Inhalt

VG München, Urteil v. 07.07.2025 – M 8 K 23.4968
Titel:

Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Anbau eines Balkons an ein Bestandsgebäude, Überschreitung der festgesetzten Baugrenze, Funktionslosigkeit (verneint), Befreiungsanspruch (verneint), Berührtwerden der Grundzüge der Planung (bejaht), Überholung des Planungskonzepts aufgrund abweichender tatsächlicher Entwicklung bei wirksamer (nicht funktionsloser) Festsetzung („Aufweichen“ der Planungskonzeption) kein im Rahmen der Grundzüge der Planung beachtlicher Gesichtspunkt

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5
Halbsatz 1 BayBO Art. 68 Abs. 1 S. 1
BauGB § 31 Abs. 2
Schlagworte:
Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Anbau eines Balkons an ein Bestandsgebäude, Überschreitung der festgesetzten Baugrenze, Funktionslosigkeit (verneint), Befreiungsanspruch (verneint), Berührtwerden der Grundzüge der Planung (bejaht), Überholung des Planungskonzepts aufgrund abweichender tatsächlicher Entwicklung bei wirksamer (nicht funktionsloser) Festsetzung („Aufweichen“ der Planungskonzeption) kein im Rahmen der Grundzüge der Planung beachtlicher Gesichtspunkt
Fundstelle:
BeckRS 2025, 26881

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin von der Beklagten die Erteilung einer Baugenehmigung beanspruchen kann.
2
Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks L* …straße 4, FlNr. 294/12 Gem. B* … a* L* … (im Folgenden: Baugrundstück), welches mit einem Wohngebäude (E+I+Dachgeschoss in Form eines allseits zurückgesetzten Terrassengeschosses) nebst Garagen bebaut ist; im rückwärtigen Gartenbereich befindet sich ein Swimmingpool mit Abdeckung.
3
Das Anwesen liegt im Geviert Ü* …platz, L* …straße, G* … Straße und J. straße. In diesem sind Bauräume durch straßenseitige Baulinien sowie seitliche und rückwärtige Baugrenzen festgesetzt. Entlang der L* …straße verläuft ein ca. 11 m tiefer Bauraum in einem Abstand von 4 m zur Straße.
4
Die rückwärtige Baugrenze wird auf dem Baugrundstück im Bestand oberirdisch durch den Hauptbaukörper um ca. 4,20 m (abgegriffen aus den Bauvorlagen zum streitgegenständlichen Vorhaben) und durch die sich in südwestlicher Richtung unmittelbar daran anschließende ebenerdige Terrasse um 8,155 m überschritten. Die Überschreitung durch das – unterhalb der Geländeoberfläche liegende – Kellergeschoss beträgt ebenfalls 8,155 m (Maße jeweils entnommen aus den Bauvorlagen zum streitgegenständlichen Vorhaben). Nach übereinstimmenden Angaben der Beteiligten wurden für diese Überschreitungen von der Beklagten in der die Errichtung des Bestandsgebäudes betreffenden Baugenehmigung(en) Befreiungen erteilt. Der im Gartenbereich vorhandene Swimmingpool mit Abdeckung (in den Bauvorlagen zum streitgegenständlichen Vorhaben als „Bestand“ eingezeichnet) liegt vollständig außerhalb des festgesetzten Bauraums.
5
Am 8. August 2023 (Eingang bei der Beklagten) beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung für den Anbau eines Balkons an das bestehende Wohngebäude (Plan-Nr. …*). Nach den eingereichten Bauvorlagen soll an der südwestlichen Gebäudeaußenwand im ersten Obergeschoss (Außenwandlänge hier 9,95 m) ein auf drei Stahlstützen aufgeständerter Balkon mit einer Tiefe von 1,75 m und einer Länge von 9,26 m angebracht werden, der die rückwärtige Baugrenze um bis zu 5,955 m überschreitet.
