Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft:, Eine in Äthiopien mit einem Äthiopier eingegangene traditionelle Ehe steht unter Umständen nicht der Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes Eritreas entgegen. Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes. Definition der bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben nach dem Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21).
Normenketten:
AsylG §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4
RL 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 lit. d
Istanbul-Konvention Art. 3, 60
Leitsatz:
Auch einer Frau, die eine traditionelle Ehe mit einem Äthiopier in Äthiopien geschlossen hat, droht unter Umständen die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes Eritreas, wo weibliche Rekrutinnen als bestimmte soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit geschlechtsspezifischer Verfolgung ausgesetzt sind.
Schlagworte:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft:, Eine in Äthiopien mit einem Äthiopier eingegangene traditionelle Ehe steht unter Umständen nicht der Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes Eritreas entgegen. Geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes. Definition der bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben nach dem Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21).
Fundstelle:
BeckRS 2025, 2625
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 9.10.2024 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen die vollständige Ablehnung ihres Asylantrags.
2
Die Klägerin ist am … in Assab, Eritrea, geboren und eritreische Staatsangehörige. Sie ist tigrinischer Volkzugehörigkeit und nach eigener Aussage Anhängerin der pentekostalen christlichen Religionsgemeinschaft, auch bekannt als Pfingstbewegung oder in Eritrea auch „Pente“ genannt. Am 22.3.2024 reiste sie über den Landweg nach Deutschland ein und stellte am 23.5.2024 einen Asylantrag.
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Am 9.7.2024 fand die persönliche Anhörung der Klägerin durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) statt. Dabei gab die Klägerin unter anderem an, sie sei tigrinischer Volkzugehörigkeit und pentekostalen Glaubens. Sie spreche Amharisch und Arabisch. Letzteres habe sie im Sudan gelernt. Tigrinya spreche sie nicht, sie verstehe es aber ein bisschen. Sie habe es nie gelernt, weil sie in Äthiopien aufgewachsen sei, wo zunächst noch ihre Mutter etwas Tigrinya mit ihr gesprochen habe, nach deren Tod habe man aber nur noch Amharisch mit ihr gesprochen. Ihr Ehemann lebe jetzt in Harrer in Äthiopien. Sie habe nur die eritreische Staatsangehörigkeit so wie ihre beiden Eltern. Ihr Vater sei schon lange verstorben, ihre Mutter sei gestorben, als die Klägerin sieben Jahre alt gewesen war. Sie habe als Kind in Assab, in Eritrea gelebt, aber mit drei Jahren habe sie ihre Mutter nach Äthiopien gebracht. Dort habe sie dann 17 Jahre lang ohne Aufenthaltsstatus, also illegal, gelebt. Nach dem Tod ihrer Mutter habe sie bei einer deren Freundinnen gelebt, bei der sie im Haushalt mithelfen musste. Sie hätten in Addis Abeba gelebt. Bevor sie in den Sudan ausgereist sei, habe sie vier bis fünf Jahre bei ihrem Ehemann, einem Äthiopier, gelebt. Sie hätten am 12.7.2020 in Addis Abeba geheiratet. Es sei eine religiöse Trauung in einer Kirche gewesen. Da sie nur illegal ohne Aufenthaltsstatus in Äthiopien gelebt habe, hätten sie die Ehe nicht offiziell registrieren lassen. Sie hätten in einer orthodoxen Kirche geheiratet, da ihr Mann christlich-orthodox sei. Die Mutter der Klägerin sei Mitglied der pentekostalen Kirche gewesen. Die Frau, die sie nach dem Tod ihrer Mutter aufgezogen habe, sei christlich-orthodox gewesen. Die Klägerin habe bei dieser Frau eine schwere Zeit gehabt bis sie ihren Mann gefunden habe. Sie sei gern mit ihrem Mann verheiratet. Die Frau, die sie aufgezogen habe, sei Äthiopierin gewesen. Sie habe in den 17 Jahren in Äthiopien keinen Kontakt zu Eritreern gehabt. Sie habe nie einen Pass der Auslandsvertretung von Eritrea beantragt, da sie nicht gewusst habe, dass so etwas gehe. Sie