Titel:
Eingliederungshilfe, Legasthenie-Therapie, Selbstbeschaffung
Normenketten:
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 36a
Schlagworte:
Eingliederungshilfe, Legasthenie-Therapie, Selbstbeschaffung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 13.09.2023 – M 18 K 19.1088
Fundstelle:
BeckRS 2025, 2832
Tenor
I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 13. September 2023 wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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Die im Jahre 2007 geborene Klägerin leidet laut fachärztlicher Begutachtung an einer Legasthenie und Anpassungsstörung.
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Am 1. August 2017 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern, beim Jugendamt des Beklagten die Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form einer Legasthenie-Therapie. Dem Antrag beigefügt war ein Gutachten der behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaterin vom 5. Mai 2017, welches als Diagnosen eine Anpassungsstörung mit emotionaler und sozialer Beeinträchtigung (Achse I), eine Rechtschreibstörung und eine Leseschwäche (Achse II) bei durchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit (Achse III) sowie eine deutliche Beeinträchtigung in der psycho-sozialen Anpassung (Achse VI) anführte. Eine schulische Stellungnahme bezüglich der dritten Klasse führt unter anderem aus, dass die Klägerin keine Mühe habe, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Sie sei gut in die Klassengemeinschaft integriert und werde problemlos von allen aufgenommen. Sie werde nicht ausgegrenzt, gemobbt oder gehänselt und ziehe sich auch nicht aus der Gemeinschaft zurück. Das Jahreszeugnis der dritten Klasse führt zum Sozialverhalten insbesondere aus, dass die Klägerin keine Mühe habe, sich in die Gemeinschaft einzufügen, und sie gestalte soziale Kontakte zuverlässig.
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Mit Bescheid vom 17. Oktober 2017 wurde der Antrag abgelehnt. Eine Teilhabebeeinträchtigung liege nicht vor. Es würden sich offensichtlich nicht die von der Rechtsprechung geforderten, nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiven seelischen Störungen zeigen, dass zu erwarten wäre, dass die Fähigkeit zur Eingliederung in der Gesellschaft beeinträchtigt sei.
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Ab November 2017 nahm die Klägerin eine Legasthenie-Therapie in Anspruch.
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Gegen den Bescheid vom 17. Oktober 2017 legte die Klägerin Widerspruch ein und reichte unter anderem einen Zusatz zum fachärztlichen Gutachten nach. Danach zeige die Klägerin bereits eine deutliche Negativerwartung in Bezug auf ihre Leistungen im Rechtschreiben und Lesen sowie Selbstwertdefizite, die sich zunehmend auch auf andere Bereiche ausdehnten, und Schwierigkeiten in der sozialen Integration. Eine neuerliche schulische Stellungnahme führte unter anderem aus, dass die Klägerin nicht vollständig in die Klassengemeinschaft integriert sei, meist bleibe sie mit ihrer besten Freundin zusammen. Aufgrund ihres negativen Selbstbildes und ihrer Unsicherheit ziehe sie sich teilweise aus der Gemeinschaft zurück. Ein weiterer fachärztlicher Kurzbefund teilte mit, dass sich eine deutlich verstärkte psycho-soziale Verunsicherung sowie Somatisierungstendenzen ergäben. Die Legasthenie-Therapie sei dringend erforderlich, da ein wesentliches Integrationsrisiko bestehe und diesbezügliche Anzeichen bereits vorhanden seien.
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Laut Aktenvermerk der zuständigen Sozialpädagogin des Jugendamtes des Beklagten vom 14. März 2018 wird nach Durchsicht der Gutachten und schulischen Stellungnahmen eine nachhaltige und wesentliche Einschränkung der sozialen Teilhabe nicht ersichtlich. Die beschriebenen Probleme beträfen vor allem den schulischen Bereich. Die Klägerin sei in der Klassengemeinschaft zwar nicht vollständig integriert. Sie habe aber eine Freundin und reite in ihrer Freizeit. Es werde kein soziales Integrationsrisiko gesehen, welches eine Eingliederungshilfe begründen würde.
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Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2019 zurückgewiesen. Die durch die Klägerin hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 13. September 2023 ab. Bei der Klägerin liege zwar unbestritten ein Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII vor. Es fehle jedoch für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum an einer (drohenden) Teilhabebeeinträchtigung i.S.v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII.
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Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das klageabweisende Urteil macht die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO geltend. Demgegenüber verteidigt der Beklagte das angefochtene Urteil.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
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Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg, weil die von der Klägerin vorgetragenen Zulassungsgründe nicht durchgreifen oder nicht den Erfordernissen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt sind.
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1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München unterliegt keinen ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit, die nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Zulassung der Berufung gebieten würden. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend einen Anspruch der Klägerin auf Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine von ihr selbst beschaffte Legasthenie-Therapie verneint.
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1.1 Der Einwand der Klägerin, dass sich aus den fachärztlichen Gutachten eine Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII zumindest im Zeitraum 2017/2018 ergebe, vermag die Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen.
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Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass die Feststellung des Vorliegens einer drohenden Teilhabebeeinträchtigung dem Jugendamt obliegt, das hierbei an fachärztliche Stellungnahmen nicht gebunden ist, diese jedoch zu berücksichtigen hat, und dass der unbestimmte Rechtsbegriff der Teilhabebeeinträchtigung der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt.
