastbar, zeige schnell Überforderungssymptome, ohne den schützenden Rahmen der Behandlungsstation seien jederzeit psychotische Exazerbationen mit Zunahme an impulsiv-dysphorisch gereiztem Verhalten möglich, in dessen Zusammenhang auch mit selbst- und fremdgefährdenden Verhalten zu rechnen sei, es bedürfe der ständigen Unterstützung der Emotionsregulation um krisenhafte Zuspitzungen zu deeskalieren, es komme immer wieder zu Konflikten mit Mitpatienten und zu psychotischen Dekompensationen und begleitete Ausgänge hätten immer wieder dem psychopathologischen Zustandsbild angepasst werden müssen und hätten gelegentlich nicht umgesetzt werden können. Aus den Berichten ergibt sich ein Krankheitsbild, das zum einen davon gezeichnet ist, dass der Zustand, insbesondere die Stabilität des Antragstellers im Verlauf der Jahre ganz erheblichen Schwankungen ausgesetzt ist. Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller in der durch eine Abschiebung herbeigeführten Belastungssituation dekompensieren und es zu einer Zunahme der Symptome kommen wird. Seine Überforderung wird der Antragsteller, der ausweislich der Berichte nicht in der Lage ist Frühwarnsymptome wahrzunehmen und unter erheblicher Selbstüberschätzung bezüglich seiner Fähigkeiten bei teilweise nicht vorhandener Einsicht in das Ausmaß seiner Erkrankung leidet, voraussichtlich nicht erkennen. Ohne medizinische Unterstützung ist mindestens mit einer Eskalation seines Verhaltens zu rechnen. Soweit das Bezirkskrankenhaus den Antragsteller also ohne sonstige Ausführungen zur Grundlage dieser Einschätzung oder Notwendigkeit einer besonderen medikamentösen Unterstützung oder ärztlichen Begleitung in einem Satz als reisefähig bezeichnete, legt dies eher nahe, dass die berichtenden Personen hiermit allein meinten, dass keine sonstigen körperlichen Erkrankungen der Transportfähigkeit des Antragstellers entgegenstehen.
103
Da das Gericht der Auffassung ist, dass der Antragsteller ohnehin nur in fachmedizinischer Begleitung und unter entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen abgeschoben werden kann, geht mit den oben stehenden Ausführungen zur fehlenden Belastungsfähigkeit und Instabilität des Antragstellers jedoch noch keine bestimmbare Wahrscheinlichkeit der Reiseunfähigkeit einher. Eine Belastung des Antragstellers durch seine Abschiebung mit einer temporären Zunahme seiner Symptome ist dem Antragsteller in einem gewissen Maß zuzumuten. Ersichtlich führen auch sonstige, selbst im beschützten Stationsalltag vorkommende, Faktoren unvermeidlich dazu, dass der Antragsteller in ihn überfordernde Situationen gerät, die zu einer erheblichen Verschlechterung seines akuten Zustands führen. Der Antragsteller darf aber durch die Abschiebung keinem unverhältnismäßigen Leid ausgesetzt oder sein Gesundheitszustand insgesamt wesentlich verschlechtert werden. Es ist jedoch nicht dargelegt oder ersichtlich, dass eine entsprechende ärztliche Betreuung und Versorgung während des gesamten Abschiebevorgangs und eine ärztliche Anschlussbehandlung im Zielstaat nicht hinreichend verlässlich sicherstellen können, dass unverhältnismäßiges Leid oder eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands des Antragstellers verhindert werden (vgl. hierzu ähnlich VGH BW, B. v. 1.6.2017 – 11 S 658/17 – juris Rn. 3; dem folgend SächsOVG, B. v. 9.5.2018 – 3 B 319/17 – juris Rn. 12).
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Damit liegen zwar tatsächliche Anhaltspunkte vor, die durchaus Zweifel an der Reisefähigkeit des Antragstellers im engeren und weiteren Sinne rechtfertigen und für den Fall, dass der Abschiebevorgang nicht hinreichend medizinisch betreut wird, sogar nahelegen. Diese Anhaltspunkte sind jedoch nicht konkret genug, um die Erfolgsaussichten der Klage bezüglich der Abschiebungsandrohung auch nur als offen zu bezeichnen, da dem Gericht keine konkreten Hinweise dafür vorliegen, dass die Erkrankung des Antragstellers seiner Abschiebung tatsächlich entgegensteht.
