Inhalt

VG München, Beschluss v. 29.08.2025 – M 18 E 25.5099
Titel:

Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Gemeinsame Wohnform für Mütter/Väter und Kind, Sozialpädagogische Familienhilfe, Bedarfsermittlung, Sozialpädagogische Fachlichkeit

Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 19
SGB VIII § 31
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Gemeinsame Wohnform für Mütter/Väter und Kind, Sozialpädagogische Familienhilfe, Bedarfsermittlung, Sozialpädagogische Fachlichkeit
Fundstelle:
BeckRS 2025, 26877

Tenor

I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zum 31. März 2026 die bis zum 30. September 2025 gewährte Hilfe in einer Betreuten Wohnform für Mütter/Väter und Kind nach § 19 SGB VIII zu bewilligen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihr weiterhin Hilfe in Form der gemeinsamen Wohnform für Mütter und Kinder zu gewähren.
2
Die am 2. Juli 2003 geborene Antragstellerin ist somalische Staatsangehörige. Sie reiste als unbegleitete minderjährige Flüchtende in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde am 23. März 2020 von dem Antragsgegner zunächst vorläufig in Obhut genommen. Ab 25. Mai 2020 gewährte der Antragsgegner gegenüber dem vom Amtsgericht – Familiengericht München bestellten Vormund Hilfe zur Erziehung für die Antragstellerin in Form der Heimerziehung.
3
Nachdem die Antragstellerin schwanger wurde, bewilligte der Antragsgegner erstmals mit Bescheid vom 12. April 2021 ab 16. März 2021 gegenüber der Vomundin Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII in Form des teilbetreuten Wohnens in einer Wohngruppe des Leistungserbringers K und verlängerte diese Hilfeleistung im Folgenden.
4
Die Antragstellerin gebar am 29 April 2021 ihren Sohn.
5
Mit Bescheid vom 15. Januar 2025 bewilligte der Antragsgegner gegenüber der Antragstellerin Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII in Form des teilbetreuten Wohnens in einer eigenen Wohnung des Leistungserbringers K. mit wöchentlich 15 Betreuungsstunden ab 23. Dezember 2024 bis einschließlich 30. September 2025.
6
Die Antragstellerin beantragte mit Schreiben vom 10. Juni 2025 beim Antragsgegner die Weiterführung der ihr bewilligten Jugendhilfemaßnahme.
7
Im Hilfeprozessbericht des Leistungserbringers K. vom 15. Juni 2025 über den Zeitraum 23. Dezember 2024 bis 15. Juni 2025 wird ausgeführt, dass die Fortführung der Maßnahme weiterhin als notwendig erachtet werde.
8
Am 14. Juli 2025 fand ein Hilfeplangespräch statt, welches offenbar ohne Klärung der weiteren Hilfe endete. Die fallzuständige sozialpädagogische Fachkraft des Antragsgegners hielt in einem internen Vermerk vom 15. Juli 2025 fest, dass die Persönlichkeitsentwicklung der Antragstellerin und ihres Kindes eine Weiterführung der Unterstützung erfordern würden.
9
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 4. August 2025 lehnte der Antragsgegner den Antrag vom 10. Juni 2025 ab. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass trotz der bereits mehr als vier Jahre andauernden stationären Maßnahme bislang nur kleine Fortschritte in den genannten Zielbereichen erkennbar seien. Es sei deutlich geworden, dass sich auch durch eine Weiterführung der stationären Jugendhilfe keine signifikante Entwicklung in der Persönlichkeitsentwicklung, Selbstständigkeit oder Erziehung des Kindes erreicht werden könne. Aufgrund dieser Umstände sehe der Antragsgegner keine Grundlage mehr, die stationäre Maßnahme fortzusetzen. Für eine weitere Unterstützung werde der Antragsgegner eine ambulante Maßnahme in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe mit dem gleichen Betreuungsumfang wie bisher einleiten.
10
Mit Schriftsatz vom 7. August 2025, eingegangen am 13. August 2025, beantragte die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München sinngemäß,
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den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihr weiterhin Hilfe in Form der gemeinsamen Wohnform für Mütter und Kinder zu gewähren.
12
Zur Begründung führte sie aus, dass sowohl die zuständige pädagogische Sachbearbeitung des Antragsgegners als auch ihre Bezugspädagogin in der Einrichtung die Fortführung der Maßnahme befürworten würden. Mit Beendigung der Jugendhilfemaßnahme würde gleichzeitig der Verlust ihres Wohnraumes eintreten.