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Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht für die Beurteilung einer aus der seelischen Behinderung resultierenden Teilhabebeeinträchtigung der Klägerin die Ausführungen der behandelnden Fachärztin herangezogen und berücksichtigt. Dass es hierbei der Diagnose „deutliche Beeinträchtigung in der psycho-sozialen Anpassung“ nicht folgt, begegnet keinen ernstlichen Zweifeln. Denn auch wenn die fachärztliche Stellungnahme, die primär für die Feststellung der abweichenden seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII erstellt wird, Ausführungen zu einer drohenden Teilhabebeeinträchtigung im Sinne von § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII enthält, kann hiervon abgewichen werden (vgl. Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a Rn. 20 unter Verweis auf BayVGH, B.v. 23.8.2006 – 12 C 06.894 – juris Rn. 2).
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Erforderlich ist lediglich, dass die fachärztlichen Ausführungen zur Teilhabebeeinträchtigung angemessen berücksichtigt werden (vgl. Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 31a). Dass dies das Verwaltungsgericht unterlassen haben könnte, hat die Klägerin nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt, wenn sie meint, es sei nicht nachvollziehbar, dass das Gutachten nach Auffassung des Verwaltungsgerichts undeutlich und floskelhaft sei, und als Beleg hierfür dieses wörtlich zitiert. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar bemängelt, dass das Gutachten nicht individuell ausführt, welche Aussagen oder Verhaltensweisen der Klägerin oder sonstige Umstände das Vorliegen der Ängste und Verunsicherungen im psycho-sozialen Bereich nahelegen, und dass auch die Diagnose auf der Achse VI nicht erläutert wird. Dem ist die Klägerin nicht substantiiert entgegengetreten. Soweit sie meint, die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII fänden sich als Kernaussagen im Gutachten, übersieht sie, das allein die Diagnose eines Facharztes gerade nicht automatisch zur Annahme einer Teilhabebeeinträchtigung führt.
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1.2 Auch der weitere Einwand der Klägerin, es sei zweifelhaft, dass auch die schulischen Stellungnahmen kaum Raum für die Annahme einer Teilhabebeeinträchtigung ließen, stellt die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht substantiell in Frage. Denn auch hier gibt die Klägerin zunächst nur die Argumentation des Verwaltungsgerichts wieder, ohne sich konkret mit dieser auseinanderzusetzen.
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Das Verwaltungsgericht geht insofern im Ergebnis zutreffend davon aus, dass bei der Klägerin keine drohende Teilhabebeeinträchtigung anzunehmen war. Das Verwaltungsgericht verkennt dabei nicht, dass die Klägerin laut der zweiten schulischen Stellungnahme „nicht vollständig“ in die Klassengemeinschaft integriert sei und sich meist mit ihrer besten Freundin zurückziehe, zieht daraus jedoch in nachvollziehbarer Weise nicht den Schluss auf eine drohende Teilhabebeeinträchtigung. Denn jedenfalls fehlt es an der – auch nach Auffassung des Verwaltungsgerichts erforderlichen – gewissen Erheblichkeit der auf der seelischen Behinderung beruhenden Schulprobleme. Für eine totale Schul- und Lernverweigerung, einen Rückzug aus allen sozialen Kontakten, eine Vereinzelung der Klägerin in der Schule oder ähnliche Verhaltensweisen, die auf eine nachhaltige Beeinträchtigung der sozialen Integration der Klägerin hindeuten könnten (vgl. hierzu Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 23; Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a SGB VIII, Rn. 19, jeweils m.w.N.; OVG Münster, B. v. 25.3.2021 – 12 A 4091/19 – juris Rn. 10), fehlen in sämtlichen Stellungnahmen hinreichend konkrete Anhaltspunkte.
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Die Klägerin setzt sich mit dieser Einschätzung auch nicht substanziell auseinander und vermag nicht konkret darzulegen, weshalb entgegen der Argumentation des Verwaltungsgerichts eine Beeinträchtigung der Fähigkeit der Klägerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zumindest gedroht habe.
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Soweit das Verwaltungsgericht die fachliche Stellungnahme der pädagogischen Fachkraft des Jugendamts „dementsprechend“ – also in Übereinstimmung mit seiner eigenen Schlussfolgerung – im Ergebnis für noch nachvollziehbar hält, ist dies entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht widersprüchlich. Auch wenn die Stellungnahme aus Sicht des Verwaltungsgerichts sehr knapp und wenig belastbar sein mag, ist die Kammer nicht gehindert, dieser im Ergebnis zu folgen. Denn die Stellungnahme bestätigt insofern lediglich die zuvor getroffene Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass keine Teilhabebeeinträchtigung zu besorgen ist. Das Verwaltungsgericht durfte sich aufgrund der vorliegenden Unterlagen ein eigenes Bild von einer möglichen Teilhabebeeinträchtigung machen, weil die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Teilhabebeeinträchtigung der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 35a SGB VIII, Rn. 21).
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1.3 Da somit keine ernstlichen Zweifel an der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft insbesondere in schulischer Hinsicht nicht beeinträchtigt ist, dargelegt sind, scheidet ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die selbstbeschaffte Legasthenie-Therapie aus. Auf die darüber hinaus aufgeworfenen Fragen, insbesondere die Verknüpfung der seelischen Störung und der Teilhabebeeinträchtigung sowie eine etwaige Verbesserung der Testwerte, kommt es daher entscheidungserheblich nicht mehr an.
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2. Soweit die Klägerin „vorsorglich“ auch den Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) geltend macht, führt dies ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Die angeführten Gründe geben nach obenstehenden Ausführungen keinen Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Ausgang des Rechtsstreits erscheint aufgrund der summarischen Prüfung im Zulassungsverfahren nicht als offen. Dies wäre jedoch Voraussetzung für die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (vgl. Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 106).
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3. Die Klägerin trägt nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gemäß § 188 Satz 2 VwGO ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
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4. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Mit der Ablehnung des Zulassungsbegehrens wird das verwaltungsgerichtliche Urteil nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.