Inhalt

VG München, Beschluss v. 13.08.2025 – M 1 SN 25.4082
Titel:

Eilantrag, Nachbarrechtsbehelf, Umnutzung einer Schreinerei, Aufteilung einer Wohneinheit, Anbau, Dachterrasse, Abstandsflächenpflicht, Abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung, Stellplätze, Gebot der Rücksichtnahme

Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
BayBO Art. 6
BayBO Art. 46 Abs. 5
Schlagworte:
Eilantrag, Nachbarrechtsbehelf, Umnutzung einer Schreinerei, Aufteilung einer Wohneinheit, Anbau, Dachterrasse, Abstandsflächenpflicht, Abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung, Stellplätze, Gebot der Rücksichtnahme
Fundstelle:
BeckRS 2025, 28269

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (M 1 K 25.1601) wird angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Antragsgegnerin und die Beigeladenen jeweils zur Hälfte zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die aufschiebende Wirkung seiner Klage (M 1 K 25.1601) gegen die Baugenehmigung, die die Antragsgegnerin den Beigeladenen erteilt hat, anzuordnen.
2
Der Antragsteller ist Miteigentümer des Grundstücks FlNr. 1783/6 Gem. R. Dieses grenzt südlich an das Grundstück der Beigeladenen, FlNr. 1783/5 Gem. R. (Vorhabengrundstück), an. Ein Bebauungsplan besteht für das Gebiet nicht.
3
Für das Vorhabengrundstück wurde 1950/1952 die Baugenehmigung zur Errichtung einer Schreinerei (EG) mit Wohnung (EG und OG) erteilt. Die Errichtung einer Doppelgarage an der südlichen Grundstücksgrenze wurde im Jahr 1958 bauaufsichtlich genehmigt. Mit Bescheid vom … Dezember 1960 wurde die Anbringung eines Balkons an die südliche Fassade im Bereich des OG bauaufsichtlich genehmigt. Mit Baugenehmigung vom … Januar 1975 erfolgte die Genehmigung zur Erweiterung des Schreinereibereichs durch einen erdgeschossigen Anbau bis hin zur südlichen Grundstücksgrenze, und Nutzung des Daches des Anbaus als Terrasse für das OG. Diese Baugenehmigung beinhaltete unter Tenorziffer II. die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen gemäß Art. 6 Abs. 3 BayBO in der Fassung der Neubekanntmachung vom 1. Oktober 1974.
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Unter dem ... Dezember 2024 beantragten die Beigeladenen die Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung der Schreinerwerkstatt in zwei Wohneinheiten und Aufteilung der Wohneinheit im Obergeschoss in zwei Wohneinheiten samt der damit einhergehenden Umbauarbeiten und Erneuerung des Daches mit Ausbau von Dachgauben. Ausweislich der gestempelten Eingabepläne ist vorgesehen, den Zugang zu den zwei im Obergeschoss gelegenen Wohneinheiten über eine Außentreppe zu gewährleisten. Diese ist an der Ostseite des Hauses angebracht, an sie ist eine nach Norden hin umlaufende „Veranda“ angeschlossen. Diese hat eine Breite entlang der östlichen Fassade von ca. 14,6 m und eine Tiefe von bis zu 2,80 m (im Bereich der Treppe ca. 1,8 m) und schließt direkt an den auf der Nordseite als Bestand vorhandenen Balkon an. Dies genehmigte die Antragsgegnerin bauaufsichtlich mit streitgegenständlichem Bescheid vom … Februar 2025.
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Gegen diesen Bescheid, der ihm am … Februar 2025 mittels Einschreiben mit Rückschein zugegangen ist, hat der Antragsteller am … März 2025 Klage (M 1 K 25.1601) erhoben. Am ... Juli 2025 hat er zudem Eilrechtsschutz gesucht und beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anzuordnen.
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Die Baupläne sähen vor, dass am Bestandsgebäude eine Dachterrasse mit Hausumlauf und zusätzlichem Aufgang an der Grundstücksgrenze zum klägerischen Grundstück errichtet werde. Die bisherige Dachterrasse sei nur mit einer Sondergenehmigung des damaligen Eigentümers seines Grundstücks errichtet worden, eine Dachterrasse sei von dieser Genehmigung nicht umfasst. Durch die Erweiterung in den Dachbereich der Garagen befürchte er Beeinträchtigungen durch Lärm und zusätzliche Einsicht in sein Grundstück. Eine Erweiterung an der Grundstücksgrenze bedürfe entweder der Genehmigung durch den Kläger oder sie müsse aufgrund des Rücksichtnahmegebots abgelehnt werden. Aus den Unterlagen gehe zudem die Größe der einzelnen Wohnungen nicht eindeutig hervor, sodass unklar sei, welcher Stellplatzbedarf durch das Vorhaben ausgelöst werde. Jedenfalls seien die in den Planunterlagen dargestellten sechs Stellplätze tatsächlich aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht anfahrbar bzw. nutzbar. Hinzukomme, dass es wohl einen internen Eigentümerstreit bezüglich der Nutzung einer der Stellplätze gebe. Auf Luftbildaufnahmen der angrenzenden Gemeindestraße sei ersichtlich, dass dort bereits auf beiden Straßenseiten geparkt werde, weil zu wenig Stellplätze vorhanden seien. Diese Situation würde sich bei Verwirklichung des Vorhabens noch deutlich verschlimmern. Die Fortführung des Bauvorhabens sei unmittelbar zu unterbinden, weil trotz vorliegendem Verwaltungsverfahren mutwillig das Bauvorhaben begonnen und vorangetrieben werde.