wisse nur, dass ihre Mutter Eritrea wegen ihrer Religion verlassen habe. Sie habe sich nicht als Flüchtling registrieren lassen, weil die Frau, die sie großgezogen habe, dies nicht gewollt habe. Sie habe in Äthiopien geputzt und als Bedienung gearbeitet. Nach der Heirat habe sie nicht mehr gearbeitet, weil ihr Mann als Ingenieur in Addis Abeba gearbeitet habe. Sie sei von Äthiopien in den Sudan, dann nach Libyen und Italien gereist. Sie habe illegal im Sudan gelebt und dort als Putzkraft gearbeitet, Wäsche gewaschen und gekocht. Sie sei nicht mehr in Eritrea gewesen. Sie wisse nicht, ob sie noch Verwandte in Eritrea habe. In Äthiopien habe sie nur ihren Ehemann und die Frau, die sie aufgezogen hatte. Sie habe nie eine Schule besucht. Sie habe nie Wehr- oder Nationaldienst geleistet. Ihre Mutter habe ihr erzählt, sie habe Eritrea wegen ihrer Religion verlassen. Die Religion sei in Eritrea seit 2002 verboten. Sie habe in Äthiopien illegal gelebt. Sie wolle das ändern, in die Schule gehen. Es gebe Krieg in Äthiopien, sie habe dort Angst um ihre Sicherheit. Sie habe nur ihren Mann in Äthiopien, sie sei dort nicht glücklich gewesen. Sie wisse nichts über Eritrea und habe dort niemanden. Nach Äthiopien wolle sie nicht zurück, es gebe viele Probleme dort. Sie habe sich dort immer allein gefühlt. Sie habe niemanden gehabt, dem sie ihre Probleme erzählen könnte. Sie habe sich immer fremd gefühlt. Es sei ihr zwar nach der Heirat besser gegangen, aber jetzt gebe es in Äthiopien Krieg und Unruhen, weswegen sie Angst habe. Ihr Mann habe sie in Äthiopien finanziell unterstützt, jetzt wolle sie aber selbst Geld verdienen. Wenn sie Kinder habe, wolle sie diesen etwas bieten. Sie wolle als Frau finanziell unabhängig sein. Wenn die Liebe zu Ende sei, wisse sie nicht, wo sie lande. Die finanzielle Situation nach der Heirat sei in Ordnung gewesen. Ihr Mann habe gearbeitet, es habe für das Leben gereicht, sparen haben sie nicht können. Die Entscheidung zur Ausreise habe sie selbst getroffen. Ihr Mann habe das nicht gewollt. Aber wenn eine Frau selber ein Einkommen habe, habe der Mann Respekt vor ihr. Ihr Mann habe die Entscheidung akzeptiert. Sie sei nicht sehr tief in ihrem Glauben gewesen, weil ihre Ziehmutter orthodoxe Christin gewesen sei und ihr Mann auch. Sie glaube, sie sei mehr christlich orthodox geneigt. Sie habe keine Idee, wie sie in Eritrea leben sollte, auch nicht wie sie dort ihre Religion ausleben könnte. Es sei seit 2002 verboten. Wenn die Klägerin an einem sicheren Ort sei, dann könne sie auch ihre pentekostale Religion ausleben. Wichtig an ihrer pentekostalen Religion sei ihr, dass sie nur an Gott glaube, an Jesus Christus. Im orthodoxen Glauben dagegen würde man auch an Maria oder Engel glauben. Der Glaube sei ihr wichtig wegen ihrer Mutter. Diese habe ihr den Glauben gegeben, weswegen sie ihn weiter ausüben wolle. Die Diaspora-Steuer kenne sie nicht. Auch habe sie nicht von der Reueerklärung gehört. Sie sei auch nicht bereit, so etwas zu machen. Sie habe gehört, dass die eritreische Regierung Macht habe und sie wolle so etwas nicht unterschreiben. Sie habe dort auch niemanden und werde nicht dorthin gehen. Sie wisse nichts von Beschneidungen von Frauen und Mädchen und wisse auch nicht, ob sie selbst beschnitten ist. Sie sei gegen die Beschneidung. Sie sei nicht schwanger. Habe sie eine Tochter, würde sie diese nicht beschneiden lassen. Ihr Ehemann sei auch dagegen. Sie habe keine äthiopische Staatsangehörigkeit beantragt nach ihrer Heirat, weil es keine offizielle, sondern nur eine traditionelle Hochzeit gewesen sei. Die Familie ihres Mannes sei über die Heirat nicht besonders glücklich gewesen. Sie habe niemanden in Deutschland.
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Mit Bescheid vom 9.10.2024, laut Postzustellungsurkunde der Klägerin am 14.10.2024 zugegangen, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Weiter wurde die Abschiebung nach Eritrea angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet (Ziffern 5 und 6).
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Am 16.10.2024 erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg.