13
Mit Schriftsatz vom 25. August 2025 legte der Antragsgegner die Behördenakten elektronisch vor und beantragte,
14
den Antrag abzulehnen.
15
Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes fehle. Eine besondere Dringlichkeit für die Weiterführung der betreuten Wohnform sei aufgrund der Umwandlung der stationären Jugendhilfe in eine ambulante Jugendhilfe nicht ersichtlich und könne lediglich auf den Wegfall des Wohnraumes gestützt werden. Dies für sich könne jedoch nicht alleiniger Gegenstand einer Jugendhilfemaßnahme sein. Die Antragstellerin erhalte inhaltlich dieselbe Hilfe einer ambulanten sozialpädagogischen Familienhilfe gemäß § 31 SGB VIII wie bisher.
16
Auch ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Trotz der bereits mehr als 4 Jahren andauernden stationären Maßnahme seien bislang nur kleine Fortschritte von den Zielvereinbarungen in den Hilfeplänen erfüllt, die nicht auch in ambulante Form hätten erzielt werden können. Die Fortführung der stationären Unterbringung ließe keine signifikante Entwicklung erwarten, die nicht auch in ambulanter Form erreicht werden könne.
17
Mit Beschluss vom 27. August 2025 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen.
18
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
19
Der entsprechend §§ 88, 122 VwGO sachdienlich ausgelegte Antrag nach § 123 VwGO hat Erfolg.
20
Der Schriftsatz der unvertretenen Antragstellerin vom 7. August 2025 war sachgerecht als Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO auf Verpflichtung des Antragsgegners, ihr für die nächsten sechs Monate Hilfe in Form der gemeinsamen Wohnform für Mütter und Kinder zu gewähren, auszulegen. Zwar ergibt sich aus dem Schreiben der Antragstellerin keine Aussage über den Zeitraum der begehrten Hilfe. Das Gericht geht jedoch zugunsten der Antragstellerin davon aus, dass im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens ausschließlich eine gerichtliche Entscheidung über einen Zeitraum von sechs Monaten begehrt wird.
21
Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Voraussetzung für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatschlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und die Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (stRspr.; vgl. NdsOVG, B.v. 14.2.24 – 14 ME 128/23 Rn. 39).
24
Nach diesen Maßgaben hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
25
Die Antragstellerin hat einen Anspruch darauf, dass ihr die bisher gewährte Hilfe in Form der gemeinsamen Wohnform für Mütter/Väter und Kinder gemäß § 19 SGB VIII über den 30. September 2025 hinaus gewährt wird.
26
Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
27
Bei der Hilfe nach § 19 steht die Persönlichkeitsentwicklung der Leistungsberechtigten im Vordergrund, um sie in die Lage zu versetzen, Pflege und Erziehung ihres Kindes eigenverantwortlich wahrzunehmen (Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 19 Rn. 19, beck-online). Es handelt sich dabei um eine komplexe, multifunktionale Leistung, die darauf abzielt, den gesamten pädagogischen Bedarf in dieser spezifischen Lebenssituation abzudecken (Wiesner/Wapler/Struck, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 8a, beck-online).
28
Die Hilfe ist als „Soll-Leistung“ zu gewähren. Dies bedeutet, dass sie im Regelfall eine Muss-Leistung ist, es sei denn, es lägen im Einzelfall atypische, von der Behörde zu beweisende Umstände (z.B. mangelnde Mitwirkungsbereitschaft des Leistungsberechtigten oder ein abgeschlossener Beruf oder schon gesetzteres Alter) vor, die von einer Herabstufung der Muss-Leistung zu einer Kann-Leistung (Ermessen) führen (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 7, beck-online). Entgegen der Argumentation des Antragsgegners obliegt daher die Bewilligung einer Hilfe nach § 19 SGB VIII regelmäßig nicht dem Einschätzungsspielraum der Antragsgegnerin.
29
Die Tatbestandsvoraussetzungen der Hilfe nach § 19 SGB VIII sind vorliegend gegeben.
30
Die Antragstellerin sorgt alleine für ein Kind unter sechs Jahren. Zudem ist die Erziehungsfähigkeit der Antragstellerin aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt (vgl. hierzu ausführlich: VG München, U.v. 7.9.2022 – M 18 K 18.1925 – juris Rn. 52 ff. m.w.N.). Nicht erforderlich für die Hilfe nach § 19 SGB VIII ist hingegen, dass bereits Auffälligkeiten oder Störungen beim Kind vorliegen; vielmehr müsste in diesem Fall Hilfe nach § 27 SGB VIII geleistet werden (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 3, beck-online).