105
Genügt ein vom Ausländer vorgelegtes Gutachten nicht den Anforderungen an den Nachweis einer Reiseunfähigkeit, bleibt die Ausländerbehörde gleichwohl verpflichtet, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn sich aus den vorliegenden ärztlichen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben (BayVGH, B. v. 5.7.2017 – 19 CE 17.657 – juris Rn. 27). Die diesbezüglich tenorierten Maßgaben stellen damit nur sicher, dass die Ausländerbehörde ihren bereits kraft Gesetzes bestehenden Pflichten nachkommt, da diesbezüglich bislang seitens des Antragsgegners nichts vorgetragen oder zugesichert wurde. Vielmehr äußerte sich die Ausländerbehörde im bisherigen Verfahren dahingehend, dass der Antragsteller reisefähig sei, was durch die Eindrücke aus zwei Telefongesprächen mit dem Antragsteller untermauert werde. Nach oben Dargelegtem ist aber weder der oft schwankenden Einstellung des Antragstellers zu einer Rückkehr nach Brasilien noch seiner geäußerten Selbsteinschätzung besonderes Gewicht bei der Beurteilung seiner Reisefähigkeit beizumessen. Nach den vorliegenden Klinikberichten, dem Umstand, dass das Bezirkskrankenhaus kürzlich eine Strafanzeige gegen den Antragsteller gestellt hat und den von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vorgebrachten weiteren Umständen hält die Kammer es für erforderlich, dass eine Untersuchung beziehungsweise Beurteilung der Reisefähigkeit unter Berücksichtigung der im Rahmen der Abschiebung möglichen Maßnahmen durch einen Amtsarzt des zuständigen Gesundheitsamtes mit einschlägiger Fachkunde vorgenommen wird. Hierbei ist der untersuchende Arzt mindestens durch Vorlage der im Tenor bezeichneten Unterlagen über die medizinische Vorgeschichte des Antragstellers zu informieren und hat die Ausländerbehörde auch die beabsichtigten Vorkehrungen der geplanten Abschiebemaßnahme mitzuteilen, damit dieser das Risiko der Abschiebung aus medizinischer Sicht besser einschätzen kann (vgl. SächsOVG, B. v. 30.8.2019 – 3 B 187/19 – juris Rn. 10 f.).
106
c) Der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung stehen nach dem aktuellen Sachstand auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG entgegen.
107
Hinsichtlich der geltend gemachten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote fehlt es an einer ausreichenden Substantiierung. Die Prüfungskompetenz hinsichtlich der Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots liegt vorliegend beim Antragsgegner, da der Antragsteller kein Asylverfahren betrieben hat. Über das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG entscheidet die Ausländerbehörde nach § 72 Abs. 2 AufenthG nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes. Dies berücksichtigend wurden die oben bereits dargestellten Stellungnahmen des Bundesamtes vom 19. August 2019 und 24. September 2024 eingeholt.
108
Zwar ist die Ausländerbehörde – und auch das Verwaltungsgericht – an die Stellungnahme des Bundesamtes nach § 72 Abs. 2 AufenthG nicht gebunden, diese verfolgt jedoch den Zweck, die besondere Sachkunde des Bundesamtes hinsichtlich der Beurteilung der Verhältnisse und Gefahren im Zielstaat in die Entscheidung einfließen zu lassen. Bestehen an der inhaltlichen Richtigkeit oder Vollständigkeit der Stellungnahme des Bundesamtes begründete Zweifel, so wird die Ausländerbehörde beziehungsweise das Verwaltungsgericht im Rahmen der Amtsermittlung gemäß Art. 24 Abs. 1 BayVwVfG beziehungsweise § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO unter Umständen eigene Ermittlungen durchzuführen und die Entscheidung somit auf eine breitere Tatsachengrundlage zu stellen haben (BayVGH, B. v. 7.3.2023 – 19 ZB 22.624 – juris Rn. 53).
109
aa) Nach Auffassung der Kammer liegt ein zielstaatbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei einer Abschiebung unter Einhaltung der tenorierten Maßgabe nicht vor.
110
(1) Die Kammer schließt sich der Einschätzung des Bundesamtes allerdings nur im Ausgangspunkt an. Danach kommt vorliegend in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht und bestehen keine Anhaltspunkte für Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe durch Institutionen oder Personen im Zielstaat. Weiter kann eine Verletzung des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn der Ausländer im Falle einer Abschiebung tatsächlich Gefahr laufen würde, im Aufnahmeland auf so schlechte humanitäre Bedingungen im Sinne allgemeiner Gefahren zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt. Dies ist allerdings nur in außergewöhnlichen Einzelfällen anzunehmen, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu medizinischer Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auch auf der Verhinderung des Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Für die Bewertung ist eine mögliche Unterstützung des Ausländers durch Angehörige im In- und Ausland in die Prognose, ob eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen.
111
(2) Die Beteiligten gehen weitgehend unstreitig davon aus, dass der Antragsteller dauerhaft erwerbsunfähig ist und im Zielstaat nicht in der Lage wäre, sich ein Existenzminimum selbst zu erwirtschaften. Auch die Kammer geht davon aus, dass selbst bei Anstellen weiterer Ermittlungen oder einer Beweisaufnahme im Hauptsacheverfahren davon auszugehen sein dürfte, dass dem Antragsteller für den Fall, dass er auf sich allein gestellt wäre, schon wegen völliger Mittellosigkeit Obdachlosigkeit und Verelendung drohen würden und ihm hiergegen keine Ansprüche auf seine Existenz sichernde staatliche Unterstützungsleistungen oder privaten Unterhalt zustünden. Das Bundesamt stützt seine ein hierauf beruhendes Abschiebungsverbot verneinende Einschätzung auf die mindestens einseitigen Darstellungen des Antragsgegners zu den Familienverhältnissen des Antragstellers, die es als zu bewertenden Sachverhalt seiner Stellungnahme zugrunde legen musste. Anders als das Bundesamt hält die Kammer es angesichts der beigezogenen Akten und des auf deren Inhalt bezogen schlüssigen substantiierten Vorbringens der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers für eher unwahrscheinlich, jedenfalls aber höchst zweifelhaft und mindestens offen, dass der Antragsteller im In- oder Ausland Verwandte hat, die ihm eine finanzielle Unterstützung und gegebenenfalls Obdach zur Verfügung stellen würden. Diese Frage kann allerdings nur im Rahmen einer aufwändigen Beweisaufnahme im Hauptsacheverfahren abschließend geklärt werden. Die Kammer geht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes daher zu Gunsten des Antragstellers davon aus, dass ihm im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland von familiärer Seite aus keine finanzielle oder materielle Unterstützung zur Sicherung wenigstens seiner Grundbedürfnisse zur Verfügung gestellt würden.
