Titel:
Asylverfahren, Herkunftsland Venezuela, Keine asylrechtliche Verfolgung oder Bedrohung vorgebracht, Feststellung eines Abschiebungsverbots (verneint), Familiäre Bindung
Normenketten:
AsylG §§ 3 ff.
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7 S. 1
Schlagworte:
Asylverfahren, Herkunftsland Venezuela, Keine asylrechtliche Verfolgung oder Bedrohung vorgebracht, Feststellung eines Abschiebungsverbots (verneint), Familiäre Bindung
Fundstelle:
BeckRS 2025, 28283
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. März 2020 wird in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Klägerin ist venezolanische Staatsangehörige. Sie reiste am 12. November 2019 zusammen mit ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. Dezember 2019 einen Asylantrag.
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Nach Anhörung am 30. Januar 2020 und am 17. Februar 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 3. März 2020 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; andernfalls wurde ihr die Abschiebung nach Venezuela oder in einen sonstigen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Verbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 16. März 2020, eingegangen bei Gericht am 18. März 2020, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3. März 2020 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen und weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Venezuela vorliegen.
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Zur Begründung wird auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
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Die Beklagte übersandte die Behördenakten und beantragt,
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Mit Beschluss vom 27. September 2024 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schreiben vom 16. Dezember 2024 verzichtete die Klägervertreterin auf Durchführung der mündlichen Verhandlung. Das Bundesamt verzichtet mit Schreiben vom 17. Dezember 2024 ebenfalls.
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Mit Urteilen des Verwaltungsgerichts München vom 3. Juni 2025 wurde in den Verfahren des Ehemanns, M 31 K 20.30945, und der minderjährigen Tochter der Klägerin, M 31 K 22.30763, die Abschiebungsandrohung aufgehoben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte in diesem Verfahren und im Verfahren M 31 K 20.30945 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten jeweils mit Schreiben vom 16. Dezember 2024 bzw. 17. Dezember 2024 einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des hilfsweise angestrebten subsidiären Schutzes. Gleiches gilt für die noch weiter hilfsweise beantragte Feststellung, dass bei ihr ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Venezuela besteht. Jedoch sind die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot in den Nrn. 5 und 6 des Bescheides rechtswidrig und rechtsverletzend und somit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
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1. Hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten folgt das Gericht den zutreffenden Feststellungen und der zutreffenden Begründung des streitgegenständlichen Bescheides und sieht daher von einer eigenständigen Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Im gerichtlichen Verfahren sind keine über das behördliche Verfahren hinausgehende essentielle Aspekte vorgetragen worden. Ergänzend ist lediglich auszuführen:
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1.1. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheiden unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation in Venezuela und der individuellen Umstände der Klägerin aus.
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1.1.1. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 23 m. w. V. auf die Rspr. des EGMR). Auch die allgemeinen – schlechten – Lebensverhältnisse im Herkunftsgebiet oder im Zielgebiet können in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen (vgl. VGH BW, U. v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 –, juris Rn. 165 und U. v. 24.7.2013 – A 11 S 697/13 –, juris Rn. 79 ff. m. w. N. auf die Rspr. des EGMR). Es sind im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies allerdings nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt (vgl. BVerwG, U. v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 –, juris Rn. 25; VGH BW, U. v. 12.10.2018 a. a. O.). Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt demnach ein Mindestmaß an Schwere voraus, für das das Bestehen einiger Mängel nicht reicht. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O.). Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist eine tatsächliche Gefahr erforderlich, d. h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss danach aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (BVerwG, U. v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 –, juris).
