Inhalt

VG München, Urteil v. 20.05.2025 – M 18 K 20.1772
Titel:

Leistungsempfänger, Eingliederungshilferecht, Leistungen der Eingliederungshilfe, Zwei-Wochen-Frist, Schulbegleitung, Erstattungsanspruch, Rehabilitationsträger, Verwaltungsgerichte, Sozialhilfeträger, Anspruch auf Kostenerstattung, Kostenerstattungsanspruch, Leistungsverpflichteter, SGB VIII, Teilhabebeeinträchtigung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Rechtsmittelbelehrung, Prozeßbevollmächtigter, Elektronischer Rechtsverkehr, Unbestimmter Rechtsbegriff, Teilnahme am Unterricht

Normenketten:
SGB VIII § 10
SGB VIII § 35a
SGB IX § 2
SGB IX § 14
SGB X § 104
SGB XII § 53 Abs. 1 S. 1
Schlagworte:
Leistungsklage, Schulbegleitung, Teilhabebeeinträchtigung, seelische Störung, Kostenerstattungsanspruch, Nachrangige Verpflichtung, Prozesszinsen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 26029

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für den Hilfefall S.H. im Zeitraum zwischen dem 21. Mai 2019 und dem 31. Juli 2019 in Höhe von 4.636,52 EUR zuzüglich Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein Sozialhilfeträger, begehrt vom Beklagten, einem Jugendhilfeträger, die Erstattung von Kosten in Höhe von 4.636,52 EUR zuzüglich Zinsen, die er für die Schulbegleitung der Leistungsempfängerin S. im Zeitraum 21. Mai 2019 bis 31. Juli 2019 aufgewendet hat.
2
Die am …  2010 geborene Leistungsempfängerin S. erhielt vom Kläger ab 11. Mai 2016 bis 11. September 2017 zur Frühförderung heilpädagogische Leistungen. Sie wurde für das Schuljahr 2016/2017 vom Besuch der Grundschule zurückgestellt und besuchte ab dem Schuljahr 2017/2018 die Montessorischule G.
3
Aus dem Bericht des sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) T. vom 25. September 2017 ergaben sich für S. die Diagnosen kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung (ICD-10 F83G), IQ=65, sonst. rezeptive Sprachstörung (ICD-10 F80.28G), generalisierte Angststörung (ICD-10 F41.1G), einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F90.0G) sowie sonstige emotionale Störung Kindesalter (ICD-10 F93.8G). Als sozialer Befund wurden andere Kontaktanlässe mit Bezug auf den engeren Familienkreis (ICD-10 Z63G) sowie als Ätiologie eine individuelle Disposition in Verbindung mit Umgebungsumständen/familiären Faktoren etc. genannt. Es wird ausgeführt, dass sich deutliche Entwicklungsdefizite in unterschiedlichen Bereichen gezeigt hätten: Sprache, Wahrnehmung, Motorik, Aufmerksamkeit und Ausdauer sowie motivationale Schwierigkeiten. Daneben bestünden massive Ängste sowie weitere emotionale Belastungen. S. erscheine insgesamt überfordert und orientierungslos. Sie flüchte sich häufig in eine Phantasiewelt. Aufgrund der vielfältigen und komplexen Symptomatik sei eine psychotherapeutische Begleitung für S. dringend empfohlen worden, die auch begonnen hätte. Bezüglich des Schulbesuchs sei eine Aufnahme in die Diagnose-Förderklasse empfohlen worden, da S. nicht für die Montessorischule geeignet erschienen sei. Dies sei von der Mutter der Leistungsempfängerin strikt abgelehnt worden. Als weiterführende Diagnostik wurden die Durchführung eines Schlaf-EEGs und ein MRT des Schädels empfohlen.
4
Mit Stellungnahme vom 21. Februar 2019 empfahl die Praxis für Osteopathie, Ergotherapie und Naturheilkunde V. eine pädagogische Schulbegleitung für S. 
5
Ein kinderärztliches Attest vom 13. März 2019 empfahl aufgrund der Diagnosen V.a. Entwicklungsstörung, Dyskalkulie, Lese-Rechtschreibschwäche und Trichotillomanie dringend eine Schulbegleitung. Parallel finde eine weitergehende Diagnostik zur Einordnung der Probleme im Sozialpädiatrischen Zentrum T. statt.
6
In der Stellungnahme vom 24. März 2019 führt die von der Leistungsempfängerin besuchte Montessorischule zusammenfassend aus, dass eine individuelle Schulbegleitung nötig sei, um S. auf längerfristige Sicht eine gewinnbringende Beschulung und Inklusion zu ermöglichen. Der Schulstart sei sehr gelungen und die Integration in der Gruppe super. Aufgrund der geistigen und entwicklungsbedingten Voraussetzungen werde aber steigender Handlungsbedarf gesehen.