112
Die Kammer hat angesichts der insoweit nicht bestrittenen Angaben des Bundesamtes jedoch keine Anhaltspunkte für Zweifel daran, dass der brasilianische Staat innerhalb des einheitlichen Gesundheitssystems SUS auch Kliniken beziehungsweise klinische Behandlungsstationen für psychiatrisch schwer erkrankte Personen vorhält und dass die Unterbringung und Behandlung in diesen Einrichtungen für die Betroffenen kostenfrei erfolgt. Die vom Generalkonsulat in Recife „nicht vorenthaltene“ übersendete Recherche eines Referendars aus dem Generalkonsulat in Brasília zeichnet hier ein mit den deutschen Verhältnissen grundsätzlich vergleichbares Bild, nachdem zunächst versucht wird, Patienten in ihrem Umfeld durch ambulante Behandlungen zu unterstützen und erst, wenn sich dies als unzureichend erweist, auf gerichtliche Entscheidung anhand detaillierter ärztlicher Berichte hin eine stationäre Unterbringung und gegebenenfalls eine rechtliche Betreuung angeordnet wird. Ein Zurückbleiben des Standards des brasilianischen Psychiatriewesens hinter dem deutschen wurde von der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nicht behauptet. Die Kammer geht daher davon aus, dass auch brasilianische Ärzte, Behörden und Gerichte die derzeit offensichtlich gegebene weitere Notwendigkeit der Unterbringung des Antragstellers in einer fachmedizinischen Behandlungseinrichtung erkennen und durchführen werden. Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller dort mindestens so versorgt wird, dass die hohen Hürden einer für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK erforderlichen Gefährdung des Antragstellers bei Weitem nicht erreicht werden. Angesichts der medizinischen Historie des Antragstellers geht die Kammer davon aus, dass dieser auch noch langfristig unterbringungsbedürftig ist und eine Entlassungsmöglichkeit allenfalls in ungewisser, noch etliche Jahre entfernt liegender Zukunft überhaupt denkbar erscheint. Es bestehen nach dem bislang in das Verfahren eingeführten Auskünften keine Anhaltspunkte dafür, dass die brasilianischen Behörden oder das brasilianische Gesundheitssystem einen schwer erkrankten Patienten ohne die notwendige Betreuung und Folgeversorgung aus dem klinischen Bereich entlassen würden. Äußerst weit in der Zukunft liegende, nicht konkret feststellbare und damit eher im hypothetischen Bereich liegende Gefahren eines möglichen Einschätzungsfehlers der brasilianischen Behörden oder Gerichte oder einer möglicherweise abweichenden Auffassung vom erkrankungsbedingten Unterbringungsbedarf nach brasilianischem medizinischen Standard liegen nicht mehr im Verantwortungsbereich des abschiebenden Staates.
113
(3) Allerdings geht die Kammer nach den im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zugänglichen Erkenntnismitteln davon aus, dass eine Überstellung des Antragstellers in sein Heimatland ohne die Einhaltung der tenorierten Maßgabe für den Antragsteller mit der konkreten Gefahr der völligen Verelendung und schwerer Gesundheitsschädigungen bis hin zur Lebensgefahr verbunden wäre.
114
(a) In Übereinstimmung mit den Stellungnahmen des Bundesamtes geht die Kammer davon aus, dass ein Abschiebungsverbot einer Überstellung des Antragstellers nur dann nicht entgegensteht, wenn eine Übergabe des Antragstellers in geeignete Hände erfolgt, gewährleistet ist, dass eine geeignete Person als Betreuer eingesetzt werden kann, die Unterbringung des Antragstellers bei seiner Familie oder in andere stationäre Strukturen erfolgen kann und hierfür auch die vorhandenen fachärztlichen Unterlagen in portugiesischer Sprache mitgegeben werden.
115
Eine Übergabe an zur Betreuung des Antragstellers bereite und befähigte Familienangehörige des Antragstellers ist aus Sicht der Kammer nicht möglich.
116
Der zuständige Sachbearbeiter der Ausländerbehörde hielt in seinem Aktenvermerk vom 7. November 2011 bereits fest, dass auch der jüngere Bruder des Antragstellers nach mehreren Berichten Außenstehender und einer Mitarbeiterin des Kreisjugendamtes verhaltensauffällig sei. Der Stiefvater habe dem Sachbearbeiter in einem persönlichen Gespräch am 12. Oktober 2011 berichtet, T. habe wohl eine leichte geistige Behinderung und habe dafür bereits in Brasilien Medikamente nehmen müssen. Der Bruder des Antragstellers hat in der Folgezeit eine Sonderschule besucht. Im Juli 2024 ist er dann als Intensivstraftäter aus der Strafhaft heraus nach Brasilien abgeschoben worden. Er scheidet damit als geeignete Betreuungsperson offensichtlich aus. Der Vater des Antragstellers konnte von der Ausländerbehörde auch unter Einschaltung des Generalkonsulats nicht ausfindig gemacht werden. Nach den bisherigen Erkenntnissen dürfte er als geeignete Betreuungsperson zudem ebenfalls ausscheiden. Ein Kontakt zur Großmutter des Antragstellers hat – soweit ersichtlich – bislang nicht stattgefunden. Die Anhaltspunkte, die sich aus den beigezogenen Akten ergeben, zeichnen durchweg ein Bild, nach dem die Familienangehörigen zur Unterstützung des Antragstellers weder bereit noch in der Lage sind und Behauptungen des Antragstellers oder seiner Verwandten zu den Familienverhältnissen häufig nicht zutreffen. Der Gesundheitszustand und die Lebensverhältnisse der in Brasilien lebenden Familienmitglieder sind unbekannt.