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(1) Hiervon ausgehend ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Venezuela nicht, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Situation der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf Venezuela vorliegt. Geprägt wird das Leben der Menschen in Venezuela von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage, außerdem von prekären humanitären Gegebenheiten, sowie von einer hohen Kriminalitätsrate und einer damit einhergehenden schlechten Sicherheitslage. Nach der Erkenntnislage befindet sich Venezuela weiterhin in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen, sicherheitspolitischen, gesellschaftlichen und humanitären Krise. Die Wirtschaft leidet infolge der gescheiterten unter der Ägide des ehemaligen Präsidenten H. Ch. initiierten Wirtschaftspolitik, die sein Nachfolger fortgesetzt hat. Venezuela verfügt über die mutmaßlich größten Rohölvorkommen weltweit. Die Führung hat die Ölindustrie verstaatlicht. Verstärkt durch den stark gefallenen Ölpreis ist dieses staatliche Geschäftsmodell eingebrochen. Das Land befand sich seit 2014 in einer Rezession. Die Wirtschaft des Landes ist nach den Rezessionsjahren inzwischen wieder gewachsen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31. März 2023). Die Inflation betrug 2023 noch 190%, wenngleich das Wiedererstarken der Ölindustrie in Verbindung mit hohen Energiepreisen das Wachstum in den letzten Jahren vorangetrieben hat, so dass es 2022 einen zweistelligen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes gab. Diese Verbesserung erreicht jedoch noch nicht die allgemeine Bevölkerung. Millionen Venezolaner sind auf humanitäre Unterstützung angewiesen, ein Großteil der Bevölkerung lebt in Armut. Die Nahrungsmittel in Venezuela sind knapp, die Lebensmittelversorgung ist prekär und die Teuerungsrate für Nahrungsmittel ist weiter hoch (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31. März 2023). Im Jahr 2016 wurde ein Lebensmittelverteilungsprogramm gestartet: Zentralisierte Lebensmittelimporte werden an Komitees verteilt und die nationalen Produzenten müssen einen Teil ihrer Produktion abliefern. Einmal im Monat stellen die sogenannten Lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees („CLAP“) Pakete mit Grundnahrungsmitteln wie Reis, Mehl, Öl, Nudeln, Zucker und Salz zusammen und verkaufen sie zu subventionierten Preisen von Tür zu Tür an zuvor gelistete Haushalte (vgl. VG Leipzig, U. v. 30.1.2024 – 7 K 996/22A. – juris). Zugang zum CLAP-System haben aber nur Personen, die sich registrieren lassen. Das bedeutet üblicherweise, dass sie eine Carnet de la Patria beantragen müssen. Die Boxen müssen – allerdings zu einem extrem stark subventionierten Preis – im Voraus bezahlt und, gebietsabhängig je nach Kreis, zu bestimmten Zeitpunkten abgeholt werden. Auf diese Weise war es möglich, die Ausgabe in die Zeiten oppositioneller Demonstrationen zu legen. Die innerhalb einer CLAP-Box befindlichen Nahrungsmittel sind nicht geeignet, eine dreiwöchige Periode lang ausreichend ernährt zu werden. Sie stellen lediglich eine Basisversorgung dar, die anderweitig ergänzt werden muss (vgl. VG Leipzig, U. v. 30.1.2024 – 7 K 996/22A. – juris). Strom und Wasser stehen grundsätzlich zumindest einige Stunden pro Woche zur Verfügung.
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Die medizinische Versorgungslage ist ebenfalls desolat. Die medizinische Versorgung ist selbst in Großstädten oftmals nicht gewährleistet. In vielen öffentlichen Krankenhäusern sind die hygienischen Verhältnisse prekär. Engpässe der Versorgung mit Medikamenten betreffen öffentliche und private Krankenhäuser. Der öffentliche Gesundheitssektor in Venezuela ist nicht mehr in der Lage, Kranke adäquat zu versorgen oder notwendige Operationen durchzuführen. Etwas besser ausgestattet ist derzeit noch der private Sektor, wo allerdings auch schon massive Mangelerscheinungen zu beobachten sind. Viele Medikamente und Medizinprodukte sind auch dort nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt erhältlich. Viele Ärzte sowie Pflegepersonal haben das Land verlassen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31. März 2023). Eine adäquate medizinische Versorgung von Notfällen ist in vielen Landesteilen nicht gewährleistet.