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Begründet wurde die Klage im Wesentlichen damit, dass der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Ihr drohe bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aufgrund ihrer Religion. Die Klägerin sei Anhängerin der Pfingstgemeinde. Die Anhänger dieser Religion hätten in Eritrea mit Verfolgung zu rechnen. Die Klägerin habe in ihrer Anhörung angegeben, dass sie Anhängerin der Pfingstbewegung sei. Zwar habe sie angegeben, dass ihr Glauben nicht sehr tief verwurzelt sei. Sie wolle aber ihren Glauben weiter beibehalten und ausüben, da bereits ihre Mutter Anhängerin der Pente gewesen sei. Die Ausübung sei ihr allerdings nur an einem sicheren Ort möglich. Weiterhin sei der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft auch in Anwendung des EuGH Urteils vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) zuzuerkennen. Nach der genannten Rechtsprechung des EuGH könnten sowohl die Gesamtheit der Frauen eines Landes als auch einzeln abgrenzbare Gruppen von Frauen dieses Landes, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilten, als „eine bestimmte soziale Gruppe“ angesehen werden. Liege bezüglich dieser sozialen Gruppe ein Verfolgungsgrund vor, könne dies zur Flüchtlingsanerkennung führen. Als nationaldienstpflichtige Frau gehöre die Klägerin der abgrenzbaren sozialen Gruppe „nationaldienstpflichtige Frauen“ an. Der Klägerin drohe bei Einziehung in den militärischen Nationaldienst die Verfolgung in Form von sexueller Gewalt. Die 24-jährige Klägerin befinde sich im nationaldienstpflichtigen Alter. Die Klägerin sei auch nicht schon deswegen nicht mehr nationaldienstpflichtig, weil sie in Äthiopien traditionell geheiratet habe. Die Klägerin habe in ihren Anhörungen am 15.4.2024 und am 9.7.2024 angegeben, dass sie traditionell verheiratet sei. Sie habe einen äthiopischen Staatsangehörigen im Jahr 2020 in Addis Abeba geheiratet. Dabei habe die Klägerin stets betont, dass die Ehe nicht registriert worden sei, da sie sich in Äthiopien illegal aufgehalten habe. Eine Registrierung sei deswegen nicht möglich gewesen. Die Ehe sei rein traditionell geschlossen worden. Mangels Anerkennung bzw. Registrierung sei die Ehe der Klägerin nach äthiopischem Recht nicht wirksam. Eine religiös oder traditionell geschlossene Ehe werde nur dann anerkannt, wenn diese im Nachhinein auch durch ein äthiopisches Standesamt registriert werde und eine Heiratsurkunde ausgestellt werde. Aus Art. 40 des Äthiopischen Familiengesetzbuches vom 04.07.2000 (ÄFamGB) ergebe sich, dass die Ehe vor einem Zivilstands-Beamten oder gemäß den durch die Religion oder die Gewohnheit vorgesehenen Formen geschlossen werden könne. Gemäß § 28 Abs. 1 ÄFamGB sei eine Ehe unabhängig von der gewählten Form durch den Zivilstands-Beamten zu beurkunden. Die Klägerin habe zwar in ihrer Anhörung am 9.7.2024 angegeben, dass sie ihren Partner in Äthiopien um Zusendung der Heiratsurkunde bitten werde, es sei aber aufgrund der Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass es sich bei dieser Urkunde um die Bestätigung der traditionellen Ehe handeln werde. Da die Ehe nicht registriert wurde, sei davon auszugehen, dass diese nie durch einen Zivilstands-Beamten beurkundet worden sei. Demnach wäre die Ehe nach äthiopischem Recht nicht wirksam geschlossen worden. Der Familienstand der Klägerin sei deswegen weiterhin „ledig“. Mangels Registrierung sei nicht davon auszugehen, dass der eritreische Staat die Klägerin als verheiratete Frau betrachte. Selbst wenn man davon ausgehe, dass die Klägerin in Äthiopien eine wirksame Ehe geschlossen habe, sei es zweifelhaft, dass der eritreische Staat eine in Äthiopien geschlossene Ehe mit einem äthiopischen Staatsangehörigen, welcher sich weiterhin in Äthiopien aufhalte, als ausreichend ansehe, um die Nationaldienstpflicht der Klägerin entfallen zu lassen. Denn die Ausnahme von der Nationaldienstpflicht von verheirateten Frauen ergebe sich hauptsächlich aus der Begründung, dass die Frau sich ab der Eheschließung um die Familie und potentielle Kinder kümmern könne. Im Übrigen stehe der Klägerin jedenfalls subsidiärer Schutz zu.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
- 1.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.10.2024, Az. 10538249-224, wird aufgehoben.
- 2.
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Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise, bei der Klägerin Abschiebungsverbote festzustellen.
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Das Bundesamt beantragt für die Beklagte,
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Das Bundesamt bezieht sich zur Klagebegründung auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 3.1.2025 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
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Bei der mündlichen Verhandlung am 4.2.2025 erklärte die Klägervertreterin die teilweise Klagerücknahme hinsichtlich des Antrags auf Asylanerkennung, den die Klägerin noch mit Klageerhebung persönlich gestellt hatte.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Die Klage ist zulässig und begründet, soweit sie nicht zurückgenommen wurde.
15
Hinsichtlich dem Begehren, die Asylberechtigung der Klägerin anzuerkennen, hat die Klägerbevollmächtigte die Klage zulässig teilweise zurückgenommen, § 92 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in sein Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
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Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris).
20
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VG Ansbach, U.v. 24.10.2016 – AN 3 K 16.30452 – juris m.w.N.).
21
Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG.
22
1. Der Klägerin droht nach Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bei einer Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch die Einziehung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, die sie auch nicht durch Erlangung des Diasporastatus vermeiden kann.