7
Die Mutter der Leistungsempfängerin beantragte für diese beim Kläger am 1. März 2019, dort eingegangen am 8. April 2019, Individualbegleitung.
8
Am 3. Juni 2019 legte die Mutter der Leistungsempfängerin dem Kläger ein Gutachten des SPZ T. vom 21. Mai 2019 vor. Dort werden zum Störungsbild der Leistungsempfängerin eine Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2G), Generalisierte Angststörung (ICD-10 F41.1.G); Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F90.0); V.a. kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten genannt. Zum Entwicklungsstand wird eine Entwicklungsstörung schulische Fertigkeiten onA (ICD-10 F81.9G) sowie zum Intelligenzniveau eine Lernbehinderung (IQ=75) angeführt. Unter „Beschreibung der sozialen Beeinträchtigung bei der Teilhabe in der Schule und Gesellschaft, welche sich aus der beschriebenen Problematik ergibt (Förderbedarf)“ ist ausgeführt, S. gehe gern zur Schule, benötige jedoch beständig Hilfe, um Aufgaben organisieren und bewältigen zu können. S. verfüge über sehr geringes Selbstvertrauen. Schulisches Wissen könne sie sich nur schwer aneignen und sie sei in allen Kernfächern auf zusätzliche Unterstützung angewiesen. Durch eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität werde das Lernen zusätzlich erschwert. Es sei davon auszugehen, dass S. über gutes Entwicklungspotential verfüge. Um die Entwicklung weiterhin zu fördern, benötige S. dringend eine Einzelbegleitung in der Schule. Ziel wäre eine Verbesserung der Leistungen, der Selbständigkeit beim Lernen und beim Organisieren von Aufgaben sowie die Entwicklung eines angemessenen Selbstwerts. Unter dieser Voraussetzung könne eine weitere Beeinträchtigung der Teilhabe vermieden werden. Die Voraussetzungen zur Prüfung des Bedarfs einer Hilfe nach § 35a SGB VIII seien gegeben.
9
Am 5. Juni 2019 leitete die zuständige Sachbearbeitung beim Kläger den Vorgang an den klägereigenen Fachdienst Behindertenhilfe mit der Bitte um fachliche Stellungnahme zur Notwendigkeit der Schulbegleitung und teilte mit, der Kläger müsse als erstangegangener Träger entscheiden. Eine Weiterleitung des Antrags an den Beklagten sei nicht mehr möglich, da die Zweiwochenfrist abgelaufen sei.
10
Der Fachdienst Behindertenhilfe des Klägers empfahl am 14. Juni 2019 für das laufende und kommende Schuljahr eine Schulbegleitung im Umfang von 26 Stunden mit der Qualifikation Hilfskraft.
11
Mit Bescheid vom 25. Juni 2019 gewährte der Kläger „vorläufig gemäß § 14 Abs. 2 SGB IX“ für S. im Zeitraum vom 1. März 2019 bis zunächst 31. Juli 2019 Leistungen der Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für einen Schulbegleiter (Hilfskraft) in der Montessorischule G. mit einem Umfang von 26 Stunden pro Woche inklusive einer Stunde indirekte Leistung im Rahmen der Teilhabe zur Bildung. Zur Begründung der Zuständigkeit wurde ausgeführt, nach den vorliegenden Unterlagen liege bei S. keine körperliche oder geistige Behinderung vor. Stehe eine seelische Beeinträchtigung im Vordergrund, liege die sachliche Zuständigkeit bei den Jugendämtern. Im Interesse von S. erfolge eine Leistungsgewährung seitens des Klägers vorläufig gemäß § 14 Abs. 2 SGB IX.
12
Am selben Tag meldete der Kläger beim Beklagten unter Aktenvorlage einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X an und bat um Fallübernahme zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
13
Ebenfalls am 25. Juni 2019 teilte die Montessorischule G. dem Kläger auf dessen Frage hin mit, die Schulbegleitung laufe bereits seit März 2019 und werde auch bis Ende dieses Schuljahres erfolgen.
14
Mit Schreiben vom 26. August 2019 teilte der Beklagte dem Kläger mit, über die weitere Gewährung einer Schulbegleitung für das Schuljahr 2019/2020 werde in eigener Zuständigkeit entschieden. Die Entscheidung über die Kostenerstattung werde zu einem späteren Zeitpunkt mitgeteilt.