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Die wirtschaftliche und medizinische Versorgungslage hat sich in Venezuela seit März 2020 weiterhin verschlechtert, auch wenn zuletzt eine leichtere Verbesserung eingetreten ist. Auch die Sicherheitslage in Venezuela ist prekär. Gewalttätige Ausschreitungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten sind jederzeit möglich. Es besteht eine verbreitete, hohe Gewaltkriminalität. Entführungen zur Erpressung von Geldzahlungen, Überfälle mit Waffengewalt sowie Straßenkriminalität haben zugenommen und sind weit verbreitet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31. März 2023). Es gibt zudem immer wieder Berichte über polizeilichen Missbrauch und Beteiligung an Straftaten, einschließlich illegaler und willkürlicher Festnahmen, außergerichtlicher Tötungen, Entführungen und Einschüchterungsversuchen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31. März 2023).
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(2) Dies zugrunde gelegt, ist grundsätzlich dennoch nicht davon auszugehen, dass die humanitären Bedingungen und die Sicherheitslage, auf die eine gesunde, leistungsfähige, erwachsene Frau bei der Rückkehr nach Venezuela trifft, derartig schlecht sind, dass ein Rückkehrer in humanitären Zuständen existieren müsste, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen festgestellt werden können, was hier jedoch nicht der Fall ist. Dass die Existenzsicherung oder gar das Überleben für sämtliche Rückkehrer im vorstehenden Sinne nicht gewährleistet wäre, lässt sich nicht generell feststellen. Auch wenn das Gericht nicht verkennt, dass die fraglos beklagenswerten prekären humanitären Umstände, insbesondere die schwierige Lebensmittelversorgung, und die schlechte allgemeine Sicherheitslage, schwierige Lebensbedingungen darstellen, ist bei der Klägerin ein ganz außergewöhnlicher Fall, in dem humanitäre Gründe ihrer Abschiebung zwingend entgegen stünden, nicht festzustellen. Dies gilt auch vorliegend unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin. Das Gericht ist aufgrund der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel davon überzeugt, dass die Klägerin nicht zu einem besonders hilfsbedürftigen Teil der venezolanischen Bevölkerung zählt, deren Existenzminimum derzeit gefährdet wäre.
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Die Klägerin ist volljährig, jung, gesund, gut ausgebildet und arbeitsfähig; die normative, (auch) zielstaatsbezogen wirkende (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG ist nicht widerlegt. Hinweise darauf, dass sie nach ihrer Rückkehr nicht in der Lage sein wird, das Existenzminimum für sich und ihre Tochter – gegebenenfalls auch ohne Unterstützung ihres Ehemanns – zu sichern, sind auch im Übrigen nicht ersichtlich. Es ist nichts dafür erkennbar, dass die Klägerin, die in ihrer Heimat sozialisiert ist, dort auch noch Familie hat und vor ihrer Ausreise durch ihre Tätigkeit als Stylistin ihre Existenz gesichert hat, nicht in der Lage wäre, im Falle der Rückkehr wieder ihren Lebensunterhalt und den ihrer Tochter zumindest „mit ihrer Hände Arbeit“, wenn gegebenenfalls auch auf eher niedrigem Niveau, so doch noch ausreichend zu bestreiten. Bessere wirtschaftliche oder soziale Perspektiven in Deutschland begründen kein Abschiebungsverbot. Die Klägerin wird die bereits dargelegten negativen wirtschaftlichen Folgen im Falle der Rückkehr nach Venezuela dort sicherlich spüren. Dass dies für sie aber derart existenzielle Folgen zeitigen wird, dass ihr existenzbedrohende Armut und somit gleichsam die Verelendung droht, ist zur Überzeugung des Gerichts nicht wahrscheinlich.