23
a) Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab einem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise (Stand: 22.6.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Ein Einsatz im zivilen Bereich des Nationaldienstes bleibt aber auch für verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 15). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1.2022, S. 14; Danish Refugee Council (DRC), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Danach ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea in den militärischen Teil des Nationaldienstes eingezogen wird bzw. jedenfalls eine sechsmonatige militärische Ausbildung abzuleisten hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die wichtigste Methode der Rekrutierung zum Nationaldienst das Schulsystem darstellt, in das die Klägerin nicht zurückkehren würde. Gleiches gilt für die Annahme der Beklagten, dass auch eine Rekrutierung außerhalb des Schulsystems für die Klägerin nicht beachtlich wahrscheinlich sei, da die eritreischen Behörden nicht mehr die Kapazitäten zu haben scheinen, alle Dienstverweigerer systematisch zu Hause aufzusuchen, um sie zu verhaften oder zu rekrutieren und es auch trotz „giffas“ zahlreichen Dienstverweigerern gelinge, sich längerfristig auch diesen Kontrollen zu entziehen. Bei dieser Betrachtungsweise der Beklagten lässt diese völlig außer Betracht, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Eritrea einreisen muss und damit eine Einreisekontrolle durchlaufen muss. Es ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bei der Situation eines Rückkehrers davon auszugehen, dass dieser nach seinem Nationaldienststatus befragt und damit unmittelbar im Visier der Behörden ist. So berichtet EASO unter Hinweis auf überwiegend aus dem Sudan über die Landesgrenze stattgefundene Rückführungen, dass die meisten Betroffenen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Eritrea inhaftiert, insbesondere einem unterirdischen Gefängnis bei Tesseney zugeführt und dort auf den Nationaldienststatus überprüft würden. Die weitere Behandlung hänge von dem Profil des Betroffenen ab: Personen, die noch nie in den Nationaldienst aufgeboten wurden, müssten eine militärische Ausbildung absolvieren und sodann ihren Dienst bei einer Militäreinheit aufnehmen (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 69). Auch nach Auffassung des SEM deuten alle vorliegenden Informationen darauf hin, dass im Falle zwangsweiser Rückführung ähnlich wie bei einer „giffa“ der Nationaldienststatus überprüft und anschließend wie bei Aufgriffen im Inland verfahren werde (SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016), d.h. die Personen üblicherweise erst einige Tage oder Wochen in einem Gefängnis verblieben und dann zur militärischen Ausbildung in Ausbildungslager geschickt würden (vgl. auch OVG Lüneburg U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online).
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Die zum Zeitpunkt der Entscheidung 23-jährige Klägerin ist im dienstpflichtigen Alter, nach ihren Angaben in der Anhörung am 9.7.2024 sowie in der mündlichen Verhandlung am 4.2.2025 kinderlos und nicht schwanger. Zwar ist sie am 12.7.2020 eine traditionelle Ehe in Äthiopien mit einem Äthiopier eingegangen. Doch nach Überzeugung des zuständigen Einzelrichters stellt diese Eheschließung keine hinreichend wahrscheinliche Grundlage für eine Befreiung der Klägerin vom militärischen Teil des Nationaldienstes dar.
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(1) Zwar ist es wie dargelegt übliche Praxis, dass verheiratete Frauen von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen werden. Doch bietet die nur traditionell geschlossene Ehe der Klägerin bei realitätsnaher Betrachtung der Verhältnisse in Eritrea und der Umstände eines möglichen Aufgreifens der Klägerin bei der Einreise oder im Rahmen einer sog. „giffa“ keine hinreichende Sicherheit vor der Einziehung. Denn die Eheschließung der Klägerin ist nach äthiopischem Recht bereits unwirksam. Gemäß Art. 40 des Äthiopischen Familiengesetzbuches vom 4. Juli 2000 (Proklamation Nr. 213/2000 vom 4.7.2000, 4., Nr. 1/2000 vom 4.7.2000) – ÄFamGB – kann die Ehe vor einem Zivilstands-Beamten oder gemäß den durch die Religion oder die Gewohnheit vorgesehen Formen geschlossen werden. Gemäß § 28 Abs. 1 ÄFamGB ist eine Ehe unabhängig von der gewählten Form durch den Zivilstands-Beamten zu beurkunden (vgl. VG Würzburg B.v. 03.12.2020 – W 3 S 20.31209 – S. 11, juris). Die Trauung wurde nach Darstellung der Klägerin lediglich von einem christlich-orthodoxen Priester in Äthiopien nach traditionellem Ritus durchgeführt, ohne dass das Ehepaar je vor einem Zivilstands-Beamten eine Trauung vollzogen hat. Auch wurde die traditionelle Eheschließung den zuständigen Behörden nicht angezeigt und dementsprechend nicht beurkundet. Diese Darstellungen der Klägerin sind auch glaubhaft, da sie das Unterlassen der Beurkundung der Eheschließung schlüssig mit ihrem illegalen Aufenthaltsstatus in Äthiopien erklärt. Rechtlich gesehen ist die Klägerin also nicht verheiratet.