15
Mit Schreiben an den Kläger vom 5. September 2019 lehnte der Beklagte die Kostenerstattung ab und führte aus, das SPZ T. habe schon 2017 den Besuch der Montessorischule G. als nicht geeignet angesehen. S. sei dort gut integriert gewesen und habe positiven Kontakt zu ihren Mitschülern gehabt. S. sei aber mit den Lerninhalten bzw. dem schulischen Kontext dauerhaft überfordert gewesen. Schulbegleitung bedeute nicht, Defizite im Bereich der Lern- und Hilfsmittel sowie Verhaltensprobleme auszugleichen. Es sei nicht Aufgabe einer Schulbegleitung, in den pädagogischen Kernbereich der Schule einzugreifen, um kognitive Überforderungen auszugleichen. Die Schulbegleitung sei nicht die geeignete Maßnahme gewesen.
16
Am 27. April 2020 erhob der Kläger Klage mit dem Antrag:
17
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die im Zeitraum vom 21.5.2019 bis 31.7.2019 geleisteten Zahlungen für die Schulbegleitung der Leistungsempfängerin S. in Höhe von 4.636,52 EUR zuzüglich Zinsen zu erstatten.
18
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Zuständigkeit des Beklagten ab Feststellung des IQ-Werts 75 am 21. Mai 2019 sei unstreitig. Die Schulbegleitung sei auch eine geeignete Maßnahme. Es handle sich bei den Hilfestellungen auch nicht um Aufgaben aus dem pädagogischen Kernbereich. S. benötige keine zusätzliche Unterstützung bei der Vermittlung des Unterrichtsstoffes, vielmehr benötige sie Hilfe bei Überforderungssituationen, die einer Teilnahme am Unterrichtsgeschehen entgegenstünden. Die Hilfe diene dazu, S. aus einer Vermeidungshaltung herauszuholen und den Aufmerksamkeitsfokus wieder auf das Unterrichtsgeschehen zu lenken. Ebenso diene die Überwindung von Ängsten und Selbstzweifeln der Förderung, dem Schulunterricht zu folgen. Zur Höhe des Erstattungsbetrags wurde eine Kostenaufstellung vorgelegt. Der Betrag sei i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu verzinsen.
19
Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2020 beantragte der Beklagte,
20
die Klage abzuweisen.
21
Ein Anspruch gemäß § 104 SGB X scheitere daran, dass der Kläger zielgerichtet in die Zuständigkeit des Beklagten eingegriffen habe. Dem Kläger sei am Tag seiner Entscheidung (25. Juni 2019) klar gewesen, dass seine Zuständigkeit nicht gegeben gewesen sei. Die Frist des § 14 SGB IX sei bereits weit überschritten gewesen. Der Kläger hätte, nachdem er den Antrag nicht weitergeleitet habe, nach § 14 Abs. 2 SGB IX und den vorliegenden Unterlagen unverzüglich eine Entscheidung treffen müssen, was er aber nicht getan habe, sondern die aktuelle Stellungnahme des SPZ abgewartet habe. Eine Entscheidung bzw. Weiterleitung an den Beklagten nach Kenntnisnahme der neuen Tatsachen am 3. Juni 2019 sei nicht erfolgt. In Kenntnis der sachlichen Unzuständigkeit habe er eine Schulbegleitung bewilligt. Außerdem sei S. nicht dem Personenkreis des § 35a SGB VIII zuzuordnen, da kein massives Integrationsrisiko vorliege. Weiterhin sei Schulbegleitung vom Kläger als notwendig angesehen worden, damit S. den Lerninhalten folgen könne bzw. weil die Kapazität des Lehrpersonals ausgeschöpft gewesen sei. Eine Schulbegleitung sei aber nicht zur Verbesserung der schulischen Leistung einzusetzen.
22
Zum Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

23
Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten hierauf verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
24
Die zulässige Leistungsklage ist begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der von ihm im streitgegenständlichen Zeitraum vom 21. Mai 2019 bis 31. Juli 2019 aufgewendeten Kosten für die Schulbegleitung der Leistungsempfängerin S. in Höhe von 4.636,52 EUR.
25
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände (VGH BW – U.v. 3.2.2024 – 12 S 775/22 – juris Rn. 32). Hinsichtlich des materiellen Rechts ist daher maßgeblich auf die Rechtslage für den streitgegenständlichen Zeitraum 21. Mai 2019 bis 31. Juli 2019 abzustellen (VGH BW, U.v. 23.2.2024 – 12 S 775/22 – Rn. 32 m.w.N.).
26
Dem Kläger steht vorliegend ein Anspruch gemäß § 104 SGB X zu. Die Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlage sind erfüllt (1.). Die Leistungsempfängerin hatte im streitgegenständlichen Zeitraum einen deckungsgleichen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form der Schulbegleitung sowohl gegen den Kläger als auch den Beklagten (a), wobei der Kläger als nachrangig Verpflichteter geleistet hat (b). Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass der Kläger das Gebot der rechtzeitigen Weiterleitung nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX oder die Entscheidungsfrist nach § 14 Abs. 2 SGB IX nicht beachtet hat (2.). Die Gewährung der Schulbegleitung war zudem eine notwendige und geeignete Maßnahme (3.).