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1.1.2. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Danach soll von einer Abschiebung abgesehen werden, wenn im Zielstaat für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
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(1) Bei den in Venezuela vorherrschenden Lebensbedingungen handelt es sich um eine Situation, der die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist, weshalb Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausschließlich durch eine generelle Regelung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt wird. Eine extreme Gefährdungslage, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausnahmsweise dann nicht greift (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris), wenn ein Einzelner gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, liegt nicht vor. Dies hat das Bundesamt im streitbefangenen Bescheid unter Nr. 4 der Begründung zutreffend festgestellt; hierauf wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 AsylG). Aus den vorliegenden aktuellen Erkenntnismitteln, ergibt sich hierzu nichts Gegenteiliges.
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(2) Bei der Klägerin bestehen auch keine erheblichen konkreten Gefahren aus gesundheitlichen Gründen. Dies ist nur der Fall bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Solche Erkrankungen sind nicht vorgetragen.
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2. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot in den Nrn. 5 und 6 des Bescheides sind jedoch nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und rechtsverletzend und somit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
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2.1. Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54)) hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union reagiert, wonach die bisherigen Regelungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung teilweise nicht den Anforderungen der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) genügten (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 ff.). Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG nunmehr voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Damit werden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden (vgl. EuGH, U.v. 14.1.2021 – C-441/19 – juris Rn. 60; EuGH, U.v. 8.5. 2018 – C-82/16 – juris Rn. 102; EuGH, U.v. 11.12.2014 – C-249/13 – juris Rn. 48). Die Betroffenheit der in der § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht hat das Bundesamt als nach § 35 AsylG für die Abschiebungsandrohung zuständige Behörde beim Erlass der Androhung zu prüfen. Im Rahmen der Kontrolle haben die Verwaltungsgerichte im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen (so zusammenfassend z.B. BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 58 ff.).
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2.2. Vorliegend stehen familiäre Bindungen der Klägerin der Abschiebungsandrohung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung entgegen. Der Schutz knüpft dabei nicht an bloße formal-rechtliche familiäre Bindungen an. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 20.11.2023 – 13 ME 195/23 – juris Rn. 7 m.w.N.). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten. Im Lichte von Art. 7 und 24 GRCh, Art. 8 EMRK und Art. 6 GG kommt es für die Gewichtung des Kindeswohls und der familiären Verbundenheit maßgeblich auf die Regelmäßigkeit der persönlichen Beziehungen und direkten Kontakte an (vgl. BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 63). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (BVerfG, B.v. 2.11.2023 – BvR 441/23 – juris Rn. 23 m.w.N.). Der Begriff der familiären Lebensgemeinschaft fordert weiter nicht unbedingt eine häusliche Gemeinschaft. Eine familiäre Lebensgemeinschaft wird aber in der Regel durch eine gemeinsame Lebensführung jedenfalls in der Form der Beistandsgemeinschaft zwischen erwachsenen Angehörigen und der Erziehungsgemeinschaft zwischen erwachsenen und minderjährigen Angehörigen gekennzeichnet sein und einen Lebensmittelpunkt besitzen. Zur Entfaltung eines gemeinsamen Lebens gehört im Allgemeinen eine gemeinsame Wohnung. Leben die Familienmitglieder zusammen, so liegt eine familiäre Lebensgemeinschaft ohne Rücksicht darauf vor, ob die Eltern miteinander verheiratet und das Kind ehelich oder nichtehelich ist (VG Gießen, B.v. 18.4.2024 – 1 L 1041/24.GI.A – juris Rn. 10 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 9.12.1997 – 1 C 19/96 – juris Rn. 22).
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Die Klägerin ist nach Aktenlage zusammen mit ihrem Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Hier wurde sodann die – nunmehr zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vier Jahre alte – gemeinsame Tochter der Klägerin und ihres Ehemanns geboren. Die Klägerin übt zusammen mit ihrem Ehemann die gemeinsame Sorge für ihre Tochter aus. Sämtliche vorgenannten Personen haben eine gemeinsame Wohnung inne. Es liegt somit eine häusliche Gemeinschaft und eine Erziehungsgemeinschaft und mithin letztlich eine familiäre Lebensgemeinschaft vor.
