Inhalt

LSG München, Urteil v. 15.07.2025 – L 5 KR 215/23
Titel:

Erstattung von Fahrtkosten bis zum neu begründeten Wohnsitz in einem Pflegeheim

Normenkette:
SGB V § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
Leitsatz:
Versicherte haben nach einer stationären Krankenhausbehandlung Anspruch auf Erstattung der Fahrtkosten bis zu ihrem zwischenzeitlich erstmals in einem Pflegeheim neu begründeten Wohnsitz.
Schlagworte:
Angemessenheit, Fahrtkosten, Pflegeheim, stationäre Behandlung
Vorinstanz:
SG München, Urteil vom 08.05.2023 – S 3 KR 906/22
Fundstelle:
BeckRS 2025, 27263

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.05.2023 wird zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass von der Klageforderung eine Zuzahlung von 10 Euro in Abzug zu bringen ist.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Der Streitwert wird auf 1.500,- Euro festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt als Alleinerbe die Erstattung von Kosten eines Krankentransportes seines Vaters, des mittlerweile verstorbenen S (Versicherter), von der Klinik F in L in eine stationäre Pflegeeinrichtung in U.
2
Der 1936 geborene und im 08.2022 verstorbene Versicherte wurde nach dem Tod seiner Ehefrau im 03.2022, die bis zuletzt dessen Pflege sichergestellt hatte, zunächst in eine ambulante Tagespflege in B bei G verbracht. Aufgrund einer Intervention des Ordnungsamtes G wurde der Versicherte jedoch am 27.03.2022 in die Klinik F in L verlegt, einer psychiatrischen Klinik mit geriatrischer Behandlung, und dort mit freiheitsentziehendem Beschluss des AG Goslar vom 28.03.2022 untergebracht. In dieser Klinik verblieb er bis zum 31.05.2022. Zwischenzeitlich war der Versicherte zweimal wegen des Verdachts auf Lungenentzündung in allgemeinbehandelnde Krankenhäuser verbracht und sodann wieder zurückverlegt worden.
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Der nunmehrige Kläger war am 27.04.2022 zum Betreuer seines Vaters bestellt worden.
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Unter dem 10.05 2022 beantragte die Klinik F für den Versicherten den streitgegenständlichen Krankentransport nach U. Der Vertrag mit dem Pflegeheim in U wurde vom Kläger am 11.05.2022 unterzeichnet. Die notwendigen Vorgespräche wurden bereits vorher geführt. Nach Abschluss der zwischen den Beteiligten unstreitig notwendigen Krankenhausbehandlung verordnete schließlich das behandelnde Krankenhaus für den Versicherten unter dem 18.05.2022 den Transport vom Krankenhaus in die Heimeinrichtung in U. Inzwischen erhielt der Versicherte Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 5. Der Versicherte hätte in seiner vormaligen Altbauwohnung nicht länger wohnen können, da er inzwischen so weit körperlich eingeschränkt war, dass er in dem engen Treppenhaus des Altbaus nicht in seine Wohnung im 2. OG hätte verbracht werden können. Er sei vollständig auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.
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Die Beklagte bewilligte den Transport mit Schreiben vom 11.05.2022, wobei sie die Transportkilometer auf 16 kürzte, was der Entfernung vom Krankenhaus zum bisherigen Wohnort in G entspricht. Bei einer Entlassung in die Kurzzeitpflege mit anschließendem nahtlosen Übergang in die stationäre Pflege müsse die Transportentfernung ungefähr der Entfernung zur bisherigen Wohnung (G, ca. 16 Kilometer) entsprechen. Die Notwendigkeit des Transportes mit einem Krankentransport ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Unstreitig ist weiter, dass der Versicherte nicht von Zuzahlungen befreit war.
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Am 31.05.2022 erfolgte der vom Kläger selbst organisierte Krankentransport durch die M GmbH von G nach U zu einem Preis von 1.500,- €.
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Die Klägerseite begehrt die vollständige Kostenerstattung. Eine Rückkehr in die Wohnung sei aufgrund der hohen Pflegebedürftigkeit nicht möglich gewesen. In der Nähe seiner bisherigen Wohnung habe der Verstorbene keine Angehörigen gehabt. Seine Ehefrau war kurz zuvor bereits verstorben.