27
1. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist gemäß § 104 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X).
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a) Die Leistungsempfängerin hatte sowohl gegen den Kläger als auch gegen den Beklagten einen Leistungsanspruch.
29
Der Beklagte war gemäß § 35a SGB VIII zur Leistung verpflichtet. Kinder oder Jugendliche haben demnach Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
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Die Leistungsempfängerin war – zwischen den Parteien auch unstreitig – von einer seelischen Störung betroffen, § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII.
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Anders als der Beklagte meint, war sie auch mindestens im schulischen Bereich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt bzw. bestand diesbezüglich ein Risiko, § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII.
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Das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung als unbestimmter Rechtsbegriff ist gerichtlich voll überprüfbar; auf Seiten des Jugendamtes besteht insoweit kein Beurteilungsspielraum (stRspr; vgl. NdsOVG, B.v. 7.2.2025 – 2 ME 225/24 – juris Rn. 19).
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Eine Teilhabebeeinträchtigung liegt vor allem dann vor, wenn dem behinderten jungen Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in sozialer, schulischer oder beruflicher Hinsicht erschwert ist, mithin die Integrationsfähigkeit des jungen Menschen beeinträchtigt ist. Hierfür genügt, wenn sich die Störung in einem der relevanten Lebensbereiche auswirkt. Allerdings muss die seelische Störung nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung erwarten lässt und damit eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschreitet (bzgl. § 35a SGB VIII: BVerwG, U.v. 26.11.1998 – 5 C 38/97 – juris Rn. 15 f.). Ein „massives“ Teilhaberisiko – wie vom Beklagten und Teilen der Literatur und Rechtsprechung gefordert wird – ist dabei nicht zu fordern (vgl. VG München, U.v. 13.9.2023 – M 18 K 19.1088 – juris Rn. 45 mit Hinweis auf VG Hannover, U.v. 10.2.2012 – 3 A 2962/11 – juris Rn. 29 ff. m.w.N.).
34
In einer Stellungnahme vom 24. März 2019 beschreibt die Montessorischule G. die Auffälligkeiten von S. dahingehend, dass ihre Verarbeitungsgeschwindigkeit deutlich verlangsamt sei und es ihr in allen Lernbereichen schwerfalle, einen Zuwachs zu erreichen. S. brauche sehr häufig individuelle Hilfestellungen und Erklärungen, um die Arbeitszeit zielgerichtet nutzen zu können. Es sei ihr kaum möglich, besprochene Inhalte und Aufgabenstellungen selbständig und in keiner Eins-zu-eins-Betreuung zu bearbeiten. Sie sei gut in der Lerngruppe integriert. Regelmäßig erlebe man sie allerdings in einem Überforderungs- bzw. Belastungszustand, der sie weinerlich bzw. hysterisch werden lasse. Dabei lasse sich S. schwer beruhigen oder weine und verstocke. Dies führe oft zu einem Vermeidungsverhalten. Als Beispielsituationen könnten genannt werden: Konfliktsituationen von Mitschülern und Fehldeutung von Verhaltensweisen in Unterricht und Pause, komplexere Arbeitsaufträge (die sie nach intensiver Begleitung durchaus stimmig bewältige), Situationen im Sozialgefüge der Klasse, die sie nicht richtig einordnen könne. Das Lernangebot sei für S. stimmig. Für eine zielgerichtete Weiterarbeit sei immer eine Eins-zu-eins-Betreuung nötig. Eine individuelle Schulbegleitung sei nötig, um S. auf längerfristige Sicht eine gewinnbringende Beschulung und Inklusion zu ermöglichen. Der Schulstart sei sehr gelungen und die Integration in der Gruppe super. Aufgrund der geistigen und entwicklungsbedingten Voraussetzungen werde aber steigender Handlungsbedarf gesehen.