31
Bei der Antragstellerin liegen – wohl auch unstreitig – Persönlichkeitsdefizite vor, die ihre Erziehungsfähigkeit beeinträchtigen.
32
So führt bereits der streitgegenständliche Bescheid aus, dass seit Beginn der Maßnahme als Zielsetzungen (neben dem Erlernen der deutschen Sprache) Unterstützung bei der beruflichen Perspektive der Antragstellerin, Gesundheitsfürsorge, Verselbständigung, Entwicklung sozialer Kompetenzen sowie die Unterstützung bei der Versorgung und Erziehung ihres Kindes genannt wurden. Hinsichtlich dieser Ziele seien bislang nur kleine Fortschritte erkennbar gewesen. Mit dieser Formulierung räumt der Antragsgegner indirekt selbst ein, dass die Persönlichkeitsdefizite, die die ursprüngliche Hilfebewilligung veranlasst haben, weiterhin in erheblichem Umfang bestehen.
33
Diese Persönlichkeitsdefizite der Antragstellerin beeinträchtigen auch ihre Erziehungsfähigkeit.
34
Die Förderung der Erziehungskompetenz der Antragstellerin stellt einen erheblichen Anteil an der bisher geleisteten Hilfe dar. So wird in dem Hilfeprozessbericht des Leistungserbringers K. vom 15. Juni 2025 hierzu ausgeführt, dass mit der Antragstellerin regelmäßig Gespräche bezüglich der kindlichen Entwicklungsphasen stattfänden und Ideen für altersgerechte Spiele gegeben würden. Die Antragstellerin zeige sich im Umgang mit ihrem Kind als liebevolle Mutter, die ihr Kind gut kenne und einschätzen könne. Zu erkennen, wann Sprache nicht mehr zu ihm durchdringe und beispielsweise Trost in Form von Körperkontakt hilfreich wäre, sei noch herausfordernd. Auch notwendige und haltgebende Grenzsetzungen seien noch schwierig für die Antragstellerin. Es bedürfe regelmäßige Gespräche und auch modellhaften Umgangs. Zudem müsse die Antragstellerin weiter lernen, dem Kind mehr Eigenständigkeit zuzutrauen. Auch das Thema Kindersicherheit sei wiederkehrender Betreuungsinhalt. Ebenso sie die Aufklärung und Sensibilisierung bezüglich notwendiger Erholungsphasen des Kindes erforderlich. Zudem würden wiederkehrende Gespräche geführt, um die Antragstellerin in ihrer Überzeugung, ihrem Kind ausgewogene Ernährung anzubieten und dem Kind hierbei Grenzen zu setzen, zu unterstützen.
35
Diese noch vorliegenden Erziehungsdefizite der Antragstellerin sind in ihren Persönlichkeitsdefiziten begründet, die insbesondere in ihrem mangelnden Selbstvertrauen und ihrer Befähigung, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu thematisieren und für diese auch einzustehen, gesehen werden. Ebenso habe die Antragstellerin Aufklärungsbedarf hinsichtlich der Zusammenhänge körperlicher Symptome mit psychischen Belastungen und der Psychoedukation (vgl. Hilfeprozessbericht des Leistungserbringers K. vom 15. Juni 2025). Damit liegen bei der Antragstellerin nicht nur Persönlichkeitsdefizite vor, die für ihre Erziehungsfähigkeit ohne Einfluss sind. Vielmehr sind ihre Defizite in der sozialen Kompetenz auch relevant für die Eltern-Kind-Interaktion (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 20, beck-online).