117
Aus den Berichten des Bezirkskrankenhauses und den beigezogenen Akten ergibt sich jedoch klar, dass der Antragsteller derzeit außerhalb einer besonders gesicherten Behandlungsstation und ständiger Betreuung durch Fachpersonal für sich selbst und andere eine extreme Gefahr darstellt und auch eine zuverlässige Einnahme der zwingend erforderlichen Medikamente nicht gewährleistet ist. Auch die Gefahren, die bei einer Entgleisung des Antragstellers für Dritte bestehen, sind für ein Abschiebungsverbot insoweit relevant, als diese unmittelbare und konkret absehbare Gefahren für Leib und Leben des Antragstellers mit sich bringen. Dies zeigt schon der Vorfall, der letztlich zur Verurteilung und Unterbringung des Antragstellers geführt hat. Die Familie des Antragstellers rief die Polizei, nachdem dieser sie bedroht hatte und sich in der Küche der gemeinsamen Wohnung mit einem Beil und drei Messern bewaffnet hatte. Der Antragsteller warf mit dem Küchenbeil nach einem Polizisten, der nur durch Geschick einer möglicherweise tödlichen Verletzung entging. Glücklicherweise konnte der Antragsteller durch Bisse eines Diensthundes überwältigt werden, so dass Waffen gegen ihn nicht eingesetzt werden mussten. Auch im beschützten Umfeld der Behandlungsstationen und unter Medikation ist es immer wieder zu tätlichen Konflikten mit Mitpatienten gekommen, beim letzten dem Gericht bekannten Vorfall hat der Antragsteller im September 2024 einen Mitpatienten ohne erkennbaren Grund und sodann auch die diesem zur Hilfe eilenden Personen angegriffen. Daher ist davon auszugehen, dass es ohne das beschützende Umfeld einer psychiatrischen Behandlungsstation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu entsprechenden Vorfällen kommen wird. In Reaktion auf einen Angriff durch den Antragsteller besteht ein hohes Risiko, dass die angegriffene Person oder ihr zur Hilfe eilende Dritte ihn gesundheitlich schwer schädigen oder sogar tödlich verletzen. Der Antragsteller ist krankheitsbedingt nicht in der Lage, sein gefährdendes Verhalten zu steuern.
118
(b) Angesichts der eigens von der Ausländerbehörde in Bezug auf den Antragsteller eingeholten Auskünfte des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in Recife aus den Jahren 2020 und 2023 und deren Zusammenfassung der Stellungnahme der Policia Federal ist nach dem Erkenntnisstand im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung davon auszugehen, dass ohne eine entsprechende Vorbereitung durch die abschiebenden Behörde nicht gewährleistet ist, dass der Antragsteller Zugang zu medizinischer Versorgung erhält, welche die vorgenannten Gefahren verhindern oder wenigstens mindern kann.
119
Hierfür genügt es nicht, wie die Ausländerbehörde plant, die brasilianischen Behörden über die Besonderheiten des Falles lediglich „adäquat“ zu verständigen, um gegebenenfalls zusätzlich durch die Information der Familienangehörigen eine Übergabe in geeignete Hände zu erreichen. Das Generalkonsulat wurde mehrfach speziell unter Schilderung des Falles des Antragstellers von der Ausländerbehörde um Auskunft gebeten und hat hierfür eine Stellungnahme der Policia Federal eingeholt. Die Policia Federal habe sich dahingehend geäußert, dass eine Abschiebung des Antragstellers wegen fehlender familiärer Unterstützung derzeit nicht möglich sei. Wegen der zum Schutz der Rechte psychisch erkrankter Menschen bestehenden Vorschriften seien die Voraussetzungen für die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung nicht gegeben. Das Generalkonsulat gab weiter an, dass der Antragsteller ohne einen nahen Angehörigen, der sich um die Einweisung kümmert und dies auch privat bezahle, nicht behandelt werden könne. Der Antragsteller wäre in Brasilien auf sich gestellt und würde bei Straffälligkeit vermutlich in einen normalen Strafvollzug gebracht werden. Im August 2023 äußerte sich das Generalkonsulat dahingehend, dass sich die Situation in Bezug auf die Mitarbeit der brasilianischen Behörden wenig geändert und bezüglich Einweisungen sogar noch verschlechtert habe, da politisch die Schließung der letzten verbliebenen psychiatrischen Kliniken vorangetrieben werde. Es ist daher nicht zu erwarten, dass eine schlichte Information der brasilianischen Behörden genügt, damit der Antragsteller bei der Überstellung in eine geeignete Unterbringung