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Diesen Ausführungen entspricht die Darstellung der Praxis für Osteopathie, Ergotherapie und Naturheilkunde V. vom 21. Februar 2019. Durch ihre hohe Sensibilität sei S. schnell reizüberflutet und neige zu Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten. S. müsse zusätzliche Energie aufwenden, um den Anforderungen im Schulalltag gerecht zu werden. Gelinge die Fokussierung auf die Aufgabe nicht ausreichend, so dass es zu Misserfolgen komme, entstünden bei S. schnell Frustration und negative Auswirkungen auf das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Es komme zu Versagensängsten und herabgesetzter Eigenmotivation. S. reagiere häufig mit ablehnendem und vermeidendem Verhalten, was die effektive Teilnahme am Unterricht zusätzlich erschwere. S. müsse dabei unterstützt werden, sich trotz der vielen Reize im Klassenzimmer auf die Aufgaben und Lehrinhalte im Unterricht zu fokussieren und durch erhöhte Aufmerksamkeit und Verarbeitung der Lehrinhalte ihre Leistungen zu verbessern. Auch könne eine gezielte pädagogische Intervention beim Umgang mit Defiziten mit dem Kind helfen und dazu beitragen, Frustration, Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls, Ängste und Vermeidungsverhalten vorzubeugen und durch positives Erleben mehr Selbstvertrauen zu gewinnen. Dadurch werde wiederum die aktive und effektive Teilnahme am Unterricht sowie die psychosoziale Entwicklung insgesamt gefördert.
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Das Gutachten des SPZ T. vom 21. Mai 2019 weist insbesondere auf fehlende Eigenständigkeit beim Arbeiten und in der Organisation von Aufgaben, zunehmende Leistungsverweigerung und Frustration hin und empfiehlt dringend eine Einzelbegleitung u.a. zur Entwicklung eines angemessenen Selbstwerts, wodurch eine weitere Beeinträchtigung der Teilhabe vermieden werden könne.
37
Die in den verschiedenen Stellungnahmen genannten Hindernisse in der sozialen Interaktion und Schwierigkeiten durch geringes Selbstvertrauen und geringe Frustrationstoleranz mit der Folge Vermeidungsverhalten sprechen deutlich für ein erhebliches Teilhaberisiko bei der Leistungsempfängerin im streitgegenständlichen Zeitraum zumindest im schulischen Bereich. Das Gericht folgt daher der Einschätzung des Fachdienstes des Klägers in seiner Stellungnahme vom 14. Juni 2019, welcher ausführt, dass sich die Auffälligkeiten der Leistungsempfängerin in einer sehr geringen Frustrationstoleranz, häufigen Belastungs- und Überforderungszuständen, Konzentrationsproblemen sowie Vermeidungsverhalten infolge von Versagensängsten und Misserfolgserwartungen bei Überforderung und Misserfolgen zeigten, wodurch die effektive Teilnahme am Unterricht erschwert werde.
38
Gleichzeitig waren die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in der bis 31. Dezember 2019 geltenden Fassung (im Folgenden a.F.) erfüllt, so dass auch der Kläger zur Leistung verpflichtet war. Nach dieser Vorschrift erhielten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.
39
Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Gemäß Satz 2 liegt eine Beeinträchtigung nach Satz 1 vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Nach der Legaldefinition des bis zum 31. Dezember 2019 geltenden (und seither gemäß § 99 Abs. 4 Satz 2 SGB IX fortgeltenden) § 3 Eingliederungshilfeverordnung (i.V.m. § 60 SGB XII) sind seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zur Folge haben können, körperlich nicht begründbare Psychosen, seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen, Suchtkrankheiten oder Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Wesentlichkeit ist wertend zu betrachten, wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt (vgl. Kellner, in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 77. Edition Stand: 1.6.2025, § 99 SGB IX Rn. 5 m.w.N.).
40
S. litt an seelischen Beeinträchtigungen, die zu einer wesentlichen Teilhabebeeinträchtigung bzw. einem Risiko diesbezüglich führten, vgl. oben. Im Übrigen wären im Falle, dass die (drohende) Teilhabebeeinträchtigung nicht als wesentlich i.S.v. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. einzustufen wäre, die Voraussetzungen des Ermessensanspruchs nach § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB XII a.F. erfüllt gewesen.
41
S. hatte somit sowohl gegen den Beklagten als auch gegen den Kläger einen Anspruch.
42
b) Der Beklagte war im streitgegenständlichen Hilfezeitraum vorrangig zur Gewährung von Hilfe gemäß § 35a SGB VIII verpflichtet.
43
Nicht ausschlaggebend ist dafür jedoch die vom Kläger im Schreiben an den Beklagten vom 25. Juni 2019 herangezogene Kooperationsvereinbarung zwischen dem Kläger und dem Beklagten. Wie das Gericht bereits mehrfach rechtskräftig entschieden hat, ist diese Kooperationsvereinbarung aufgrund des Verstoßes gegen die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen unwirksam (vgl. zuletzt: VG München, B.v. 30.8.2024 – M 18 E 24.4980 – juris).
44
Vielmehr ist ausschließlich auf die gesetzliche Regelung in § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII in der Fassung vom 11. September 2012 (im Folgenden: a.F.) abzustellen, wonach Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe den Leistungen nach dem SGB XII (a.F.) vorgehen. Die hiervon abweichende Regelung in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII a.F., nach der Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII a.F. für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vorgehen, ist vorliegend für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht erfüllt.