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Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 28.07.2022 zurück. Die Beklagte ist der Ansicht, dass in entsprechender Anwendung der Grundsätze des Urteils des Bundessozialgerichts vom 25.06.1975 (5 RKn 50/74) die weiteren Kosten hier nicht zu erstatten seien. Der Vater des Klägers sei an einen anderen Ort als den der Wohnung transportiert worden und dieser Ort sei weiter vom Krankenhaus entfernt gewesen als die damalige Wohnung. Die Kosten für den Transport seien dann unangemessen hoch gewesen und stünden außer Verhältnis zur Hauptleistung. Außerdem gebe es keinen zwingenden Grund für den Transport nach U, da eine aufnahmebereite stationäre Pflegeeinrichtung auch im Raum G vorhanden gewesen sei.
9
Hiergegen erhob der während des Klageverfahrens zwischenzeitlich verstorbene Versicherte 09.08.2022 Klage auf Erstattung der Krankentransportkosten zum Sozialgericht München. Der Krankentransport sei medizinisch notwendig gewesen. Im Raum G habe man kein geeignetes und aufnahmebereites Pflegeheim gefunden.
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Die Klage wurde nach dem Tod des Versicherten von dessen Sohn als Alleinerben fortgesetzt.
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Der Kläger unterbreitete der Beklagten ein Vergleichsangebot, dem die Beklagte jedoch nicht nähergetreten ist.
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Das SG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Die Beklagte habe die Leistung zu Unrecht abgelehnt. Der Versicherte habe zum maßgeblichen Zeitpunkt seinen Wohnsitz in U gehabt. Daher schulde die Beklagte den Transport des Versicherten bis dort hin.
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Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie ist der Auffassung, dass für eine Neubegründung des Wohnsitzes in U kein wichtiger Grund iSv § 60 SGB V vorgelegen habe. Der Versicherte hätte auch einen Pflegeheimplatz in G bekommen können. Zwar stünden den tatsächlichen Beförderungskosten von 1.500,00 € Behandlungskosten von ca. 27.000,00 € gegenüber, da vor dem Transport ein mehrmonatiger stationärer Krankenhausaufenthalt erfolgt sei. Im vorliegenden Fall seien die Mehrkosten für den Transport mit dem Krankentransportfahrzeug nach U jedoch unangemessen hoch gegenüber einem Transport zum vormaligen Wohnsitz bzw. einer entsprechenden Pflegeeinrichtung in G. Für einen Transport mit dem Krankentransportfahrzeug durch einen Vertragspartner in eine Einrichtung in G in einer Entfernung von bis zu 16 km hätte die Beklagte im Jahr 2022 maximal einen Betrag von 148,09 € aufgewendet.
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Unstreitig hat die Beklagte bis zuletzt keine Teilzahlungen auf die streitige Forderung geleistet.
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Der Kläger hat ausgeführt, dass er vergeblich nach einem Pflegeheimplatz im Raum G gesucht habe, der den besonderen Bedürfnissen seines Vaters infolge seiner starken Demenz entsprochen hätte. Das Pflegeheim hätte über einen geschützten, d.h. geschlossenen Bereich verfügen müssen. Ein solcher Pflegeplatz habe im Raum G nicht zur Verfügung gestanden.
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In der mündlichen Verhandlung hat die Vertreterin der Beklagten erklärt, dass ausweislich des Aktenvermerks jedenfalls ein Pflegeheim bereit gewesen wäre den Versicherten aufzunehmen, daher werde an diesem Einwand einer möglichen Unterbringung in G festgehalten. Ob es sich um ein Heim mit einem geschützten Pflegebereich gehandelt habe, könne allerdings nicht mehr festgestellt werden.
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Der Kläger hat erklärt, dass er von seinem Vater nicht unterhalten worden sei.
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Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.05.2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Akte der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Ergänzend wird hierauf Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist überwiegend nicht erfolgreich. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der streitigen Krankentransportkosten vom 31.05.2022.