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Dementsprechend führt auch die Fachkraft des Antragsgegners in ihrem Vermerk vom 15. Juli 2025 aus, dass die Persönlichkeitsentwicklung der Antragstellerin und des Kindes eine Weiterführung der Unterstützung erfordern würden. Die Umsetzung in eine Gemeinschaftsunterkunft zu diesem Zeitpunkt würde viele Bemühungen und Unterstützung der letzten Jahre umsonst werden lassen. Die Antragstellerin sei noch sehr kindlich und unerfahren. Für sie bedeutet es einen großen Druck, dass sie in vielen Belangen nicht wisse, wie es weitergehe. Bei einer Umverteilung sei nicht absehbar, wo die Antragstellerin mit ihrem Sohn unterkomme. Sowohl der Kindergartenplatz als auch die Schule bzw. Ausbildung der Antragstellerin könne dann möglicherweise nicht weitergeführt werden. Diese Ungewissheiten würden bei der Antragstellerin zu einer emotionalen Instabilität und Ängsten führen, die sich auch auf ihren Sohn auswirken würden. Der Sohn sei ein sensibles Kind, das mit dem letzten Umzug im Dezember 2024 in das betreute Wohnen schon Probleme gehabt habe. Er habe sehr viel mehr geweint und bei der Antragstellerin geklammert. Inzwischen habe er sich gut eingewöhnt und sei auch gut im Kindergarten integriert. Die Antragstellerin sei aufgrund ihrer Biografie und ihrer Persönlichkeit nur fähig, sich in kleinen Schritten zu entwickeln. Trotzdem gelinge es ihr. In der Zusammenschau sei zu befürchten, dass durch eine zeitige Beendigung der Maßnahme die weitere positive Entwicklung des Kindes gefährdet werde.
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Die Fortsetzung der Hilfe nach § 19 SGB VIII ist geeignet und erforderlich, um die vorliegenden Defizite (zumindest teilweise) zu beseitigen.
38
Die Zielsetzung der Hilfe nach § 19 SGB VIII liegt in der auf die Erziehungsfähigkeit bezogenen Persönlichkeitsentwicklung des allein erziehenden Elternteils. Erst wenn er die Aufgabe des Alleinerziehens bewältigen kann, ist eine weitere Gewährung von Leistungen nach § 19 SGB VIII nicht mehr erforderlich (Wiesner/Wapler/Struck, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 8a, beck-online).
39
Soweit der Antragsgegner hierzu in seinem Schriftsatz vom 25. August 2025 lediglich ausführt, dass das Kind weiterhin ganztägig in einer Kindertagesstätte verbleibe, sodass die Verselbstständigung der Antragstellerin gezielt gefördert und die soziale Entwicklung des Kindes gewährleistet werde, verkennt er die Zielrichtung der Hilfe nach § 19 SGB VIII. Denn die Hilfe nach § 19 SGB VIII soll gerade dazu dienen, die Erziehungskompetenz des Alleinerziehenden zu fördern. Hierfür ist jedoch insbesondere der persönliche Umgang des Alleinerziehenden mit dem Kind zu begleiten und Defizite wie z.B. mangelnder Tagesstruktur, fehlender Fähigkeit die eigenen Bedürfnisse hinter denen des Säuglings anzustellen oder auch Schwierigkeiten im Beziehungs- und Bindungsaufbau abzubauen (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 3, beck-online).
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Zudem widerspricht die Schlussfolgerung des Antragsgegners, dass aufgrund der bisherigen geringen Fortschritte die stationäre Hilfe nicht mehr fortgesetzt, sondern nunmehr ausschließlich eine ambulante Hilfe angeboten wird, jeder sozialpädagogischen Fachlichkeit.
41
Selbst wenn der Antragsgegner davon ausginge, dass die Antragstellerin auch zukünftig zu keinem selbstständigen und eigenverantwortlichen Leben mit dem Kind befähigt sei, rechtfertigt dies nicht den Abbruch der stationären Hilfe. Ausreichend ist vielmehr, wenn durch eine intensive Betreuung ein Entwicklungsdefizit bei dem Elternteil gemindert werden kann (vgl. VG München, U.v. 7.9.2022 – M 18 K 18.1925 – juris Rn. 55; BeckOK SozR/Winkler, 77. Ed. 1.6.2025, SGB VIII § 19 Rn. 7, beck-online; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 18, beck-online). Nachdem bei der Antragstellerin durchaus positive Entwicklungen in den letzten Jahren erkennbar waren, was auch zum Jahreswechsel ihren Umzug in eine eigene Wohnung der sie betreuenden Einrichtung zufolge hatte, können keinen Zweifel an der Entwicklungsfähigkeit der Antragstellerin hinsichtlich ihrer Persönlichkeit und Erziehungsfähigkeit vorliegen. Hingegen ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, weshalb der Antragsgegner bei gleichbleibenden Defiziten nunmehr eine ambulante Hilfe für ausreichend hält, um den unstreitig bestehenden Hilfebedarf zu decken.