gebracht und adäquat behandelt wird. Die Tatsache, dass zuvor ein gerichtliches Verfahren durchlaufen werden muss, ist nachvollziehbar, erschwert die Situation aber zusätzlich. Der Antragsteller kann nicht auf unabsehbare Zeit auf sich allein gestellt sein, da die für ihn bestehenden Risiken bereits ab seiner Ankunft bestehen. Auch ist nicht klar, wer erforderliche gerichtliche Verfahren für ihn betreiben und gegebenenfalls finanzieren könnte. Im vorliegenden Eilverfahren lässt sich dies auch nicht klären. Zur Vorbereitung der Abschiebung muss daher unter Vorlage aktueller und den Krankheitsverlauf der letzten Jahre abbildender Unterlagen eine sich konkret auf den Antragsteller beziehende Zusicherung des brasilianischen Staates eingeholt werden, die gewährleistet, dass der Antragsteller unmittelbar bei seiner Ankunft ärztlich begleitet in Empfang genommen wird und in eine für Personen mit seiner Erkrankung geeignete Unterbringung mit entsprechenden psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten verbracht wird. Auch muss der brasilianische Staat zuvor zusichern, dass der Antragsteller in einer entsprechenden Einrichtung auch festgehalten und behandelt wird, bis – soweit dann noch erforderlich – ein brasilianisches Gericht über die weitere Unterbringung und den Betreuungsbedarf des Antragstellers entschieden hat. Hierfür kann es erforderlich sein, dass brasilianische Behörden entsprechende Gerichtsentscheidungen vor der Überstellung des Antragstellers erwirken oder andere Instrumente der Notversorgung zur Verfügung stehen, die eine vorübergehende Unterbringung zur Sicherheit des Antragstellers ermöglichen. Denkbare und realistische Wege hierfür sind vielfältig. Wegen der bislang durchgängig negativen Auskunft der Policia Federal und des Generalkonsulats ist es jedoch erforderlich, dass der brasilianische Staat die Übernahme des Antragstellers in eine adäquate sichere Umgebung und Versorgung und damit auch seine Sicherung bis zum Abschluss der Überprüfung der weiteren Unterbringung, Behandlung und Betreuung zusichert. Welche Maßnahmen die brasilianischen Behörden, Ärzte und Gerichte nach einer Überprüfung für erforderlich halten, liegt nicht mehr im Verantwortungsbereich der abschiebenden Behörde. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass im Zielstaat generell oder im konkreten Einzelfall mit inadäquaten Maßnahmen zu rechnen ist.
120
bb) Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen liegt ebenfalls nicht vor.
121
(1) Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG besteht ein solches nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich bei an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung jedoch auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. Zu solchen individuellen Gründen kann auch gehören, dass eine ständige Betreuung Voraussetzung für den tatsächlichen Zugang des Ausländers zu der notwendigen medizinischen Behandlung ist oder dass dem Ausländer die erforderliche Einsicht in seine Behandlungsbedürftigkeit fehlt und die erforderliche Medikamenteneinnahme deshalb überwacht werden muss (BVerwG, U. v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris Rn. 9 f.). Für die Annahme eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes genügt es jedoch nicht, dass der Ausländer bei seiner Ankunft im Heimatland aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen allein oder gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Familienangehörigen nicht in der Lage wäre, sich den die erforderliche Behandlung eröffnenden (Erst-)Zugang zu entsprechenden Institutionen zu verschaffen. Denn derartige Übergangsschwierigkeiten hängen noch unmittelbar mit der Art und Weise der Abschiebung oder Rückführung in den Herkunftsstaat zusammen und sind deshalb dem Vollstreckungsverfahren der Ausländerbehörde zuzurechnen. Ihnen kann und muss gegebenenfalls durch die Ausgestaltung der Abschiebung oder Rückführung seitens der Ausländerbehörde begegnet werden. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis liegt erst dann vor, wenn dem Ausländer die erforderliche Betreuung und Überwachung seiner medikamentösen und ärztlichen Behandlung auch bei entsprechender Ausgestaltung der Abschiebung oder Rückführung voraussichtlich nicht zur Verfügung stünde (vgl. BVerwG a. a. O. Rn. 10 f.).