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1. Der Kläger ist als Alleinerbe gem. § 1922 BGB Rechtsnachfolger des Versicherten (§ 58 S. 1 SGB I) und als solcher prozessführungsbefugt. Er ist jedoch nicht Sonderrechtsnachfolger nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I da er nicht mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat und von diesem auch nicht unterhalten wurde. Der streitgegenständliche Anspruch ist auch nicht erloschen nach § 59 SGB I.
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2. Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch ist § 13 Abs. 3 iVm. § 60 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB V. Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch kommt vorliegend § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse die Kosten für eine zu Unrecht abgelehnte und vom Versicherten selbstbeschaffte Leistung zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Anspruch reicht allerdings nicht weiter als der ursprünglich geltend gemachte Sachleistungsanspruch. Geht es wie vorliegend um Kostenerstattung für eine abgeschlossen in der Vergangenheit liegende Behandlung, ist die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt maßgeblich (Helbig in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 13 SGB V (Stand: 19.03.2024), Rn. 195; BSG, Urteil vom 08.03.1995 – 1 RK 8/94 – SozR 3-2500 § 31 Nr. 3; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. April 2025 – L 5 KR 193/22 –, Rn. 28, juris).
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Zwar ergibt sich aus § 60 Abs. 1 Satz 3 SGB V eine Genehmigungspflicht nur für Fahrkosten zu einer ambulanten, nicht aber einer stationären Behandlung. Da vorliegend der Versicherte aber die Kostenübernahme für den streitgegenständlichen Krankentransport nach Beendigung einer stationären Behandlung vor der Leistungserbringung bei der Beklagten ausdrücklich beantragt hat, ist der Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V eröffnet.
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a) Nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGB V übernimmt die Krankenkasse die Kosten für Fahrten einschließlich Krankentransporten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse notwendig sind, und zwar nach Maßgabe der §§ 60 Abs. 2 bis 4, 61 und 62 SGB V, also abzüglich einer Fahrtkostenzuzahlung des Versicherten selbst nach § 61 S. 1 SGB V
1.
bei Leistungen, die stationär erbracht werden; dies gilt bei einer Verlegung in ein anderes Krankenhaus nur, wenn die Verlegung aus zwingenden medizinischen Gründen erforderlich ist, oder bei einer mit Einwilligung der Krankenkasse erfolgten Verlegung in ein wohnortnahes Krankenhaus,
2.
bei Rettungsfahrten zum Krankenhaus auch dann, wenn eine stationäre Behandlung nicht erforderlich ist,
3.
bei anderen Fahrten von Versicherten, die während der Fahrt einer fachlichen Betreuung oder der besonderen Einrichtungen eines Krankenkraftwagens bedürfen oder bei denen dies auf Grund ihres Zustandes zu erwarten ist (Krankentransport),
4.
bei Fahrten von Versicherten zu einer ambulanten Krankenbehandlung sowie zu einer Behandlung nach § 115a SGB V oder § 115b SGB V, wenn dadurch eine an sich gebotene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird oder diese nicht ausführbar ist, wie bei einer stationären Krankenhausbehandlung.