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Vor diesem Hintergrund stehen der im angegriffenen Bescheid vom 3. März 2020 verfügten Abschiebungsandrohung nach Venezuela familiäre Bindungen der Klägerin entgegen. Denn ihrem Ehemann wurde als peruanischem Staatsangehörigen nach Aktenlage die Abschiebung nach Peru angedroht (Az. Bundesamt 7* … * …, bei Gericht M 31 K 20.30945). Der Tochter der Klägerin wurde die Abschiebung nach Venezuela und/oder Peru angedroht (Az. Bundesamt 8* … * …, bei Gericht M 31 K 22.30763). Die Beklagte weist im streitgegenständlichen Bescheid im Ausgangspunkt zutreffend darauf hin, dass der Ehemann der Klägerin über kein asylunabhängiges Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet und somit über keinen gesicherten Aufenthalt verfügt (vgl. zu einer derartigen Konstellation BayVGH, U.v. 9.1.2024 – 24 B 23.30364 – juris Rn. 45). Somit dürften die bestehenden familiären Verbindungen im Fall einer gemeinsamen Abschiebung im Allgemeinen kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis darstellen.
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Ob angesichts der gesonderten behördlichen (und gerichtlichen) Verfahren bereits ein unterschiedlicher zeitlicher Verlauf der Asylverfahren der Familienangehörigen bei Erlass der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen wäre, kann hier dahinstehen. Denn die (auf der Hand liegende) Besonderheit der Konstellation liegt darin, dass den Familienangehörigen die Abschiebung in unterschiedliche Staaten angedroht wurde. Eine Abschiebung der Klägerin nach Venezuela würde voraussichtlich jedenfalls zu einer vorübergehenden Trennung von ihrem Ehemann führen. Zwar könnte nach Aktenlage die Klägerin (zumindest im Zielstaat übereinstimmend) zusammen mit ihrer Tochter nach Venezuela abgeschoben werden, dies würde aber zu einer Trennung der nur vier Jahre alten Tochter der Klägerin von ihrem Vater führen. Im Allgemeinen und auch im konkreten Fall der Klägerin und ihrer Tochter ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zur Mutter und zum Vater der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient. Auch ist zu berücksichtigen, dass noch sehr kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, B.v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23 – juris Rn. 23 m.w.N.; BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 64). Ein unterschiedlicher Verlauf der Asylverfahren der einzelnen Familienmitglieder und eine dadurch etwa verursachte Verletzung des Kindeswohls bzw. der zu betrachtenden familiären Bindungen der betroffenen Ausländer ist vom Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen (BayVGH, B.v. 1.8.2023 – 6 ZB 22.31073 – juris Rn. 32; vgl. auch VG Freiburg, B.v. 27.2.2023 – A 10 K 2798/22 – juris Rn. 13). Dies ist vorliegend jedenfalls im Rahmen des streitgegenständlichen Bescheids nicht geschehen.
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Etwas Anderes ergibt sich im vorliegenden Fall – zumindest im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – auch nicht aus den Umständen des Einzelfalls. Nach Angaben des Ehemanns der Klägerin habe dieser mehr als 20 Jahre in Venezuela gelebt und auch eine Aufenthaltserlaubnis besessen bevor er nach Peru zurückgegangen sei. Die Klägerin selbst habe sich immer nur für kurze Zeit in Peru aufgehalten, sei dann wieder zurück nach Venezuela gegangen und verfüge über keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für Peru. Eine gemeinsame Rückkehrperspektive aller Familienangehörigen sowohl nach Venezuela als auch nach Peru erscheint also denkbar, eine solche wurde durch die Beklagte im konkreten Fall jedoch weder für Peru noch für Venezuela geprüft und (mit) verfügt.
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2.3. Die erforderliche Berücksichtigung familiärer Bindungen durch die Abschiebungsandrohung (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG) ist ferner durch den streitgegenständlichen Bescheid auch im Übrigen nicht hinreichend bewältigt.