6
Dem Bauantrag beigefügt war ein Antrag auf Befreiung von der Einhaltung der rückwärtigen Baugrenze. Zu dessen Begründung wurde vorgetragen, die Baugrenze werde bereits durch das Gebäude selbst um 4,20 m und durch weitere Hauptnutzung, nämlich Keller und – oberirdisch – Terrasse, um insgesamt 8,15 m überschritten. Der Balkon bleibe 2,20 m hinter Terrasse und Keller zurück, die Grundzüge der Planung seien daher nicht berührt. Die Grundkonzeption der Planung, die durch die rückwärtige Baugrenze hätte verwirklicht werden sollen, sei jedenfalls auf dem Baugrundstück durch die bisherige tatsächliche Entwicklung überholt. Das Planungsziel, den rückwärtigen Grundstücksbereich freizuhalten, könne nicht mehr erreicht werden und werde durch die Errichtung eines Balkons innerhalb der durch die Terrasse verwirklichten Überschreitung nicht weiter beeinträchtigt.
7
Vergleiche zur Bestandsbebauung auf dem Baugrundgrundstück sowie dessen Umgebung folgenden Lageplan im Maßstab 1:1.000, der auch eine Darstellung der streitgegenständlichen Balkonanlage enthält. Noch nicht im nachstehenden Lageplan verzeichnet ist ein im Zeitpunkt des gerichtlichen Augenscheins auf dem Grundstück FlNr. 294/4 bereits neu errichtetes Gebäude, dessen Bebauungstiefe augenscheinlich derjenigen auf dem Grundstück FlNr. 294/5 entspricht:
8
(Lageplan aufgrund Einscannens möglicherweise nicht mehr maßstabsgetreu)
9
Mit Bescheid vom … September 2023 lehnte die Beklagte den vorgenannten Bauantrag ab. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung von der festgesetzten Baugrenze lägen nicht vor, da die Grundzüge der Planung berührt würden. Jedenfalls werde die Befreiung nach pflichtgemäßem Ermessen abgelehnt. Mit der bestehenden Baugenehmigung vom 23. August 2017 sei die rückwärtige Baugrenze u.a. durch den Hauptbaukörper um 4,20 m überschritten worden. Diese Befreiungen hätten erteilt werden können, da in der maßgeblichen Umgebung Baukörper gleicher Größenordnung mit Befreiungen zur Bauraumüberschreitung genehmigt worden seien. Die Überschreitung der Baugrenze läge mit dem 5,95 m tiefen, nicht untergeordneten Balkonanbau bei 54 Prozent des 11 m tiefen Bauraums; sie könne in dieser Größenordnung aus der maßgeblichen Umgebungsbebauung nicht abgeleitet werden. Der Keller könne nicht als Rechtfertigung für den Balkonanbau herangezogen werden. Wenngleich hierdurch bereits Nachteile durch Versiegelung entstanden seien, trete dieser städtebaulich nicht in Erscheinung. Entscheidend sei der oberirdisch wahrnehmbare Baukörper. Bei Zulassung der Befreiung könnten weitere Überschreitungen der Baugrenze nicht mehr verhindert werden, das Bauliniengefüge verlöre seine städtebaulich ordnende Funktion. Im Übrigen füge das Vorhaben sich auch nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein.
10
Ein Zustellnachweis ist in den Behördenakten nicht enthalten.
11
Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2023, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am 19. November 2021, ließ die Klägerin Klage erheben und beantragt,
12
I. Der Bescheid vom …09.2024, Az.: …- …, wird aufgehoben.
13
II. Die Beklagte wird verpflichtet, die Baugenehmigung für den Anbau eines Balkons an das Wohngebäude L* …str. 4, gemäß dem Bauantrag vom …08.2023 nach Pl.Nr. … zu erteilen,
14
hilfsweise verpflichtet, den Antrag auf Befreiung nach Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.
15
Ferner wurde beantragt,
16
die Berufung zuzulassen.