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b) Systematisch unterscheidet § 60 zwei grundlegend unterschiedliche Sachverhalte bezüglich der Kostenübernahme: In Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit den Fallgruppen 1 bis 4 in Abs. 2, andererseits in Abs. 1 Satz 3 für besondere Ausnahmefälle, deren Definition dem G-BA übertragen wurde. Hierbei enthält die Vorschrift eine detaillierte und abschließende Regelung für diejenigen Fahrten, für die die Krankenkasse die Kosten trägt. Sowohl Abs. 1 Satz 1 als auch der dort in Bezug genommene Abs. 2 ordnen die Kostenübernahme verbindlich an, ohne dass es der näheren Ausgestaltung durch untergesetzliche Normen bedürfte („Die Krankenkasse übernimmt …“). Welche Voraussetzungen hierfür im Einzelnen vorliegen müssen, regelt das Gesetz in jeder der vier Ziffern des Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit den bereits in Abs. 1 Satz 1 vorausgesetzten zwingenden medizinischen Gründen selbst und abschließend. Hierbei betreffen die Ziffern 2 bis 4 ausschließlich Fahrten zu ambulanten Behandlungen, weil die Fahrten zur stationären Behandlung schon in Ziffer 1 abschließend geregelt sind. Dagegen stellt Abs. 1 Satz 3 eine über die Katalogfälle des Abs. 2 Satz 1 hinausgehende Öffnungsklausel für solche Fälle dar, die vom Gesetz selbst grundsätzlich von der Kostenübernahme ausgeschlossen werden und lediglich im Wege einer vom GBA in Form von Richtlinien vorzunehmenden Konkretisierung („in besonderen Ausnahmefällen“) entgegen dem Regelfall zu einem „Kostenübernahmeanspruch“ des Versicherten führen sollen (Urteil des BSG vom 12.09.2012, USK 2012-155; Werner Gerlach in: Hauck/​Noftz SGB V, 9. Ergänzungslieferung 2025, § 60 SGB V, Rn. 14). Der Anspruch des Versicherten auf den streitgegenständlichen Krankentransport ist damit in § 60 Abs. 1 S. 1. iVm Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 3 SGB V abschließend geregelt.
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c) Gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V sind Krankentransporte Fahrten von Versicherten, die während der Fahrt einer fachlichen Betreuung oder der besonderen Einrichtungen eines Krankenkraftwagens bedürfen oder bei denen dies aufgrund ihres Zustandes zu erwarten ist (§ 6 Abs. 1 Satz 1 KT-RL.) Die Erforderlichkeit des Krankentransports ist vorliegend nachgewiesen durch die ärztliche Stellungnahme des Oberarztes M1 vom 17.05.2022 und zwischen den Beteiligten nicht streitig.
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d) § 60 SGB V setzt generell dafür, dass Krankenkassen Fahrten Versicherter übernehmen, durch die bewusst abschließende Regelung voraus, dass der Versicherte transportiert wird und der Transport einer bestimmten Hauptleistung seiner Krankenkasse dient. Dies ist im vorliegenden Fall die stationäre Krankenhausbehandlung des Versicherten.
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Geschuldet war der Transport vom Krankenhaus zum neuen Aufenthaltsort des Versicherten im Pflegeheim in U (§ 3 Abs. 2 KT-RL).
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Die Kosten des Rücktransports sind vom Fahrkostenanspruch grundsätzlich mitumfasst. Maßgebend ist als Ausgangspunkt der Fahrt also der Ort, an dem sich die Notwendigkeit des Transportes ergibt. Zielort der Rückfahrt ist in der Regel die Wohnung des Versicherten. Ausnahmsweise kann der Rücktransport auch an einen anderen Ort im Inland erfolgen, wenn dafür ein wichtiger Grund vorliegt und die entstehenden Mehrkosten nicht unangemessen hoch sind, insbesondere nicht in einem unangemessenen Verhältnis zu den Kosten der Hauptleistung stehen (Waßer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 60 SGB V Rn. 40). Ein wichtiger Grund liegt beispielsweise vor bei Entlassung aus dem Krankenhaus in die notwendige stationäre Pflege. Die entstehenden Mehrkosten dürfen nicht unangemessen hoch sein und müssen in einem angemessenen Verhältnis zu den Kosten der Hauptleistung stehen (BSGE Band 40 Seite 88; BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, SGB V § 60 Rn. 4).