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(2) Dabei ist weiterhin zu beachten, dass bereits die eingangs genannten Befreiungen keineswegs rechtssicher garantiert werden, sondern vielmehr der Willkür der Rekrutierungsbeamten unterliegen (AI, Just deserters: Why indefinite national service in Eritrea has created a generation of refugees, Dezember 2015, S. 28; SEM, National Service and State Structures in Eritrea (agreed minutes of presentation at the Federal Office for Migration, Bern), 16.2.2012, S. 9; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f.). Im Kontext der traditionellen Ehe der Klägerin trägt zu zusätzlicher Unsicherheit bei, dass Berichten zufolge vom Nationaldienst befreite Frauen im Rahmen von „giffas“ auch dann zum Dienst eingezogen wurden, wenn sie den Grund für ihre Befreiung nicht nachweisen konnten (Røsberg/Tronvoll Migrants or Refugees? The internal and external drivers of migration from Eritrea, Project Report 14.02.2017, S. 75; SEM, National Service and State Structures in Eritrea (agreed minutes of presentation at the Federal Office for Migration, Bern), 16.2.2012, S. 9). Ihre nur traditionelle, rechtlich unwirksame Ehe kann die Klägerin nicht ohne weiteres nachweisen, insbesondere da diese im Ausland stattfand und sich ihr „Ehemann“ nicht in Eritrea aufhält und dieser nicht einmal eritreischer Staatsangehöriger ist. Darüber hinaus hat die Klägerin nach glaubhaftem Vortrag in der mündlichen Verhandlung aktuell ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihrem „Ehemann“, der die Beziehung beenden möchte und schon seit längerem nicht mehr in Kontakt zu ihr steht. Weiterhin ist zu beachten, dass Sinn der Dienstbefreiungen für Mütter, Schwangere und verheiratete Frauen ist, dass die vom militärischen Teil des Nationaldiensts befreiten Frauen sich als Mütter um die Erziehung ihrer Kinder kümmern (vgl. VG Augsburg, U.v. 11.4.2024 – Au 9 K 23.30697 –, Rn. 31, juris; VG Bayreuth, U.v. 15.03.2021 – B 8 K 18.31541 –, S. 8 juris) bzw. als Ehefrauen Kinder zeugen und sich sodann um diese Kinder kümmern sollen, wie sich etwa darin zeigt, dass im zivilen Teil des Nationaldiensts tätige Mütter anders als Frauen im militärischen Teil zuhause bei ihren Familien leben dürfen (vgl. Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, 15./16. Oktober 2014, S. 12 f.). Es ist fernliegend, dass der Klägerin in Anbetracht dieser Hintergründe eine Befreiung vom militärischen Teil des Nationaldienst gewährt würde. Aus ihrer im Ausland geschlossenen Ehe mit einem äthiopischen Mann, der sich selbst nicht in Eritrea aufhält und nach Darstellung der Klägerin kein Interesse hat, Äthiopien zu verlassen, und mit dem die Klägerin aktuell keinen Kontakt hat, können nicht ohne Weiteres Kinder folgen, um die sich die Klägerin zu kümmern hätte. Nach alledem besteht also eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin trotz der traditionellen Eheschließung in den militärischen Teil des Nationaldienstes einberufen werden würde.
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b) Das Aufgebot in den Nationaldienst kann die Klägerin nicht durch Erlangung des sog. Diaspora-Status abwenden, da zum einen nicht ausreichend gesichert ist, dass sie diesen überhaupt erlangen kann und zum anderen ihr der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes bieten würde, unabhängig davon, ob ihr ein Nachsuchen überhaupt zumutbar ist.
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(1) Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht.
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Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Status richtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
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(2) Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr der Einberufung in den Nationaldienst durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können.
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Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehören (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
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Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters bereits nicht gesichert, dass die Klägerin den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann.
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Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
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Zum einen ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, 3.1. 2022, S. 5 f., 21 f.). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
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Vor diesem Hintergrund kann die Klägerin den Diaspora-Status bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen. Die Klägerin hat nach dem streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes keinen Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus in Deutschland. Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den Nachweis einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland erbringen könnte und ihre Rückkehr wäre nicht nur vorübergehend.
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(3) Aber selbst wenn man annimmt, dass die Klägerin bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, wofür sprechen könnte, dass auf diesem Weg auch Knowhow nach Eritrea geholt werden kann, ist fraglich, ob ihr ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist.
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Problematisch ist die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, in der bedauert wird, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die „Reueerklärung“ von allen Eritreern unterzeichnet werden muss, die das Land illegal verlassen haben und den Nationaldienst nicht geleistet oder abgeschlossen haben. EASO stellt im Hinblick auf den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung unmissverständlich klar, dass von dem Erfordernis der Unterzeichnung des „Reueformulars“ nur Personen befreit seien, die vom Nationaldienst ausgenommen sind oder die den Dienst bereits abgeschlossen haben (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 f.).
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Nach Art. 10 Abs. 1 der Proklamation Nr. 24/1992 issued to regulate the issuing of travel documents, entry and exit visa from Eritrea, and to control residence permits of foreigners in Eritrea (im Folgenden: Proklamation Nr. 24/1992, abrufbar in englischer Sprache unter https://www.refworld.org/sites/default/files/attachments/54c0d9d44.pdf) kann keine Person Eritrea über andere Stellen verlassen als über die vom Sekretär für innere Angelegenheiten genehmigten. Nach Art. 11 der Proklamation Nr. 24/1992 kann niemand Eritrea verlassen, wenn er nicht im Besitz eines gültigen Reisedokuments, eines gültigen Ausreisevisums und eines gültigen internationalen Gesundheitszeugnisses ist. Die vorgenannten Voraussetzungen für eine legale Ausreise muss jede Person, unabhängig von ihrem Alter, erfüllen.