17
Zur Begründung der Klage wurde – zusammengefasst – im Wesentlichen geltend gemacht, die Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB könne erteilt werden. Die Grundzüge der Planung würden nicht berührt, da die rückwärtige Baugrenze bereits durch das Gebäude selbst um 4,20 m und ferner durch weitere Hauptnutzungen, nämlich Keller sowie – oberirdisch – Terrasse, insgesamt um 8,15 m überschritten werde. Mit der Erwägung, der Keller könne nicht als Rechtfertigung herangezogen werden, da er städtebaulich nicht in Erscheinung trete, lege die Beklagte ihrer Bewertung einen unvollständigen und damit unzutreffenden Sachverhalt zugrunde. Die Baugrenze werde in gleichem Maße und insoweit optisch wahrnehmbar auch durch die Terrasse überschritten. Dieser Umstand finde im Bescheid keine Erwähnung, was die Entscheidung auch ermessensfehlerhaft mache. Die Terrasse stelle als Bestandteil des Hauptgebäudes keine Neben-, sondern eine Hauptnutzung dar und trete mit ihrer Versiegelung und der darauf üblicherweise befindlichen Ausstattung oberirdisch deutlich in Erscheinung. Es könne auch nicht darauf verwiesen werden, dass Terrasse und Balkon nicht miteinander vergleichbar seien, da sonst die planungsrechtliche Gleichsetzung von Terrassen und Balkonen bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung in § 20 Abs. 4 Baunutzungsverordnung negiert würde. Ein Grund, hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche eine andere Bewertung vorzunehmen, sei nicht ersichtlich, da der Balkon auf die Kubatur des Gebäudes keinen Einfluss habe. Damit sei die Grundkonzeption der Planung – nämlich die Freihaltung des rückwärtigen Grundstücksbereichs von Hauptnutzungen – durch die bisherige tatsächliche Entwicklung überholt, das Planungsziel werde nicht weiter beeinträchtigt. Wegen der vorhandenen erheblichen Bauraumüberschreitung durch die Terrasse könne eine zusätzliche geringere Bauraumüberschreitung durch den Balkon keine Bezugsfälle auslösen, die sich nicht schon aus der bisherigen Situation ableiten ließen. Zudem seien bereits jetzt Balkone im sichtbaren Umfeld des Vorhabens vorhanden, z.B. auf den Grundstücken L* …straße 8 und G* … Straße 4 und 6, so dass durch das Vorhaben keine städtebaulichen Spannungen entstünden. Die die Baugrenze überschreitende Terrassenüberdachung der L* …straße 8 löse als vergleichbarer, aber deutlicher in Erscheinung tretender Gebäudeteil ebenfalls eine Bezugsfallwirkung für ähnliche Vorhaben aus. Die Abweichung sei ferner städtebaulich vertretbar; Gesichtspunkte, die im Rahmen des Ermessens gegen die Erteilung der Befreiung sprächen, seien nicht ersichtlich. Zu Frage des Einfügens nach dem Maß der baulichen Nutzung wurde ausgeführt, der geplante Balkon vergrößere aufgrund seiner Ausgestaltung das Gesamtvolumen des Hauptbaukörpers nicht.
18
Die Beklagte beantragt
19
Klageabweisung.
20
Die Klage sei unbegründet, da der Bescheid vom … September 2023 rechtmäßig sei. Eine Befreiung für die Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze durch den Balkonanbau könne nicht erteilt werden. In der L* …straße werde diese lediglich vom Bestandsgebäude auf dem Baugrundstück um 4,20 m überschritten. Dies sei von der Beklagten wegen vergleichbarer Überschreitungen im Geviert genehmigt worden. Eine zusätzliche Überschreitung durch den beantragten Balkon um dann insgesamt 5,95 m finde in der maßgeblichen Umgebung keinen Bezugsfall und begründe eine negative Vorbildwirkung mit der Konsequenz städtebaulicher Spannungen. Der Antrag sei daher in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens abzulehnen gewesen. Der Balkon sei mit einer Terrasse nicht vergleichbar, da er – anders als diese – oberirdisch in Erscheinung trete und eine deutlich stärkere städtebauliche Wirksamkeit habe. Zudem komme es bei der Beurteilung der Bautiefe nicht auf das Geviert, sondern die jeweilige Erschließungsstraße an. Entlang der L* …straße stelle das Vorhaben L* …straße 4 bereits jetzt einen Ausreißer dar.