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Zu keinem anderen Ergebnis führt zunächst der seitens der Beklagten in den streitgegenständlichen Bescheid aufgenommene Hinweis, wonach gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise zusammen mit Familienangehörigen entscheidet. Der als solcher zutreffende Hinweis ändert jedoch nichts daran, dass – wie mehrfach ausgeführt – familiäre Belange bereits beim Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt nach § 34 AsylG zu berücksichtigen sind und sich der Ausländer insoweit nicht auf ein nachgelagertes Verfahren der Ausländerbehörde verweisen lassen muss (BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris Rn. 7; ausdrücklich zu dem offenbar standardmäßig durch die Antragsgegnerin verwendeten Hinweis bereits VG Bayreuth, U.v. 28.5.2024 – B 3 K 24.30105 – juris Rn. 77; VG Gießen, B.v. 18.4.2024 – 1 L 1041/24.GI.A – juris Rn. 17; VG Freiburg (Breisgau), B.v. 27.2.2023 – A 10 K 2798/22 – juris Rn. 13). Der Anwendungsbereich des § 43 Abs. 3 AsylG mag infolge der oben dargelegten Anpassung des § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG eingeschränkt sein. Die Vorschrift läuft jedoch nicht vollständig ins Leere, sondern kann etwa Fälle erfassen, in denen der Asylantrag des Familienangehörigen erst nach Abschluss des Asylverfahrens, aber vor Vollzug der Abschiebungsandrohung gestellt wurde (VG Gelsenkirchen, B.v. 3.4.2024 – 14a L 239/24.A – juris Rn. 68; vgl. auch Pietzsch, in: BeckOK AuslR, 42. Ed. 1.4.2024, § 43 AsylG Rn. 6).
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Eine hinreichende Berücksichtigung familiärer Bindungen durch die Abschiebungsandrohung (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG) besteht schließlich auch nicht auf Grundlage des im streitgegenständlichen Bescheid tenorierten Hinweises, wonach die Klägerin auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet ist. Hierbei handelt es sich um einen gesetzlich vorgesehenen (§ 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) Hinweis vor dem Hintergrund, dass die Bezeichnung eines Abschiebungsstaates grundsätzlich keine verbindliche Festlegung der Behörde darstellt. Die Entbehrlichkeit einer Nennung weiterer möglicher Zielstaaten ändert aber nichts daran, dass vor der Abschiebung in ein konkretes Land die Ankündigung der Abschiebung in Bezug auf dieses Land nachzuholen ist. Will die Abschiebebehörde von dem in der Androhung bezeichneten Staat abweichen, so bedarf es allerdings grundsätzlich einer Bestimmung des endgültigen Zielstaates in der Form einer selbstständig anfechtbaren Verfügung. Dies gilt auch, wenn das Bundesamt nach § 34 AsylG die Abschiebungsandrohung erlassen hat. Soll ein Ausländer in einen anderen als den ausdrücklich bezeichneten Zielstaat abgeschoben werden, so bedarf es einer in der ausschließlichen Kompetenz des Bundesamts liegenden Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (Hailbronner in: ders., Ausländerrecht, § 59 AufenthG, Rn. 48 ff.). Allein auf Grundlage des vorgenannten Hinweises könnte die Klägerin mithin nicht – wie es nach den aktenkundigen Umständen möglicherweise naheläge – zusammen mit den weiteren Familienangehörigen nach Peru abgeschoben werden.
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Insgesamt stehen der erlassenen Abschiebungsandrohung somit derzeit Belange nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG entgegen, so dass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen.
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3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Das Obsiegen der Klägerin hinsichtlich der Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots wiegt gegenüber dem Unterliegen bezüglich der mit dem Asylantrag und der Klage vorrangig begehrten Verpflichtungen auf eine (Abschiebungs-)Schutzgewährung verhältnismäßig gering (vgl. im Ergebnis so auch VG Sigmaringen, U.v. 7.6.2021 – A 4 K 3124/19 – juris, mit einer Kostenquote von 1/10 zu 9/10), sodass der Klägerin die Kosten ganz auferlegt werden.