122
(2) Nach diesen Maßstäben ist für die Kammer bei entsprechender Vorbereitung seiner Rückführung eine konkrete Gefahr der wesentlichen Verschlechterung der Erkrankung des Antragstellers oder eine Gefahr für sein Leben nicht ersichtlich. Auf die Ausführungen zum Nichtvorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG wird entsprechend Bezug genommen. Danach ist unter Einbeziehung der ausführlichen Stellungnahme des Bundesamtes davon auszugehen, dass der brasilianische Staat seinen Bürgern und damit auch dem Antragsteller bei Bedarf über das einheitliche Gesundheitssystem SUS eine kostenfreie und adäquate psychiatrische Behandlung und Betreuung in Kliniken oder anderen psychiatrischen Einrichtungen zur Verfügung stellt. Auch bestehen nach den bisherigen Erkenntnissen keine Anhaltspunkte dafür, dass für den derzeit nicht konkret in Aussicht stehenden Fall, dass der Antragsteller aus dem Bereich einer stationären Behandlung entlassen werden kann, unter den Medikamenten, die als unbedingt notwendig erachtet werden, keine angemessene Medikation für den Antragsteller kostenfrei verfügbar wäre. Dabei wird nicht verkannt, dass mit der Rückkehr in sein Heimatland für den Antragsteller Umstellungen und bei seinem Krankheitsbild auch nicht unerhebliche Belastungen verbunden sein können. Aus den vorgelegten Berichten des Bezirkskrankenhauses ergibt sich allerdings in keiner Weise, dass eine Rückführung zu einer wesentlichen oder auch nur nachhaltigen Verschlechterung der Gesundheit des Antragstellers führen könnte. Die Klinikberichte geben hierzu über Jahre hinweg nur an, dass nicht bekannt sei, ob die für den Antragsteller erforderliche Unterbringung und Behandlung in Brasilien verfügbar sei. Dass die Umstellung auf eine Kliniksituation in seinem Heimatland – entsprechende medizinische Standards vorausgesetzt – für den Antragsteller per se schädlich sein könnte, klingt in keinem der Berichte an. Die Wirkstoffe seiner aktuellen Medikation sind laut der Auskunft des Bundesamtes in Brasilien verfügbar. Lediglich eine Verabreichung als Depotinjektion ist nach derzeitigem Kenntnisstand für einen der Wirkstoffe nicht erhältlich. Auch hier hat die Kammer berücksichtigt, dass bereits minimale Umstellungen der Medikation einen erheblichen Einfluss auf die psychische Stabilität des Antragstellers haben können, was sich ausdrücklich auch bereits aus dem Bericht des Bezirkskrankenhauses vom 26. Januar 2018 ergibt, dem Gericht als allgemeiner Faktor bei solchen Krankheitsbildern aber auch hinreichend bekannt ist. Allerdings zeigt die Sichtung sämtlicher Unterlagen auch, dass die Einstellung des Antragstellers über die Jahre hinweg durch immer wieder erfolgte Anpassung seiner Medikation erfolgt ist und selbst dies nicht zu einer nachhaltigen Stabilität des Antragstellers führte. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass nach einer Stabilisation der Behandlungssituation des Antragstellers im Zielstaat eine dauerhafte Behandlung mit den derzeit verabreichten Wirkstoffen oder eine fachgerechte Umstellung im stationären Bereich auf andere Wirkstoffe nicht erfolgen kann. Die von seiner Prozessbevollmächtigten befürchteten durch eine Veränderung des Lebensumfelds herbeigeführten Belastungen oder Nachteile einer Umstellung auf die im Zielstaat verfügbaren Medikamente sind zwar teilweise nachvollziehbar. Damit sind aber Belastungen in Form einer wesentlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes nach Ansicht der Kammer schon nicht ausreichend substantiiert vorgebracht und mangels qualifizierter ärztlicher Ausführungen hierzu (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 60 a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG) auch nicht ausreichend nachgewiesen. Ein wesentliches Zurückbleiben des medizinischen Behandlungsstandards in Brasilien im Vergleich zum deutschen Behandlungsstandard wurde schon nicht vorgebracht. Eine Gleichwertigkeit ist nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG auch nicht erforderlich. Grundsätzlich ist der Ausländer auf den Behandlungsstandard seines Heimatstaates zu verweisen, solange sich hieraus keine für ein Abschiebungsverbot relevanten Gefahrenlagen ergeben. Einer unverhältnismäßigen Kumulation von Stressfaktoren durch die Rückführung sowie die nachfolgende Umstellung der Lebensverhältnisse und Behandlungssituation mit der Belastung einer möglichen medikamentösen Umstellung ist durch das Mitgeben eines Medikamentenvorrats für sechs Monate vorzubeugen.
123
Problematisch erscheint daher aus Sicht der Kammer allein der erstmalige Zugang des Antragstellers zu einer angemessenen Unterbringung und Behandlung. Wie bereits ausgeführt, handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis, sondern um ein im Rahmen der Vorbereitung und Ausgestaltung der Aufenthaltsbeendigung im Verantwortungsbereich der Ausländerbehörde zu bewältigenden Umstand.
124
d) Die Ablehnung des Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bei gleichzeitiger Tenorierung von Maßgaben erfolgt durch die beschließende Kammer in Kenntnis der diesbezüglich – auch mit Blick auf Abschiebungsandrohungen – sehr heterogenen Rechtsprechung. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich hierbei um ein zulässiges und gebotenes Vorgehen.
125
aa) Einige Obergerichte und Verwaltungsgerichte verneinen die Möglichkeit der Ablehnung eines Eilantrages mit Maßgaben zu Lasten des Antragsgegners generell (NdsOVG, B. v. 27.10.1997 – 7 M 4238/97 – juris Rn. 9; VG Gelsenkirchen, B. v. 11.1.2016 – 9a L 2570/15.A – juris Rn. 23 ff. m. w. N., auch zu entsprechenden Entscheidungen des HessVGH und des OVG NW; unterschiedlich VG Minden: verneinend 10. Kammer, B. v. 22.4.2015 – 10 L 136/15.A – juris Rn. 77 ff., bejahend 1. Kammer, B. v. 23.3.2015 – 1 L 794 – juris Tenor und Rn. 11 f.). Grundlegende Zweifel an der verwaltungsprozessualen Zulässigkeit äußert etwa der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (B. v. 10.8.2017 – 11 S 1724/17 – juris Rn. 25 ff.). Das OVG NW weist ohne eigene Positionierung darauf hin, dass die Praxis umstritten sei (B. v. 11.6.2019 – 11 B 606/19 – juris Rn. 4 f. m. etl. N.). Soweit sich die Kommentarliteratur mit der Frage der Zulässigkeit eines solchen Vorgehens befasst, lehnt sie diese – soweit ersichtlich – überwiegend ab (ausführlich Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 46. EL Aug. 2024, § 80 VwGO Rn. 438 ff. m. w. N.; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 112 m. w. N.; Funke-Kaiser in Bader/Funke-Kaiser u. a., VwGO, 8. Aufl. 2021, § 80 Rn. 112; Gersdorf in BeckOK VwGO, 71. Ed. Stand 1.1.2024, § 80 Rn. 193; differenzierend und zwar grundsätzlich ablehnend, aber gerade für die Fallkonstellation der Abschiebungsandrohung, bei der ein Abschiebungshindernis durch eine konkrete Maßnahme im Zusammenhang mit der Organisation der konkreten Abschiebung beseitigt werden könne: Bostedt in NK-VerwR, 5. Aufl. 2021, § 80 VwGO Rn. 167).