21
Über die baulichen Verhältnisse auf dem streitgegenständlichen Grundstück sowie in dessen Umgebung hat das Gericht am 7. Juli 2025 Beweis durch Einnahme eines Augenscheins erhoben. Hinsichtlich der Feststellungen dieses Augenscheins sowie der anschließenden mündlichen Verhandlung wird auf die entsprechenden Protokolle verwiesen.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des schriftsätzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
23
Die zulässige Versagungsgegenklage (§ 42 Abs. 1 Var. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) hat weder im Haupt- noch im Hilfsantrag Erfolg. Die Klägerin hat (auch) im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung weder einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 Bayerische Bauordnung – BayBO), noch einen Anspruch auf Neuverbescheidung ihres Bauantrags vom 8. August 2023 (Eingang bei der Beklagten) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
24
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem (genehmigungspflichtigen) Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
25
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Das – genehmigungspflichtige, insbesondere nicht unter Art. 57 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. g) BayBO fallende (vgl. hierzu: Weinmann in: BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 33. Edition 1.5.2025, Art. 57 BayBO Rn. 233) – Vorhaben der Klägerin ist nicht genehmigungsfähig, da es bauplanungsrechtlich unzulässig ist (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) BayBO i.V.m. §§ 29 bis 38 BauGB). Es widerspricht der durch einfachen Baulinienplan festgesetzten rückwärtigen Baugrenze (vgl. nachfolgend 1.), die auch nicht funktionslos geworden ist (vgl. nachstehend 2.). Ein Anspruch auf Befreiung gem. § 31 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) besteht nicht (nachstehend Ziffer 3.).
26
1. Das Vorhaben widerspricht den Festsetzungen des übergeleiteten Baulinienplans (§ 173 Abs. 3 BBauG, § 233 Abs. 3, § 30 Abs. 3 BauGB), der eine rückwärtige Baugrenze vorsieht, die von dem streitgegenständlichen Vorhaben deutlich – um bis zu 5,955 m – überschritten wird.
27
2. Die Festsetzung ist auch nicht funktionslos geworden.
28
Bauplanerische Festsetzungen – auch eine solche eines nach § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleiteten Bebauungsplans (vgl. BVerwG, U.v. 24.4.2024 – 4 C2/23 – ZfBR 2024, 429, juris Rn. 10 m.w.N.; BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14) – können nur in äußerst seltenen Fällen wegen Funktionslosigkeit außer Kraft treten (BayVGH, U.v. 25.10.2023 – 9 B 22.1461 – BeckRS 2023, 32080 Rn. 26). Funktionslosigkeit liegt nur dann vor, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sich die Festsetzung bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (grundlegend BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – BVerwGE 54, 5, juris Leitsatz, Rn. 35; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – BauR 2004, 1128, juris Rn. 8). Dabei sind die Anforderungen an das Außerkrafttreten eines Bebauungsplans wegen Funktionslosigkeit streng; insoweit ist große Zurückhaltung geboten (vgl. BVerwG, U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3.97 – BVerwGE 122, 207, juris Rn. 22; BayVGH, U.v. 27.5.2020 – 1 B 19.544 – juris Rn. 18).
29
Entscheidend ist, ob die jeweilige Festsetzung noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinn des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zu leisten (vgl. BVerwG, B.v. 9.10.2003 a.a.O.; BayVGH, B.v. 9.9.2013 – 2 ZB 12.1544 – juris Rn. 5; U.v. 27.2.2020 – 2 B 19.2199 – juris Rn. 12, B.v. 11.3.2020 – 2 ZB 17.548 – Beschlussumdruck Rn. 5). Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2004 – 4 C 10.03 – BauR 2004, 1567, juris Rn. 15; BayVGH, U.v. 25.10.2023 – 9 B 22.1461 – BeckRS 2023, 32080 Rn. 26; B.v. 23.2.2021 – 9 ZB 20.12 – juris Rn. 7 m.w.N.; B.v. 7.3.2022 – 9 ZB 19.2503 – juris Rn. 8).
30
Die strengen Voraussetzungen, die an das Funktionsloswerden von bauleitplanerischen Festsetzungen zu stellen sind, sind vorliegend – auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin vorgetragenen Bezugsfälle – nicht erfüllt.