45
Denn im streitgegenständlichen Zeitraum vom 21. Mai 2019 bis 31. Juli 2019 ist davon auszugehen, dass bei der Leistungsempfängerin keine geistige Behinderung (mehr) gegeben war.
46
Das Vorliegen einer geistigen Behinderung insbesondere in Abgrenzung zur einer „bloßen Lernbehinderung“ ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung entsprechend der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases: ICD-10) anhand des IQ festzustellen und regelmäßig bei einem IQ unter 70 anzunehmen (OVG NRW, B.v. 26.4.2022 – 12 A 2668/19 – juris, Ls. 1 sowie Rn. 17 ff.; vgl. auch SG Augsburg, U.v. 11.1.2024 – S 6 SO 155/22 – juris Rn. 53).
47
Mit Gutachten vom 21. Mai 2019 stellte das SPZ T. neben weiteren Diagnosen eine (bloße) Lernbehinderung (IQ = 75) fest, während es im Gutachten vom 25. September 2017 noch einen IQ von 65 festgestellt hatte. Nach den genannten Grundsätzen war damit jedenfalls ab 21. Mai 2019 keine geistige Behinderung (mehr) vorliegend, sodass es beim Vorrang der Jugendhilfeleistungen vor solchen der Eingliederungshilfe nach SGB XII a.F. bleibt.
48
Dass die Beteiligten erst später Kenntnis von dem Gutachten vom 21. Mai 2019 erlangten, ändert nichts daran, dass schon mit Fertigstellung des Gutachtens der Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII a.F. nur noch auf die seelische Behinderung und nicht mehr auf die geistige Behinderung gründen konnte. Denn relevant ist insoweit nicht die Kenntnis der Leistungsträger, sondern das tatsächliche Vorliegen der Behinderung. Es genügt, dass in der Person des Berechtigten die wesentlichen und unverzichtbaren Grundvoraussetzungen des Anspruchs auf eine Leistung gegen den auf Erstattung in Anspruch genommenen Träger vorliegen (vgl. Weber, in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 77. Edition Stand: 1.6.2025, § 104 Rn. 46a).
49
Der Kläger hat daher gegen den vorrangig zur Leistung verpflichteten Beklagten einen Kostenerstattungsanspruch.
50
2. Dieser Anspruch ist nicht aufgrund von Verstößen des Klägers gegen § 14 SGB IX ausgeschlossen.
51
Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX muss ein Rehabilitationsträger, wenn Leistungen zur Teilhabe beantragt werden, innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm feststellen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung zuständig ist (…). Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX muss er, wenn er bei der Prüfung feststellt, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zuleiten.
52
Das Gesetz trifft keine Regelung, in welchem Verhältnis § 14 SGB IX zu dem System der Erstattungsansprüche nach §§ 102 ff SGB X steht.
53
Nach der herrschenden Rechtsprechung muss das Ausgleichssystem der §§ 102 ff. SGB X und somit auch § 104 SGB X jedoch den speziellen Anforderungen des § 14 SGB IX angepasst werden. Denn der von diesen Vorschriften verfolgte Zweck der raschen Klärung von Zuständigkeiten zur Verhinderung von Nachteilen des gegliederten Sozialsystems für den behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen gilt für das Außenverhältnis (behinderter Mensch – Rehabilitationsträger). Im Innenverhältnis darf dies aber nicht zu einer Lastenverschiebung ohne Ausgleich führen, die die Grundlagen des gegliederten Sozialsystems in Fragen stellen würde. Mit der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis zum Hilfebedürftigen unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems korreliert deshalb ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der sicherstellt, dass der Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit im Rahmen von § 14 SGB IX bejahen kann, ohne allein deshalb verpflichtet zu sein, diese Lasten auch endgültig tragen zu müssen. Denn dies hat der Gesetzgeber nicht bezweckt. Zwar ist der erstangegangene Träger anders als der zweitangegangene keiner „aufgedrängten Zuständigkeit“ aus § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX ausgesetzt, sondern kann seine Zuständigkeit prüfen und verneinen. Es sind aber auch Fallkonstellationen denkbar, in denen sich der erstangegangene Rehabilitationsträger trotz des ihm eingeräumten Prüfungs- und Ablehnungsrechts einem Leistungszwang ausgesetzt sehen kann, der mit demjenigen des zweitangegangenen Trägers vergleichbar ist. Es ist daher danach zu unterscheiden, aus welchem Grund die Weiterleitung unterblieben ist. Hat der Träger geleistet, obwohl ein