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Die Antragsgegnerin beantragt
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Antragsabweisung.
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Die bestehende, mit Bescheid vom … Januar 1975 genehmigte Dachterrasse an der südlichen Grundstücksgrenze bleibe unverändert. Die Nutzungsänderung im Erdgeschoss der ehemaligen Schreinerei unterliege der Privilegierung nach Art. 46 Abs. 5 BayBO. Die bisher an der südlichen Grundstücksgrenze bestehenden Fenster würden mit Verwirklichung des streitgegenständlichen Vorhabens entfallen. Das Gebäude genieße Bestandsschutz. Der Bauherr errichte – obwohl im Hinblick auf den Bestand fünf Stellplätze fiktiv anrechenbar gewesen seien – dem tatsächlichen Bedarf entsprechend sechs Stellplätze, die der GaStellV entsprächen, nutzbar und anfahrbar seien. Aus der Antragsbegründung gehe nicht hervor, inwiefern der Antragsteller durch die Stellplatzsituation in seinen Rechten verletzt sei.
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Die Beigeladenen beantragen
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Antragsablehnung.
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Ausweislich der genehmigten Pläne verändere sich die Bestandssituation nicht, soweit es um die Doppelgarage und deren Nutzung, die grenzständige Wand ohne Fenster und um die unmittelbar an der südlichen Grundstücksgrenze gelegene Dachterrasse gehe. Insbesondere werde die Dachterrasse nicht erweitert. Die Veranda ende mit einem Abstand von ca. 6 m zur Grundstücksgrenze. Der Aufgang in das Obergeschoss weise einen Abstand von mindestens 10 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze auf. Die Umwandlung der Schreinerwerkstatt in Wohnraum werfe gemäß Art. 46 Abs. 5 BayBO keine abstandsflächenrechtlichen Fragen auf. Die Verpflichtung zum Nachweis notwendiger Stellplätze sei nicht nachbarschützend. Hinsichtlich eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme sei weder etwas vorgetragen noch ersichtlich. Eine Rechtsverletzung des Antragstellers durch die Baugenehmigung liege nicht vor.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakte, auch im Hauptsacheverfahren, sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom … Februar 2025 gemäß §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1, 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 212a Abs. 1 BauGB anzuordnen, hat Erfolg.
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1. Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den Erfolg des gestellten Antrags. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige, Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
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Danach fällt die Interessenabwägung zugunsten des Suspensivinteresses des Antragstellers aus, weil die in der Hauptsache erhobene Klage (M 1 K 25.1601) nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden Prüfung voraussichtlich Erfolg haben wird.
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Aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ergibt sich, dass Nachbarn eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sie durch die Genehmigung in einem ihnen zustehenden subjektiv-öffentlichen Recht verletzt werden. Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke dienen (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren aufgrund einer Nachbarklage keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind. Zudem kann ein Nachbar eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im jeweiligen Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren.
Dies zugrunde gelegt, wird die Klage in der Hauptsache nach summarischer Prüfung Erfolg haben, denn die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt den Antragsteller in den ihm gegenüber einzuhaltenden Abstandsflächen, Art. 6 BayBO, die Gegenstand des Prüfprogramms des hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1, Art. 59 Satz 1 BayBO waren. Diese Verletzung ergibt sich zwar nicht durch die Umnutzung des Erdgeschosses (1.1), sondern im Hinblick auf den im Zusammenhang mit der Aufteilung der Wohneinheiten erfolgenden Anbau einer Treppe samt Veranda (1.2).