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2. Ein Rückgriff auf die Regelungen über die naturalleistungsersetzende Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V scheidet dann aus, wenn die Kostenerstattung und -freistellung keine Sachleistung ersetzt (vgl. BSG vom 28.07.2008 – B 1 KR 27/07 R – SozR 4-2500 § 60 Nr. 5 RdNr. 16; BSG vom 18.11.2014 – B 1 KR 8/13 R – SozR 4-2500 § 60 Nr. 7 RdNr. 9). So liegt der Fall auch hier. Der Anspruch auf Kostenübernahme für Krankentransporte nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB V ist jedoch in der Regel auf eine Sach- oder Naturalleistung gerichtet. Denn soweit das SGB V oder das SGB IX nichts Abweichendes vorsehen, ist die Krankenkasse nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V grundsätzlich verpflichtet, ihren Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistung zur Verfügung zu stellen, ohne sie mit Kosten zu belasten. Allerdings spricht § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V selbst nur von der Übernahme von Kosten. Deshalb ist der Anspruch nach ständiger Rechtsprechung des BSG jedenfalls dann nicht auf eine Sachleistung, sondern auf die „Kosten“ als Ausgleich der entstandenen notwendigen finanziellen Aufwendungen selbst gerichtet, wenn die Fahrten von vornherein der Krankenkasse nicht als „eigene“ bzw eigenorganisierte Naturalleistung zugerechnet werden können, wie zB Fahrten des Versicherten im privaten PKW oder die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (vgl BSG vom 18.11.2014 – B 1 KR 8/13 R – SozR 4-2500 § 60 Nr. 7 RdNr. 9 mwN; BSG, Urteil vom 20.02.2025 – B 1 KR 7/24 R –, BSGE (vorgesehen), SozR 4 (vorgesehen), Rn. 14). Für den hier vorliegenden Fall jedoch verbleibt es aber aufgrund des verordneten Transportes mit einem Krankenkraftwagen beim Naturalleistungsanspruch und daran anknüpfend am Kostenerstattungsanspruch bei zu Unrecht abgelehnter Leistung.
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3. Im hier vorliegenden Fall ist festzuhalten, dass die streitgegenständlichen Transportkosten nicht unverhältnismäßig waren zur Hauptleistung (Transportkosten 1.500,-, Behandlungskosten rd 27.000,- €). Die Krankenkasse ist zwar nicht leistungspflichtig für Umzugskosten der Versicherten, auch nicht über den Umweg einer kurzzeitigen stationären Behandlung. Davon zu unterscheiden ist allerdings der hier vorliegende Sachverhalt.
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Der Versicherte war bereits vor Beginn des stationären Aufenthalts pflegebedürftig. Die Pflege wurde von seiner Ehefrau sichergestellt bis zu deren Ableben. Danach verschlechterte sich der Zustand des Versicherten so sehr, dass ein Betreuer bestellt sowie eine Unterbringung in einer geschützten Einrichtung angeordnet wurde. Zudem war der Versicherte inzwischen vollständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Daher war unstreitig eine Rückkehr in die vormalige Wohnung in G nicht mehr möglich. Der vorliegende Fall bietet keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass ein ohnehin geplanter Umzug nach U nunmehr auf Kosten der Beklagten durchgeführt werden sollte, zumal allein die Kosten des Krankentransportes streitgegenständlich sind. Vielmehr hat der Kläger erläutert, dass er im Raum G kein Pflegeheim gefunden habe, das den besonderen medizinischen Anforderungen seines Vaters entsprochen hätte und zudem auch aufnahmebereit gewesen wäre. Die Beklagte hat hierzu keine belastbaren Nachweise erbracht, die geeignet wären, eine Aufnahmemöglichkeit im Raum G zu belegen.
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Darauf kommt es nach Auffassung des Senats jedoch vorliegend nicht an, da der Versicherte bereits vor dem streitigen Krankentransport seinen Wohnsitz nach U verlegt hatte. Nach § 30 Abs. 3 SGB I hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung behalten und benutzen wird. Der Pflegeheimvertrag wurde am 11.05.2022 unterzeichnet.
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Jedenfalls ab 11.05.2022, im Grunde aber schon vorher, nämlich nach Abschluss der Vorgespräche mit der stationären Pflegeeinrichtung, hatte der Versicherte seinen Wohnsitz in U. In seiner vormaligen Wohnung konnte er nicht mehr wohnen aufgrund der zahlreichen Barrieren. Ab dem Zeitpunkt der Entscheidung, dass die stationäre Pflege in U stattfinden soll, hatte er nur dort eine Wohnung inne bei der die Umstände dafür sprechen, dass er diese auch benutzen und beibehalten wird. Es sprachen keinerlei Umstände mehr dafür, dass die Wohnung in G weiterhin benutzt und beibehalten werden sollte. Die Ausführungen der Klägerseite hierzu sind überzeugend. Bei einer notwendigen vollstationären Pflege sprechen alle tatsächlichen Umstände dafür, dass es sich bei der stationären Pflegeeinrichtung um den sozialrechtlichen Wohnsitz und damit auch Aufenthaltsort iSd KT-Richtlinie handelt.