40
Die Klägerin war im Zeitpunkt ihrer Ausreise zwar noch nicht im dienstpflichtigen Alter. Sie ist jedoch mit einem Alter von nunmehr 23 Jahren inzwischen auch im nationaldienstpflichtigen Alter. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in ihrem Falle die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ verlangt wird.
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Geht man davon aus, dass eine „Reueerklärung“ gefordert wird, wäre ein Verweis auf die freiwillige Ausreise unter Diasporastatus bereits unter diesem Aspekt wohl unzumutbar.
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Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 AufenthV entschieden, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der „Reueerklärung“ nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenze nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Das Bundesverwaltungsgericht führte weiter aus, dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris).
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Der in Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt für die hier unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität des Asylrechts anzustellenden Zumutbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Abgabe der „Reueerklärung“ als ein dem Asylantragsteller zumutbares Verhalten zur Gefahrenabwehr (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris) nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters eine gewisse Aussagekraft zu. Denn sie betrifft im Kern die Frage, ob die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG). Daran muss sich die Zumutbarkeit der Abgabe der „Reueerklärung“ auch im hier vorliegenden asylrechtlichen Kontext messen lassen.
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Ausgehend hiervon spricht viel dafür, dass die Abgabe dieser „Reueerklärung“ unzumutbar ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Auswärtigen Amtes im aktuellen Lagebericht, wonach der Text als Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 22 f.). Zwar scheint für eine Zumutbarkeit zu sprechen, dass viele Eritreer diese Erklärung unterschreiben und unter Ausnutzung des Status vorübergehend nach Eritrea reisen und dies in der Regel auch unbehelligt tun können. Allerdings lassen sich hieraus keine zwingenden Rückschlüsse auf eine permanente Rückkehrsituation treffen. Hier fehlen solche Erfahrungswerte gerade. Auch ist die Zumutbarkeit vor dem Hintergrund des willkürlichen Verhaltens und der fehlenden Rechtsstaatlichkeit Eritreas zu sehen. Der zuständige Einzelrichter geht von der Annahme einer Unzumutbarkeit im Regelfall aus, ohne dass die Klägerin ihre Weigerung plausibel darstellen muss. Im Hinblick auf dieses Erfordernis ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21) zwar ausführte, dass jedenfalls gegen den geäußerten Willen eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Ausländer nicht verlangt werden könne. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Person mit zuerkanntem Schutzstatus im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Passbeschaffung, nicht die Frage der Zumutbarkeit der Unterzeichnung im Zusammenhang mit einer straffreien Rückkehr. Wird selbst in diesem Fall eine Unzumutbarkeit jedenfalls gegen den Willen angenommen, spricht einiges dafür, dass eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“, um eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea zu erreichen vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht verlangt werden kann, unabhängig davon, ob dies von Klägerseite ausdrücklich abgelehnt wurde (abstellend auf eine ausdrückliche Ablehnung wohl OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; für eine Zumutbarkeit OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online). Im Übrigen wurde im angesprochenem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich offen gelassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist. Auch dies spricht dafür, dass es, wenn es um die Frage einer möglichen Bestrafung durch den Staat oder die Einberufung in den Nationaldienst geht, jedenfalls im Falle eines oft willkürlich agierenden Staates wie Eritrea generell unzumutbar ist, gerade diese Straftat schriftlich anzuerkennen (vgl. für § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG VGH Mannheim, B.v. 5.6.2024 – 12 S 871/22 – beck-online).
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(4) Aber selbst wenn man unterstellt, dass die Möglichkeit des Diasporastatus zur Verfügung steht und die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ von der Klägerin nicht verlangt wird oder der Klägerin zumutbar wäre, bietet der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes.
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Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement“ zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
47
Der zuständige Einzelrichter geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz, nicht in den Nationaldienst einberufen zu werden, dazu führt, dass eine Einberufung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen eine Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, der Kläger damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch einberufen zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Einberufung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
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Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitliche Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar sind, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein zeitlicher Aufschub des Nationaldienstes für nur sechs bis zwölf Monate, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
49
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Klägerin nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da sie diesen weder gesichert erlangen kann, ein Nachfragen wohl unzumutbar wäre und er sie jedenfalls nicht vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes ausreichend schützen würde.
50
c) Bei einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes droht der Klägerin aufgrund drohender sexueller Übergriffe nach Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
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Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. a AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschrift, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchst. b AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG). Bei der Bestimmung dieses Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sind die Vorgaben des Unionsrechts und insbesondere das Urteil des EuGH vom 16.1.2024 (Az. C-621/21) betreffend die Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen. Danach können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden, was im Sinne eines „Verfolgungsgrundes“ zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU ist dabei nach der der Rechtsprechung des EuGH unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt auszulegen. Nach Art. 60 Abs. 1 der Istanbul-Konvention muss Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, wobei nach Art. 60 Abs. 2 die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention geschlechtersensibel ausgelegt werden müssen (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2024 – C-621/21 – juris Rn. 47 f.). Gewalt gegen Frauen sind nach Art. 3 Buchstabe a der Istanbul-Konvention alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben. In Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention wird geschlechtsspezifische Gewalt als Gewalt definiert, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft.