anderer Rehabilitationsträger nach dem Ergebnis seiner Prüfung zuständig war, kann er keine Erstattung beanspruchen, da er zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingegriffen hat. Hat der Träger dagegen die Zuständigkeit geprüft und bejaht, muss er im Nachhinein zu einer Korrektur im Rahmen der Erstattung befugt sein. Sonst wäre er gehalten, schon bei geringstem Verdacht einen Rehabilitationsantrag weiterzuleiten, um die Zuständigkeitsproblematik ggf. im Erstattungsstreit austragen zu können und nicht automatisch von jeglicher Erstattungsmöglichkeit ausgeschlossen zu sein. Das widerspräche sowohl dem Regelungszweck, zu einer schnellen Zuständigkeitsklärung gegenüber dem behinderten Menschen zu kommen, als auch dem Ziel, das gegliederte Sozialsystem zu erhalten. Auch in der weiteren Fallgruppe, dass die Prüfung des erstangegangenen Rehabilitationsträgers innerhalb der Frist nicht zu einem greifbaren Ergebnis geführt hat und der angegangene Träger deshalb im Interesse der Beschleunigung eine Weitergabe des Rehabilitationsantrags unterlassen hat, ist insoweit Kostenerstattung zu erwägen (BayVGH, U.v. 30.7.2019 – 12 BV 16.2545 – juris Rn. 46; U.v. 30.7.2018 – 12 ZB 18.175 – juris Rn. 3, jeweils unter Verweis auf U.v. 7.10.2013 – 12 B 11.1886 – juris Rn. 21 ff.; vgl. LSG Hamburg, B.v. 30.6.2022 – L 3 R 135/18 – juris Rn. 40; LSG BW, U.v. 30.4.2021 – L 12 AL 3871/19 – juris Rn. 45; VG München, U.v. 17.4.2024 – M 18 K 19.1530 – juris Rn. 61 ff.)
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Vorliegend hat der Kläger den Antrag i.S.v. § 14 Abs. 1 SGB IX am 8. April 2019 erhalten. Der Antrag stützte sich auf ein fast zwei Jahre altes ärztliches Gutachten, das den IQ von 65 angab, und auf ein kinderärztliches Attest, aus dem ersichtlich war, dass eine aktuelle IQ-Testung beim SPZ T. stattgefunden hatte. Vor dem Hintergrund, dass seit Erstellung des vorgelegten Gutachtens ein erheblicher Zeitraum verstrichen war und die Erstellung eines aktuellen Gutachtens angekündigt war, hat der Kläger sachgerecht zur Prüfung seiner Zuständigkeit die Vorlage des aktuellen Gutachtens – soweit schon existent – gefordert. Dieses ging erst am 3. Juni 2019 und damit nach Ablauf der Zweiwochenfrist des § 14 Abs. 1 SGB IX am 22. April 2019 ein. Zu diesem Zeitpunkt sah sich der Kläger somit zu Recht an der Weiterleitung an den Beklagten gehindert und sich selbst gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der Pflicht zur Bedarfsermittlung und Leistung. Seine ordnungsgemäßen Bemühungen zur Zuständigkeitsprüfung hatten innerhalb der Zweiwochenfrist kein greifbares Ergebnis gebracht. Dies entspricht der in obiger Erläuterung zuletzt dargestellten Fallgruppe, in der die Rechtsprechung zu Recht keinen Ausschluss des Kostenerstattungsanspruchs wegen Missachtung der Weiterleitungspflicht des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX annimmt.
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Der Argumentation des Beklagten, der Kläger habe zielgerichtet in die Zuständigkeit des Beklagten eingegriffen, da ihm am Tag seiner Entscheidung (25. Juni 2019) klar gewesen sei, dass seine Zuständigkeit nicht gegeben gewesen sei, da die Frist des § 14 SGB IX bereits weit überschritten gewesen sei, kann somit nicht gefolgt werden. Der Kläger hat zwar in Kenntnis seiner nachrangigen Zuständigkeit geleistet, dies erfolgte aber nicht als zielgerichteter Eingriff in eine fremde Zuständigkeit, sondern weil seine Zuständigkeitsermittlungen innerhalb der Zweiwochenfrist zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hatten und er sich damit zu Recht gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der Pflicht sah.
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Auch die weitere Argumentation des Beklagten, der zielgerichtete Eingriff des Klägers in die fremde Zuständigkeit liege darin, dass dieser, nachdem er den Antrag nicht weitergeleitet habe, nach § 14 Abs. 2 SGB IX nicht unverzüglich eine Entscheidung getroffen habe, ändert hieran nichts. Wie oben ausgeführt, dienen die Fristen des § 14 SGB IX der Beschleunigung des Verfahrens mit dem Ziel, dem Leistungsempfänger möglichst schnell Hilfe zu gewähren. Auf der Ebene der Kostenerstattung dagegen kann sich der Beklagte nicht darauf berufen, dass der Kläger nicht innerhalb der Frist des § 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX geleistet hat.