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Selbst wenn man hier, wie im Falle der Erkrankung im Urlaub (vgl. BSG vom 09.02.1983 – 5a Rkn 24/81) eine Angemessenheitsprüfung vornehmen würde, so würde diese sich auf eine Missbrauchs-, bzw. Evidenzkontrolle beschränkten. Es ist hier nicht ersichtlich, dass der Umzug nach U erfolgte, um gewissermaßen rechtsmissbräuchlich einen besonders langen Krankentransport auf Kosten der Beklagten zu generieren. Vielmehr erfolgte der Transport aus nachvollziehbaren und gewichtigen Gründen. Es wurde eine stationäre Pflegeeinrichtung in der Nähe des einzigen nahen Verwandten, der zugleich rechtlicher Betreuer war, gewählt.
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Damit wäre selbst für den Fall, dass man mit der Beklagten annehmen würde, dass hier ein Transport an einen anderen Ort als den Wohnort erfolgen sollte, die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Kostenübernahme im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, damals noch zu § 184 Abs. 1 RVO (BSG, Urteil vom 25.06.1975 – 5 RKn 50/74), erfüllt.
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Es lag ein wichtiger Grund für den Aufenthalt in U vor. Bei schwerer Demenz ist es nachvollziehbar und wahrscheinlich sogar notwendig, dass der Versicherte in räumlicher Nähe zu seinem einzigen nahen Angehörigen wohnt, zumal dieser auch zugleich dessen rechtlicher Betreuer war. Dabei ist sowohl der in den §§ 1815ff. BGB angelegte Vorrang der Betreuung durch Familienangehörige zu berücksichtigen wie auch die daraus entstehenden Pflichten des Betreuers. Damit dürfte der Umzug des Versicherten sogar geboten gewesen sein, damit der Betreuer seinen rechtlichen Pflichten in vollem Umfang nachkommen konnte. Jedenfalls dies zusammen mit den persönlichen Gründen ist zur Überzeugung des Senats ein „wichtiger Grund“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Verglichen mit diesem wichtigen Grund waren die Transportkosten auch nicht unangemessen hoch und sie standen auch nicht außer Verhältnis zu den Kosten der Hauptleistung, also den Gesamtkosten der stationären Behandlung.
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3. Das Urteil des Sozialgerichts war insoweit abzuändern, als bei der streitgegenständlichen Forderung die Zuzahlung in Höhe von 10,- € in Abzug zu bringen ist gem. § 60 Abs. 2 S. 1 iVm § 61 S. 1 SGB V. Nach dem Vortrag der Beteiligten war der Versicherte nicht von Zuzahlungen befreit.
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4. Die Kostenentscheidung ist für beide Rechtszüge gesondert zu betrachten. Das erstinstanzliche Verfahren war gerichtskostenfrei, da der Versicherte selbst noch die Klage erhoben hat am 09.08.2022 und am folgenden Tag verstorben war. Nach § 183 S. 2 SGG bleibt das Verfahren in diesem Rechtszug gerichtskostenfrei, da der Kläger als sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren aufgenommen hat.
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Das Verfahren im zweiten Rechtszug ist allerdings gerichtskostenpflichtig gem. § 197a SGG. Das Verfahren ist in dieser Instanz nicht mehr gerichtskostenfrei, da der Kläger nicht Sonderrechtsnachfolger des Versicherten ist, §§ 197a Abs. 1, 183 S. 2 SGG, § 56 Abs. 1 SGB I.
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Im Übrigen folgt die Kostenentscheidung dem Ausgang des Verfahrens gem. § 193 SGG. Das geringfügige Obsiegen der Beklagten hinsichtlich der Zuzahlung wirkt sich nicht auf den Kostenausspruch aus.
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6. Die Höhe des Streitwerts bestimmt sich nach der geltend gemachten Forderung, § 52 Abs. 3 S. 1 GKG und war daher auf 1.500,- € festzusetzen.
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7. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.