42
Vielmehr ist entgegen der Ansicht des Antragsgegners als Folge der – zumindest vom Antragsgegner monierten – geringen Entwicklung der Antragstellerin, die Hilfe nach § 19 SGB VIII nicht zu beenden, sondern so lange zu leisten, wie die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorliegen (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 9, beck-online). Wobei das Gericht zudem die Beurteilung des Antragsgegners, dass die Antragstellerin nur geringe Fortschritte mache, nicht teilt. Vielmehr ist hierbei zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin aus einem fremden Kulturkreis kommt, bei ihrer Einreise im Jahr 2020 die Bundesrepublik Deutschland offenbar bereits psychische Beeinträchtigungen vorlagen (welche in der Folge eine Verteilung nach § 42b SGB VIII ausschlossen) und bereits kurze Zeit nach ihrer Einreise noch als Minderjährige schwanger wurde. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Entwicklungen die die Antragstellerin bisher gemacht hat, hin zur überwiegend selbstständigen Führung eines eigenen Haushalts, einem verantwortungsvollen Umgang mit ihren Finanzen, dem Besuch der S. Schule, der zuverlässigen Wahrnehmung von Termine und dem liebevollen Umgang mit ihrem Kind (vgl. Hilfeprozessbericht des Leistungserbringers K. vom 15. Juni 2025), als durchaus relevant. Dementsprechend kann der Antragstellerin auch nicht der Vorwurf der mangelnden Mitwirkung gemacht werden, welche gegebenenfalls zu einer Beendigung der Hilfemaßnahme führen könnte (vgl. § 66 SGB I). Vielmehr dürfte hierbei zudem zu berücksichtigen sein, dass laut dem Bericht der Einrichtung die Lern- und Belastungsfähigkeit der Antragstellerin nicht abschließend eingeschätzt werden könne, welche jedoch deutlichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und Erziehungsfähigkeit der Antragstellerin haben dürfte.
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Dementsprechend sind vorliegend keine Gründe ersichtlich, weshalb die Voraussetzungen für die seit 16. März 2021 bewilligte und zum 23. Dezember 2024 reduzierte Hilfe nach § 19 SGB VIII nunmehr nicht mehr vorliegen oder atypische Umstände (s.o.) vorliegen sollten, so dass die Antragstellerin keinen Anspruch mehr auf die weitere Hilfe nach § 19 SGB VIII hat. Eine Entscheidung nach Kostengesichtspunkten in diesem Zusammenhang ist hingegen nicht zulässig. Vielmehr muss eine der jeweiligen Bedarfslage angemessene Hilfe geleistet werden (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19, beck-online).
44
Soweit der Antragsgegner im Schriftsatz vom 25. August 2025 schließlich damit argumentiert, dass die Antragstellerin mit der zugesagten Bewilligung einer Hilfe zur Erziehung in Form einer ambulanten sozialpädagogischen Familienhilfe gemäß § 31 SGB VIII mit einem Betreuungsumfang von 15 Stunden wöchentlich die inhaltlich begehrte Jugendhilfemaßnahme erhalte, verkennt er die Struktur der Hilfe nach § 19 SGB VIII. Wie sich bereits aus der Bezeichnung der Hilfe entnehmen lässt, ist die gemeinsame Wohnform gerade Wesensmerkmal der Hilfe nach §§ 19 SGB VIII und damit – entgegen der Ansicht des Antragsgegners – wesentlicher Bestandteil dieser jugendhilferechtlichen Maßnahme.
45
Gemeinsames Merkmal der Wohnformen im Sinn des § 19 SGB VIII ist, dass Unterkunft und Betreuung (wenigstens für einen Teil des Tages) in der Verantwortung eines Trägers nach dessen Hilfekonzept erfolgen (institutionelle Betreuung), also nicht in eigenverantwortlicher Lebensführung über Tag und Nacht mit lediglich ergänzender Hilfe (VG München, U.v. 30.7.2025 – M 18 k 20.6968 – juris Rn. 45 ff.; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert/Sandra Dlugosch, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 8, beck-online). Die Hilfe kann in stationären, teilstationären oder sonstigen betreuten Wohnformen, für die eine Betriebserlaubnis nach §§ 45 oder 48a notwendig ist, geleistet werden. Es handelt sich um „pädagogisch institutionalisiertes Wohnen mit Kind“, hinsichtlich dessen es ganz unterschiedliche Einrichtungen mit einem unterschiedlichen Maß an sozialpädagogischer Unterstützung und Betreuung gibt. Stets aber muss die Betreuung in ein sozialpädagogisches Konzept und in die Verantwortung eines Trägers eingebunden sein (BeckOGK/C. Schmidt, 1.8.2025, SGB VIII § 19 Rn. 31, 32, beck-online).