126
bb) Die Haltung des Bundesverfassungsgerichtes zu dieser Frage ist unklar. Einerseits führt der 2. Senat zu einer Konstellation, in der es ebenfalls um die Frage ging, ob eine Abschiebung wegen der Aufnahmebedingungen im Abschiebezielstaat gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK verstoße, aus, dass die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG auch umfasst, dass die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen, wozu es sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich geboten sein könne, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Drittstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (BVerfG, B. v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – juris Rn. 16 ff.). Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, sei es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (BVerfG, a. a. O., juris Rn. 20). Soweit in einer früheren Entscheidung ausgeführt wurde, ob die verwaltungsgerichtliche Tenorierung – Ablehnung des Rechtsschutzbegehrens mit der Maßgabe, die Einhaltung bestimmter Anforderungen sicherzustellen – der Rechtsschutzgewährleistung aus Art. 19 Abs. 4 GG gerecht werde, bedürfe näherer Überprüfung, so dass der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens sich damit als offen erweise (BVerfG, B. v. 22.7.2015 – 2 BvR 746/15 – juris Rn. 7 f.), dürften sich die formulierten Bedenken jedoch eher auf die dort konkret verfahrensgegenständliche Tenorierung beziehen als auf die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens an sich. In einer anderen Entscheidung wurde eine entsprechende Vorgehensweise des Bundesverwaltungsgerichts vom Bundesverfassungsgericht gebilligt (BVerfG, B. v. 24.7.2017 – 2 BvR 1487/17 – juris Rn. 46 ff.), wobei in der Literatur zu Recht darauf hingewiesen wird, dass auch hier die Zulässigkeit der Antragsablehnung mit Maßgaben als solche nicht Verfahrensgegenstand war (Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 112) und nicht ersichtlich ist, ob in diesem Zusammenhang die explizite Regelung des § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO überhaupt gesehen wurde (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 46. EL Aug. 2024, § 80 VwGO Rn. 438).
127
cc) Das Bundesverwaltungsgericht, einige Obergerichte und etliche Verwaltungsgerichte lehnen regelmäßig Anträge nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO mit Maßgaben ab (beispielsweise BVerwG, B. v. 26.3.2018, Az. 1 VR 1.18 u. a.; B. v. 19.9.2017, Az. 1 VR 7.17; B. v. 31.5.2017, Az. 1 VR 4.17; SächsOVG, B. v. 12.11.2007, Az. 5 BS 336/07; OVG Saarl, B. v. 22.8.2001, Az. 2 W 1/01; VG Berlin, B. v. 28.8.2018, Az. 36 L 321.18 A; VG Bremen, B. v. 21.12.2021, Az. 5 V 2053/21; VG Darmstadt, B. v. 8.1.2019, Az. 5 L 452/18.DA; VG Düsseldorf, B. v. 13.4.2015, Az. 8 L 243/15.A; anders als das NdsOVG das VG Hannover, B. v. 27.5.2014, Az. 5 B 634/14; VG Potsdam, B. v. 4.9.2020, Az. 8 L 761/20; VG SH, B. v. 23.3.2018, Az. 11 B 31/18; sämtliche Entscheidungen abrufbar bei juris, Entscheidungssätze des BVerwG abrufbar auf dessen Internetseite). Die Antragsablehnung unter Maßgaben entspricht auch der Praxis des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes und sämtlicher bayerischer Verwaltungsgerichte (beispielsweise BayVGH, B. v. 5.7.2017, Az. 19 CE 17.657 zum Parallelproblem bei § 123 VwGO; B. v. 16.12.2015, Az. 22 AS 15.40042; VG Ansbach, B. v. 18.12.2014, Az. AN 14 S 14.50186; VG Augsburg, B. v. 24.11.2014, Az. Au 7 S 14.50319; VG Bayreuth, B. v. 28.5.2021, Az. B 8 S 21.50108; VG München, B. v. 11.3.20215, Az. M 12 S 15.50024; VG Regensburg, B. v. 4.5.2015, Az. RN 2 S 15.50312; VG Würzburg, B. v. 6.7.2015, Az. W 6 S 15.50224; sämtlich abrufbar über juris).
128
dd) Die beschließende Kammer hat auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Zweifel daran, dass die Ablehnung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO unter Maßgaben in Konstellationen wie der vorliegenden zulässig und geboten ist.