31
Ausweislich allgemein zugänglicher Luftbilder („google maps“, „BayernAtlas“) sowie der Feststellungen im gerichtlichen Augenschein haben sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht in einer Weise entwickelt, die eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließen. Die Eignung der streitgegenständlichen Bauraumfestsetzung, einen wirksamen und sinnvollen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung zu leisten ist – die o.g. Grundsätze berücksichtigend – noch gegeben. Das der Planung zugrundeliegende städtebauliche Konzept – Bebauung entlang der Straße und Freihaltung der rückwärtigen Bereiche – ist weiterhin ables- und auch umsetzbar. Die vorhandenen Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze stellen weder die Hauptaussage noch die städtebaulichen Vorstellungen des einfachen Baulinienplans infrage. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass sich innerhalb des Geltungsbereichs des maßgeblichen Bauliniengefüges Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze – auch größeren Umfangs – durch Hauptbaukörper, daran angebrachte Balkone oder eine Terrassenüberdachung finden, darunter auf dem Baugrundstück selbst. Diese Bauraumüberschreitungen sind allerdings nicht geeignet, die städtebauliche Gestaltungs- und Ordnungsfunktion der in Rede stehenden Festsetzung auszuschalten. Die Abweichungen haben noch nicht einen solchen Umfang erreicht, dass der rückwärtigen Baugrenze auf Dauer keine städtebauliche Funktion mehr zukommt. Der mit ihrer Festsetzung verfolgte Zweck ist noch deutlich erkennbar. Die rückwärtigen Bereiche der überplanten Grundstücke werden weiterhin nicht baulich genutzt, sondern sind gärtnerisch angelegt und Teil eines im Geviertsinnern gelegenen, beruhigten Grünbereichs. Es kann unter gegeben Umständen daher nicht davon ausgegangen werden, dass die in Rede stehenden Bauraumfestsetzungen bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren haben, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern. Insbesondere entlang der L* …straße wird die rückwärtige Baugrenze – mit Ausnahme des Baugrundstücks – weitgehend eingehalten. Es ist daher nicht auf Dauer ausgeschlossen, dass die rückwärtige Baugrenze Beachtung findet.
32
3. Die Klägerin kann auch keine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von der Baugrenze beanspruchen, da die tatbestandlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (nachstehend Ziffer 3.1.). Auch eine Verpflichtung der Beklagten zur Neuverbescheidung kommt insoweit nicht in Betracht (nachfolgend Ziffer 3.2.).
33
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung und des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
34
3.1. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
35
3.1.1. Alle Alternativen des § 31 Abs. 2 BauGB setzten als „vor die Klammer gezogenes“ Tatbestandsmerkmal voraus, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Ob eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommt, weil die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab (BVerwG, U.v. 16.12.2010 – 4 C 8/10 – BVerwGE 138, 301, juris Rn. 26; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7/17 – BVerwGE 162, 363, juris Rn. 8). Entscheidend ist, ob die Befreiung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 – 4 B 35/04 – BRS 67 Nr. 83, juris Rn. 3; BayVGH, U.v. 3.11.2010 – 15 B 08.2426 – juris Rn. 21). Die Frage, ob eine Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, beurteilt sich nach dem im Plan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen. Bezogen hierauf darf der Abweichung vom Planinhalt keine derartige Bedeutung zukommen, dass die dem Plan zugrunde gelegte Planungskonzeption, also dem „Grundgerüst“, in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird. Die Abweichung muss – soll sie mit den Grundzügen der Planung vereinbar sein – durch das planerische Wollen gedeckt sein; es muss angenommen werden können, die Abweichung liege noch im Bereich dessen, was der Plangeber gewollt hat oder gewollt hätte, wenn er den Grund für die Abweichung gekannt hätte (vgl. BVerwG, U.v. 4.8.2009 – 4 CN 4/08 – BVerwGE 134, 264, juris Rn. 12; U.v. 29.1.2009 – 4 C 16/07 – BVerwGE 133, 98, juris Rn. 23; U.v. 9.3.1990 – 8 C 76.88 -BVerwGE 85, 66, juris Rn. 19; BayVGH, U.v. 3.11.2010 – 15 B 08.2426 – juris Rn. 21). Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens in Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – NVwZ 1999, 1110, juris Rn. 6; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – BRS 67 Nr. 83, juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 19.1.2021 – 9 ZB 19.661 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 29.4.2020 – 15 ZB 18.96 – juris Rn. 7; B.v. 9.7.2019 – 8 ZB 17.1698 – juris Rn. 24 m.w.N.).