46
Nachdem die Antragstellerin zum Jahreswechsel aus der Wohngruppe in eine Wohnung der betreuenden Einrichtung zog, wurde weiterhin Hilfe nach § 19 SGB VIII geleistet und nicht lediglich „zusätzlich zu den bewilligten Betreuungsstunden Wohnraum zur Verfügung gestellt“, wie der Antragsgegner formuliert.
47
Vielmehr lag das entscheidende Merkmal der „gemeinsamen Wohnform“, dass die Verantwortung (in Abgrenzung zu § 31 SGBVIII) an ein Hilfesystem eines Trägers gekoppelt ist und durch diese Anbindung sichergestellt wird, dass die Mutter/der Vater im Bedarfsfall auf die organisatorische, fachliche und personelle Infrastruktur des Hilfesystems zurückgreifen kann (Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 19 Rn. 10, beck-online), weiterhin vor. Es wurde lediglich ein weiterer Schritt in realitätsnahe Alltagsbedingungen unternommen, mit dem die Verselbstständigung der Antragstellerin gefördert und sie an weiter Alltagsroutinearbeiten herangeführt werden konnte /Christian Grube in: Hauck/Noftz SGB VIII, 1. Ergänzungslieferung 2025, § 19 SGB VIII, Rn. 6).
48
Die Antragstellerin benötigt diese Form der Unterstützung auch weiterhin.
49
Eine ausschließlich begleitende und beratende Hilfe erscheint hingegen derzeit nicht ausreichend, da bisher gerade noch keine ausreichende Verselbständigung der Antragstellerin auch im schulischen oder Ausbildungsbereich erreicht wurde, sondern vielmehr weiterhin ein aktiver Unterstützungsbedarf in vielen Bereichen gegeben ist (Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 19 Rn. 11, 12, beck-online).
50
Das Gericht schließt sich insoweit der Beurteilung der Fachkraft des Antragsgegners an, dass eine Beendigung der Maßnahme zum jetzigen Zeit vielmehr dazu führen würde, die bisher erreichte positive Entwicklung erheblich zu gefährden. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass aufgrund der individuellen Situation der Antragstellerin die Beendigung der Maßnahme zu einem vollständigen Neubeginn ihre Lebensführung, möglicherweise in einer Gemeinschaftsunterkunft und mit der Notwendigkeit der erneuten Suche eines Betreuungsplatzes für ihr Kind sowie des sozialen und ärztlichen Umfeldes führen würde.
51
Schließlich kann der Anspruch der Antragstellerin auch nicht dadurch verwirkt werden (wie wohl der Antragsgegner argumentiert), dass diese bereits im letzten Hilfeplangespräch auf die beabsichtigte Beendigung der Maßnahme hingewiesen worden sei. Maßgeblich ist vielmehr alleine der aktuelle Bedarf des Hilfeempfängers sowie seine Mitwirkungsbereitschaft im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die weitere Hilfe.
52
Zudem hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können.
53
Würde die Hilfe nach § 19 SGB VIII ab Oktober 2025 nicht mehr gewährt, wäre angesichts der obigen Ausführungen mit erheblichen Nachteilen für ihre Persönlichkeitsentwicklung und Erziehungsfähigkeit zu rechnen, was nicht nur die bisher erreichten Fortschritte erheblich gefährden würde (vgl. OVG Bremen, B.v. 25.3.2025 – 2 B 30/25 – juris Rn. 52). Vielmehr könnten die hierdurch erforderlich werdenden umfassenden Veränderungen (s.o.) auch zu einer Gefährdung des Wohls ihres Kindes führen. Denn ihr sensibler Sohn hatte bereits mit dem Umzug in das betreute Wohnen erhebliche Probleme. Das Gericht teilt insoweit die Ansicht der betreuenden Einrichtung sowie der Fachkraft des Antragsgegners, dass ein kurzfristig erfolgender Umzug in eine Unterkunft mit vielen anderen Menschen ihn stark überfordern und belasten könnte; was im Übrigen wiederum zu einer weiteren zusätzlichen Herausforderung an die Antragstellerin führen würde.
54
Dem Antrag war daher stattzugeben.
55
Es obliegt dem Antragsgegner rechtzeitig vor Ablauf des Verpflichtungsausspruchs im Rahmen eines Hilfeplanverfahrens den weiteren Bedarf der Antragstellerin festzustellen und nach sozialpädagogischer Fachlichkeit eine Entscheidung für die weitere Hilfe zu treffen.
56
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
57
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 Satz 2 VwGO.