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Einer Ablehnung mit Maßgaben wird vielfach entgegengehalten, sie laufe auf eine unzulässige mitlaufende Verwaltungskontrolle im Stile einer Zurückweisung der Sache an die Verwaltung unter Korrektur der Verwaltungsentscheidung hinaus. Es sei jedoch nicht Aufgabe des Gerichts, im Eilverfahren durch funktionales Verwaltungshandeln eine fehlerhafte behördliche Verwaltungsentscheidung nachzubessern, was auch unter dem Gesichtspunkt der Durchbrechung des Grundsatzes der Gewaltenteilung problematisch sei (Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 112; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 46. EL Aug. 2024, § 80 VwGO Rn. 439). Jedenfalls in Konstellationen wie der vorliegenden ist dies jedoch nicht der Fall. Die Kammer hat zum Entscheidungszeitpunkt keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte. Wie bereits ausführlich dargelegt, werden diese nach aktueller Sachlage voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben. Es ist zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung nicht erkennbar, dass eine Abschiebung des Antragstellers in verfassungs- und konventionsrechtlich zulässiger Weise nicht möglich ist. In Konstellationen, in denen die Anfechtungsklage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO keine Aussicht auf Erfolg hat, ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung grundsätzlich nicht möglich. Die Verneinung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erfolgt vorliegend jedoch unter der Prämisse, dass die vollziehende Behörde auch bereit und in der Lage ist, die zum Schutz des Antragstellers zwingend erforderlichen Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der Abschiebung vorzunehmen. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ausländerbehörde ihren als solche erkannten gesetzlichen Pflichten nicht nachkommen würde. Allerdings besteht angesichts der bisherigen Äußerungen und fehlender Zusicherungen der Ausländerbehörde Anlass, dem Antragsgegner durch die aufgestellten Maßgaben seine bereits bestehenden gesetzlichen Pflichten nochmals zu verdeutlichen. Hierin liegt keine inhaltliche Veränderung oder gar Korrektur des erlassenen Verwaltungsaktes.
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Bedenken gegen eine Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Maßgaben werden auch dahingehend geäußert, dass hierdurch das aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Recht auf effektiven Rechtsschutz unzulässig eingeschränkt werde. Die Überprüfung der Abschiebungsvoraussetzungen dürfe nicht durch eine in die spätere Vollstreckung verlagerte und dann nicht mehr der gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Auflage ersetzt werden; die effektive Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung der Maßgaben müsse sichergestellt sein (VGH BW, B. v. 10.8.2017 – 11 S 1724/17 – juris Rn. 15, 17). Zweifel an letzterem werden auch mit dem Argument geäußert, dass dies nur in einem erneuten Rechtsschutzverfahren ginge, das dann unter erheblichem Zeitdruck einzuleiten wäre, was wiederum zu Lasten des Rechtsunterworfenen gehe (vgl. etwa Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 112 m. w. N.). Vorliegend ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die Kammer hält es gerade mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG für geboten, im Rahmen der die aufschiebende Wirkung ablehnenden Entscheidung konkretisierende Maßgaben zu tenorieren. Wie oben ausführlich dargestellt, erfassen die im vorliegenden Verfahren thematisierten Abschiebungshindernisse und -verbote auch Fälle, in denen gerade die Modalitäten der Durchführung einer Abschiebung den Betroffenen in ernste Gefahr bringen können und dann die Abschiebung als staatliche Maßnahme existentielle (Grund-)Rechte des Betroffenen verletzen kann. Gegen die Durchführung der Abschiebung kann jedoch grundsätzlich nicht im Wege des Antrags auf einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO vorgegangen werden, solange eine Anfechtungsklage gegen eine Abschiebungsandrohung noch möglich oder rechtshängig ist. Der Statthaftigkeit des Antrages stünde unter anderem § 123 Abs. 5 VwGO entgegen und ist gerichtlicher vorläufiger Rechtsschutz unter Berufung auf denselben Sachverhalt ausschließlich nach § 80 Abs. 5 und 7 VwGO zu erlangen. Allerdings sind für die Androhung der Abschiebung nur sehr knappe und allgemein gefasste Mindestangaben zur angedrohten Maßnahme erforderlich (vgl. Klutz in BeckOK Ausländerrecht, 42. Ed. Stand 1.7.2024, § 59 AufenthG Rn. 14), etwas anderes dürfte der androhenden Behörde zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses im Normalfall auch nicht möglich sein. Die reale Ausgestaltung der Abschiebungsmaßnahme wird dem Betroffenen möglicherweise erst bei ihrer Durchführung bekannt, wodurch für effektiven Rechtsschutz nur noch ein enger Zeitkorridor zur Verfügung stünde. Im vorliegenden Fall kommt erschwerend hinzu, dass der Antragsteller eigenständig voraussichtlich nicht in der Lage wäre, kurzfristig entsprechenden Rechtsschutz für sich zu organisieren. Die tenorierte Maßgabe soll daher zum einen gewährleisten, dass die Androhung der bislang nur abstrakt umrissenen Abschiebung nicht zur Durchführung einer in ihrer konkreten Ausgestaltung rechtswidrigen Maßnahme führt. Zum anderen stellen die tenorierten Kenntnisgabepflichten erst sicher, dass trotz der sehr komplexen Situation dem Antragsteller zum Schutz seiner Rechte auch effektiver gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung steht, wenn die Ausländerbehörde die abstrakt angedrohte Maßnahme in konkreter Form plant und vorbereitet.
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Sollte sich im weiteren Verlauf des Verfahrens ergeben, dass dem Antragsgegner andere Ausgestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, welche die Rechte des Antragstellers in ausreichender Weise zu sichern geeignet sind, steht es dem Antragsgegner jederzeit offen, einen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zu stellen.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i. V. m. Ziffern 8.1, 8.2, 1.1.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.