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1.1. Die Nutzungsänderung des 1950 als Schreinerei genehmigten Teils des EG in Wohnen wäre isoliert betrachtet nicht mit einer abstandsflächenrechtlichen Neubetrachtung gemäß Art. 6 BayBO verbunden. Die Maßnahme könnte sich insoweit auf die Sonderregelung des Art. 46 Abs. 5 BayBO berufen. Sollen Nutzungseinheiten mit Aufenthaltsräumen in bestandsgeschützten Gebäuden in Wohnraum umgewandelt werden, sind nach dieser Regelung auf bestehende Bauteile unter anderem die in Art. 6 BayBO enthaltenen Abstandsflächenregelungen nicht anzuwenden. Die Vorschrift wurde durch die BayBO-Novelle 2021 neu eingefügt und trat am 1. Februar 2021 in Kraft. Sie soll die Schaffung von Wohnraum in Bestandsgebäuden erleichtern, wenn Nutzungseinheiten mit Aufenthaltsräumen wie Laden- und Büroeinheiten in Wohnraum umgenutzt werden sollen (Voigt in BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 33. Edition 2023, Art. 46 Rn. 18). Art. 2 Abs. 5 BayBO definiert Aufenthaltsräume als Räume, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet sind. Dies trifft auf eine Schreinerei zweifelsohne zu.
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1.2 Allerdings führt der Anbau der „Veranda“ als Hausumlauf an der östlichen Gebäudeseite, die dem Zugang und der Aufteilung der im OG gelegenen Wohnung in zwei Wohneinheiten dient, zu einer abstandsflächenrechtlichen Neubetrachtung des Gesamtvorhabens. Dieses vermag mit seinem im Süden zum Antragsteller hin grenzständigen Anbau die erforderlichen Abstandsflächen offensichtlich nicht einzuhalten.
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Insoweit können sich die Beigeladenen schon deshalb nicht auf Art. 46 Abs. 5 BayBO berufen, weil der Anbau nicht einer – damit vom Gesetzgeber abstandsflächenrechtlich privilegierten – Nutzungsänderung eines Aufenthaltsraums in Wohnen dient, sondern der Aufteilung bestehenden Wohnraums in zwei Wohneinheiten. Dahinstehen kann vorliegend daher, wie Anbauten, die mit einer Nutzungsänderung von Aufenthaltsräumen in Wohnnutzung einhergehen, im Hinblick auf das Abstandsflächenrecht zu beurteilen wären.
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Zur Ermittlung der durch das streitgegenständliche Vorhaben ausgelösten Abstandsflächen ist nicht allein auf die Außenwände des östlichen und nördlichen Anbaus abzustellen, sondern im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auf die gesamten Außenwände einschließlich der fortbestehenden Gebäudeteile. Eine Neubeurteilung der Abstandsflächen des gesamten Gebäudes in seiner geänderten Gestalt ist erforderlich, wenn bauliche Änderungen erfolgen, die im Vergleich zum bisherigen Bestand ungünstigere Auswirkungen auf die nachbarlichen Interessen als möglich erscheinen lassen (BayVGH, B.v. 23.1.2002 – 2 CS 01.2297 – juris Rn. 12 m.w.N.). Dies ist vorliegend zu bejahen, denn dadurch wird der vom Abstandsflächenrecht geschützte Belang des nachbarlichen Wohnfriedens (Kühner in Busse/Kraus, BayBO, 127. EL Januar 2025, Art. 6 Rn. 4) berührt.
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Durch den Anbau der „Veranda“ wird zumindest die östliche Außenwand dahingehend verändert, dass diese um ca. 2,8 m näher an die östliche Grundstücksgrenze heranrückt – insofern wären die Abstandsflächen nach Osten an sich wohl eingehalten. Jedoch auch in Bezug auf die südliche Grundstücksgrenze tritt mit der ca. 2,8 m tiefen „Veranda“ ein weiteres, nicht mehr untergeordnetes (vgl. Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO) Bauteil hinzu. Der Baukörper wird so erheblich verändert, dass der bisherige Interessenausgleich zwischen den Grundstückseigentümern einer erneuten (Gesamt-)Überprüfung bedarf. Denn die „Veranda“, die zwar nach den genehmigten Eingabeplänen nicht überdacht werden soll, bietet sich mit ihrer Tiefe von ca. 2,75 m, die weit über das Maß dessen, was für einen Treppenzugang erforderlich ist, hinausgeht, für eine intensive balkonähnliche Nutzung geradezu an und berührt damit abstandsflächenrechtlichen Belange.
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Damit muss auch das Bestandsgebäude die nach geltendem Recht erforderlichen Abstandsflächen, Art. 6 BayBO, einhalten. Dem wird der südlich bis an die gemeinsame Grundstücksgrenze heranreichende, erdgeschossige Anbau, dessen Fläche ausweislich der genehmigten Eingabepläne (Grundriss Erdgeschoss) dem Kochen/ Essen/ Wohnen dienen soll, nicht gerecht.
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2. Dem Antrag war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge stattzugeben, wobei es der Billigkeit entsprach, den Beigeladenen die hälftige Kostenlast aufzuerlegen, § 154 Abs. 3 1. Halbs. VwGO, und diese ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen zu lassen.
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3. Die Festsetzung des Streitwerts im vorliegenden, vor Bekanntgabe des Streitwertkatalogs 2025 erhobenen Verfahren folgt §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 9.7.1, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.