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Die Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a AsylG wird von weiblichen Rekrutinnen bereits aufgrund der angeborenen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet. Aber auch die Voraussetzung des § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b AsylG liegen für Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes vor. Zwar schließt das selbständige Erfordernis der „deutlich abgrenzbaren Identität“ eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 oder Abs. 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-473/16 – juris; BVerwG, B.v. 23.9.2019 – 1 B 54.19 – juris; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 19 A 1857/19.A – juris). Hiervon geht auch die Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 – C 621/21 – beck-online aus, in der der Gerichtshof ausführt, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe unabhängig von den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie festgestellt werden muss, denen die Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland ausgesetzt sein können. Gleichwohl könne eine Diskriminierung oder eine Verfolgung von Personen, die ein gemeinsames Merkmal teilen, einen relevanten Faktor darstellen, wenn für die Prüfung, ob die zweite in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 vorgesehene Voraussetzung für die Identifizierung einer sozialen Gruppe erfüllt sei, zu beurteilen sei, ob es sich bei der in Rede stehenden Gruppe im Hinblick auf die sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen des betreffenden Herkunftslands offensichtlich um eine gesonderte Gruppe handele. Diese Auslegung werde durch Rn. 14 der Richtlinien des UNHCR zum internationalen Schutz Nr. 2 betreffend die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bestätigt. Folglich könnten Frauen insgesamt als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststehe, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt seien. Der zuständige Einzelrichter geht zwar nicht davon aus, dass alleine die verbreitete sexuelle Gewalt in Eritrea Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes zu einer gesonderten und abgrenzbaren sozialen Gruppe gegenüber z.B. Frauen außerhalb des militärischen Nationaldienstes macht. Allerdings führt die Zugehörigkeit zum Geschlecht der Frauen und die in Eritrea Frauen gegenüber bestehende Einstellung und die Rahmenbedingungen im militärischen Bereich des Nationaldienstes dazu, dass Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes, zu dessen Ableistung sie grundsätzlich verpflichtet sind, gegenüber den männlichen Rekruten anders angesehen und behandelt werden und damit eine „soziale Gruppe“ i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vorliegt (anders OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – 4 B 14/21; VG Berlin, U.v. 6.2.2023 – VG 28 K 505.17.A; OVG Münster, B.v. 21.9.2020 – 4 B 21.9.2020 - 19. A.; OVG Lüneburg, B.v. 9.2.2022 – 4 LA 74/20 – jeweils beck-online). Zwar geht der zuständige Einzelrichter nicht davon aus, dass Frauen gerade zu dem Zweck rekrutiert werden, um für sexuelle Dienste von Vorgesetzten zur Verfügung zu stehen. Ihre Einberufung erfolgt vielmehr im Zuge der allgemeinen Dienstpflicht, unter die auch konsequent Frauen fallen. Auch, dass diese Frauen, die in den militärischen Bereich einberufen werden, häufig Funktionen wie Köchinnen, Putzkraft, Wäscherin, persönliche Assistentin des Kommandanten oder Büromittarbeiterin zugeteilt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S.26), führt alleine nicht automatisch zu einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Diese Tätigkeiten sind nicht automatisch mit einem sexuellen Bezug belegt, sondern im militärischen Bereich notwendig. Allerdings ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln davon auszugehen, dass es gerade im militärischen Bereich und gerade in diesen Funktionen gehäuft zu sexuellen Übergriffen kommt und hiergegen nicht eingeschritten wird (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea S. 8; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6 May 2022, A/HRC/50/20, S. 7; Danish Refugee Council, Country Report Eritrea, January 2020, S. 22; SFH Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 13. Februar 2018 zu Eritrea, Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 3). Dabei deuten die Erkenntnismittel auf eine kontinuierliche Verschlechterung der Dienstbedingungen hin (vgl. VG Bremen, U.v. 24.11.2023 – 7 K 297/22 – BeckRS 2023, 45673, Rn. 42), womit auch eine tendenzielle Verschlechterung der Lage von Frauen im Militärdienst naheliegt. Nach dem letzten Bericht der früheren VN Sonderberichterstatterin Sheila B. Keetaruth stelle die anhaltende Leugnung der Existenz sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Armee durch die Regierung eine Verweigerung der Rechte der Frauen dar, die dringend abgestellt werden müsse (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14). Nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln geht der zuständige Einzelrichter davon aus, dass die nach den Erkenntnismitteln weit verbreitete Annahme, dass weibliche Rekrutinnen ihren Vorgesetzten auch in sexueller Hinsicht zur Verfügung stehen, auch in der Rolle der Frau im sozialen Kontext und ihrem mangelnden gesellschaftlichen Schutz zu sehen ist (vgl. allgemein auch Gaim Kibreab, Sexual Violence in the Eritrean National Service). Soweit bislang davon ausgegangen wurde, dass Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch gegenüber Untergebenen allgemein im militärischen Bereich des Nationaldienstes verbreitet sind und die sexuellen Übergriffe gegenüber Frauen im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine besondere Form der Misshandlung im Rahmen des Nationaldienstes neben anderen Formen von Misshandlungen gegenüber allen Dienstverpflichteten unabhängig vom Geschlecht sei, erscheint dies im Lichte der Entscheidung des EuGH vom 16.1.2024 (s.o.) nicht mehr sachgerecht. Zwar sind sowohl die Misshandlungen als auch die sexuellen Übergriffe darin bedingt, dass den Vorgesetzten fast unbegrenzte Macht gegenüber den Rekruten zukommt. Dennoch ist auch zu berücksichtigen, dass die Machtdemonstration bei Frauen geschlechtsspezifische Formen hat und auch im Zusammenhang mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu sehen ist. Anders als ihre männlichen Kollegen sind sie auf Grund ihres Geschlechts auch sexueller Gewalt ausgesetzt bzw. werden unter Strafandrohung unter Druck gesetzt, zu sexuellen Diensten zu sein. Daneben tragen auch sie das Risiko bei Fehlverhalten im Dienst bestraft und dabei menschenunwürdig behandelt zu werden. Das zusätzliche Risiko, bestraft zu werden, weil sie nicht zu sexuellen Diensten sein wollen, tragen nur weibliche Rekrutinnen. Auch dies spricht dafür, dass weibliche Rekrutinnen aufgrund ihres Geschlechts im militärischen Bereich des Nationaldienstes anders angesehen und behandelt werden als männliche Rekruten. Auch tragen nur Frauen in Eritrea das Risiko einer Stigmatisierung, wenn sie unehelich schwanger werden, selbst bei einer Vergewaltigung (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 15). Sexuelle Übergriffe auf weibliche Rekrutinnen im Militärdienst erfolgen gerade aus dem Grund, weil sie Frauen sind bzw. betreffen solche Übergriffe unverhältnismäßig oft Frauen, womit eine geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen im Sinne des Art. 3 Buchstabe d der Istanbul-Konvention vorliegt. Da nach Art. 60 Abs. 2 der Istanbul-Konvention und gemäß der EuGH-Rechtsprechung auch bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU eine geschlechtersensible Auslegung von Verfolgungsgründen erforderlich ist, kann diese Form geschlechtsspezifischer Gewalt nach Ansicht des Einzelrichters nicht als bloßer Ausdruck eines unabhängig vom Geschlecht der Betroffenen bestehenden gewalttätigen Umfelds gesehen werden. Vielmehr ist dem gerade gegen Frauen als solche gerichteten Gewaltakt eine eigenständige Qualität beizumessen. Im Lichte einer geschlechtersensiblen Auslegung geht daher der zuständige Einzelrichter davon aus, dass Frauen, die beachtlich wahrscheinlich in den militärischen Bereich einberufen werden, eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht. Dem Erfordernis einer geschlechtssensiblen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d der RL 2011/95/EU und damit auch des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird daher nur genügt, wenn Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes, die im Gegensatz zu Männern im regulären Dienst Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind, entsprechend dem oben Ausgeführten als soziale Gruppe mit abgegrenzter Identität angesehen werden.
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Der Klägerin droht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im militärischen Teil des Nationaldienstes eine Verfolgung in Form sexueller Gewalt wegen Zugehörigkeit zur abgegrenzten sozialen Gruppe weiblicher Rekrutinnen. Da die Verfolgung im Nationaldienst von staatlichen Akteuren nach § 3c Nr. 1 AsylG ausgeht und innerhalb Eritreas keine Möglichkeit besteht, einer Einziehung in den Militärdienst zu entgehen (§ 3e Abs. 1 AsylG) hat die Klägerin damit gemäß § 3 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Die Klage erweist sich damit insgesamt bereits im Hauptantrag als begründet.
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2. Ob sich darüber hinaus ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung der Klägerin wegen einer möglichen Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Pfingstbewegung ergibt, kann somit dahinstehen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Asyl nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG. Hinsichtlich des Antrags auf Asylanerkennung, der von der Klägervertreterin in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen wurde, gilt zwar grundsätzlich die Kostenpflicht der zurücknehmenden Beteiligten, § 155 Abs. 2 VwGO. Allerdings bestimmt sich die Höhe der Kostenverteilung auch in diesem Fall entweder nach denselben Regeln, die für ein teilweises Unterliegen gelten (§ 155 Abs. 1 VwGO) oder aber nach der Frage, welche Mehrkosten im Zusammenhang mit der Klagerücknahme entstanden sind (vgl. Olbertz in Schoch/Schneider/, 46. EL August 2024, VwGO § 155 Rn. 14, beck-online). In beiden Fällen läuft es auf eine Kostenfreiheit der Klägerin hinaus. Nach der ersten Ansicht ist konsequenterweise auch § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO anwendbar, da sich aufgrund der weitgehenden Angleichung von Flüchtlingsstatus und Asylberechtigung der zurückgenommene Antrag auf Asylanerkennung kostenmäßig nicht auswirkt (vgl. SächsOVG, U.v. 7.2.2024 – 5 A 234/19.A –, Rn. 75-77, juris; VG Würzburg, U.v. 25.1.2021 – W 8 K 20.30746 –, Rn. 58, juris). Nach der letztgenannten Ansicht haben sich aus der Rücknahme des Antrags vorliegend keine Mehrkosten ergeben.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).