36
3.1.2. Die im Bebauungsplan festgesetzte rückwärtige Baugrenze stellt – dies ergibt sich vorliegend aus den Festsetzungen selbst – (auch) in Kombination mit der Baulinie und den seitlichen Baugrenzen – einen Grundzug der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB dar.
37
Die Festsetzungen dienen dazu, eine städtebaulich abgegrenzte Bebauung mit einheitlicher Bauflucht und beschränkter Tiefe entlang der das Geviert umgebenden Erschließungsstraßen zu ermöglichen und gleichzeitig das Geviertsinnere von Bebauung freizuhalten, um einen auflockernd wirkenden, begrünten Freiraum zu schaffen (siehe auch oben). Bei diesem städtebaulichen Ziel handelt es sich offensichtlich um das einzige Ziel des einfachen Baulinienplans, also das zentrale Anliegen bzw. die Kernaussage des Bebauungsplans.
38
3.1.3. Das Vorhaben berührt aufgrund seiner Dimensionierung und Tiefe der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze in erheblicher Weise die Grundzüge der Planung. Die Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze um bis zu 5,95 m steht zu deren Freihaltefunktion in völligem Widerspruch.
39
Der Auffassung der Klagepartei, die Grundkonzeption der Planung sei jedenfalls auf dem Baugrundstück durch die bisherige tatsächliche Entwicklung, namentlich die bereits zugelassenen Überschreitungen der rückwärtigen Baugrenze durch Hauptbaukörper, Terrasse und Kellergeschoss, überholt und das Planungsziel werde durch die Errichtung eines Balkons innerhalb der durch die Terrasse verwirklichten Überschreitung nicht weiter beeinträchtigt, folgt die Kammer nicht.
40
Da die Festsetzung nicht funktionslos ist (s.o.), ist das streitgegenständliche Vorhaben weiterhin an den Kriterien des § 31 Abs. 2 BauGB zu messen – unbeschadet der bereits erteilten Befreiungen und der damit einhergehenden nachträglichen tatsächlichen Entwicklung im Plangebiet. Eine von den Festsetzungen abweichende Bebauung, die vor oder nach dem Inkrafttreten des Bebauungsplans – ggf. unter Verstoß gegen die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB – entstanden ist, allein verändert nicht die Grundzüge der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB mit der Folge einer erleichterten Zulassung von Befreiungen (Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 157. EL November 2024, § 31 Rn. 37a; in diese Richtung ebenfalls: BayVGH, B.v. 26.7.2018 – 2 ZB 17.1656 – juris Rn. 3). Für dieses Verständnis und diese Auslegung des § 31 Abs. 2 BauGB spricht zunächst dessen Wortlaut, aber auch der Zweck dieser Befreiungsvoraussetzung (nur im Rahmen der Grundzüge der Planung können die Möglichkeiten der Befreiung genutzt werden; Söfker in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 157. EL November 2024, § 31 Rn. 37a). Die Auffassung der Klagepartei würde hingegen dazu führen, dass die Geltung der Festsetzungen eines Bebauungsplans von der Art und Weise ihres Vollzugs abhängig gemacht werden würde (Söfker, a.a.O.). Es würde darüber hinaus sukzessive ein Zustand geschaffen, der zwischen Funktionslosigkeit einer Festsetzung und deren Wirksamkeit angesiedelt wäre. Ein Bebauungsplan ist jedoch entweder wirksam mit der Folge, dass ein Berühren der Grundzüge der Planung eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ausschließt, oder aber er ist funktionslos (BayVGH, B.v. 26.7.2018 – 2 ZB 17.1656 – juris Rn. 3) – was hier jedoch, wie umseitig bereits dargetan, nicht der Fall ist. Im Ergebnis würde der von der Klagepartei infolge der „Aufweichung“ der Grundzüge der Planung behauptete Befreiungsanspruch dazu führen, dass die Beklagte gezwungen wäre, nach und nach die Funktionslosigkeit des Bebauungsplans selbst herbeizuführen. Jede Überschreitung von Baugrenzen, die für sich genommen noch keine Funktionslosigkeit derselben bewirkt, würde weitere Überschreitungen nach sich ziehen und letztlich zur Unwirksamkeit der Festsetzung führen.
41
Sind, wie hier, die Grundzüge der Planung berührt, ist mithin unerheblich, ob sie durch das Vorhaben „weiter“ berührt oder beeinträchtigt werden. Eine Befreiung darf die Grundzüge der Planung nie berühren, weil sie damit die Grenze zur – erforderlichen – förmlichen Planänderung überschreitet (BayVGH, B.v. 26.7.2018 – 2 ZB 17.1656 – juris Rn. 3 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 20.11.1984 – 4 B 163.89 – juris vgl. ferner: BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – juris Rn. 5 f.).
42
Unbeschadet dessen und selbständig tragend bewirkte der geplante Anbau des Balkons mit Blick auf die planerische Grundentscheidung jedoch auch eine (weitere) Verschlechterung, die die Grundzüge der Planung berührt.
43
Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein. Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – ZfBR 1999, 283, juris Rn. 6; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – BRS 67 Nr. 83, juris Rn. 3; B.v. 29.7.2008 – 4 B 11/08 – ZfBR 2008, 797, juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 14.3.2019 – 1 ZB 17.2289 – juris Rn. 9). Die geplante Maßnahme hätte eine solche Bezugsfallwirkung.
44
Die bisherige Überschreitung des Bauraums auf dem Baugrundstück entfaltet keine vergleichbare optisch-städtebauliche Wirkung. Durch die Zulassung des Vorhabens würde auch angesichts seiner Dimension – der Balkon soll sich fast über die gesamte Außenwand erstrecken und eine Tiefe von 1,75 m aufweisen – vielmehr eine neue Qualität der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze erreicht, die tiefgreifend in die städtebauliche Konzeption eingreift. Eine Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze vergleichbaren Ausmaßes bzw. vergleichbarer städtebaulich-optischer Wirkung ist innerhalb des Bauliniengefüges nicht vorhanden. Es entstünde ein Baukörper, der in seiner optischen Wirkung weitaus mehr über die rückwärtige Baugrenze nach Süden hinausgreift als die benachbarte Bebauung. Die Nachbarschaft würde eine ähnliche Überschreitung im Wege der Bezugnahme einfordern.
45
3.2. Ob eine Befreiung erteilt wird, steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde, § 31 Abs. 2 BauGB. Da vorliegend jedoch bereits die Grundzüge der Planung berührt sind, kommt auch eine Verpflichtung der Beklagten zu einer erneuten Verbescheidung des Bauantrags der Klägerin nicht in Betracht.
46
Selbst wenn man annehmen würde, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB gegeben sind, scheidet ein Anspruch auf Erteilung der Befreiung mangels Ermessensreduzierung auf Null aus. Die Beklagte könnte jedenfalls im Rahmen ihrer Ermessensausübung berücksichtigen, dass die Zulassung der Bebauung zu unerwünschten Bezugnahmen führen würde und letztlich eine Funktionslosigkeit der Baugrenze bewirken könnte. Eine Ermessensbindung der Beklagten zu ihren Gunsten kann die Klägerin auch nicht aus der bisherigen Genehmigungspraxis hinsichtlich der bereits – insbesondere für das Baugrundstück großzügig – gewährten Befreiungen (Bezugsfälle) herleiten. Denn eine Behörde muss sich nicht an einer einmal erkannten Fehlentwicklung festhalten lassen (BayVGH, U.v. 4.7.2003 – 2 B 02.1962 – BeckRS 2003, 27623, Rn. 13) und damit sehenden Auges eine Funktionslosigkeit des Bebauungsplans herbeiführen (VG Würzburg, U.v. 16.08.2016 – W 4 K 16.344 – juris Rn. 45). Anderenfalls könnte ein Bauherr, dem eine Überschreitung der Baugrenze contra legem gewährt wurde, unter Bezugnahme auf diese Befreiung eine stetige Vertiefung des Verstoßes beanspruchen.
47
4. Die Berufung war nicht zuzulassen (§ 124 Abs. 1 VwGO), weil keiner der in § 124 Abs. 2 VwGO abschließend aufgezählten Zulassungsgründe vorliegt.
II.
48
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
49
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.