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3. Die Gewährung von Schulbegleitung war sowohl nach dem Kinder- und Jugendhilferecht als auch nach dem Eingliederungshilferecht des SGB XII a.F. notwendig und geeignet.
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Die Erstattung nach § 104 SGB X setzt voraus, dass der nachrangig verpflichtete Leistungsträger seine Leistung als zuständiger Träger entsprechend dem für ihn geltenden Leistungsrecht, also ungeachtet des Nachranges seiner Leistungsverpflichtung, rechtmäßig erbracht hat (Kater in Rolfs/Körner/Kransey/Mutschler, beck-online.Großkommentar, Stand: 15.11.2023, § 104 SGB X Rn. 32 m.w.N.; Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB X, 3. Aufl. 2023, Stand: 24.11.2023, § 104 Rn. 28). Welche Leistungen der vorrangig verpflichtete Leistungsträger an den Leistungsberechtigten zu erbringen hat, beurteilt sich wiederum nach dem für ihn geltenden Recht (Kater a.a.O. Rn. 55). Verfahrensvorschriften nach dem SGB VIII musste der Kläger als nachrangig verpflichteter Leistungsträger aber nicht beachten. Die Hilfe musste nur den materiellen Anforderungen des Kinder- und Jugendhilferechts entsprechen (BayVGH, B.v. 30.10.2013 – 12 ZB 12.1249 – juris Rn. 21), d. h. sie musste vor allem erforderlich und geeignet sein. Im Zuge des Erstattungsstreits ist – ohne Bindung an das Erfordernis der sozialpädagogischen Fachlichkeit durch den leistenden Sozialhilfeträger – anhand der vorliegenden Bewertungen durch verschiedene Stellen zu klären, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vorlagen (BayVGH, B.v. 30. 12.2024 – 12 ZB 23.1737 – juris Rn. 19).
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Es bestehen keine Zweifel an der Notwendigkeit und Geeignetheit der gewährten Maßnahme.
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Insbesondere kann der Beklagte mit seinem Vortrag, die Hilfe sei nicht geeignet, denn Schulbegleitung sei nicht dafür gedacht, individuelle Lernhilfe zu sein, stattdessen seien der Wechsel in eine Förderschule und eine medikamentöse Einstellung als sinnvoll anzusehen, die vorliegende Notwendigkeit und Geeignetheit der Gewährung der Schulbegleitung nicht in Frage stellen.
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Die Montessorischule führte mit Stellungnahme vom 24. März 2019 aus, das dortige Lernangebot sei für die Leistungsempfängerin stimmig. In der Lernumgebung könnten ihr Inhalte sehr vielseitig und individuell angepasst angeboten und nähergebracht werden. Durch die vielseitigen Arbeits- und Sozialformen sei sie in einem für sie sehr stimmigen Maße gefordert. Für eine zielgerichtete Weiterarbeit sei allerdings immer eine Eins-zu-eins-Betreuung nötig. Konfliktsituationen und komplexere Arbeitsaufträge (die sie nach intensiver Begleitung durchaus bewältige) sowie Situationen im Sozialgefüge der Klasse könnten von ihr nicht allein bewältigt werden. Im ärztlichen Bericht vom 21. Mai 2019 ist ausdrücklich ausgeführt, Ziel der Einzelbegleitung wäre neben einer Verbesserung der Leistungen auch eine Verbesserung der Selbständigkeit beim Lernen und beim Organisieren von Aufgaben sowie die Entwicklung eines angemessenen Selbstwerts. Der Fachdienst beim Kläger wies in der Stellungnahme vom 14. Juni 2019 darauf hin, dass durch die Schulbegleitung bestehende Ängste, Frustration und Selbstzweifel überwunden werden sollten und dadurch eine aktive Teilhabe am Schulalltag einer Regelschule ermöglicht werden solle. Diese fachlichen Aussagen zeigen deutlich, dass die Schulbegleitung nicht als Eingriff in pädagogische Aufgaben, sondern zur Ermöglichung der Teilnahme am Unterricht und des Eingebundenseins in den Klassenverband notwendig und geeignet war.
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Hingegen kann der Beklagte weder darauf verweisen, dass primär eine andere Schulart bzw. eine medikamentöse Behandlung der Leistungsempfängerin vorzuziehen sei. Denn der Träger der Jugendhilfe hat den bestehenden Eingliederungshilfebedarf anhand der tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen und kann nicht auf einen fiktiven Sachverhalt abstellen, aus dem sich möglicherweise kein entsprechender Bedarf mehr ergeben würde (vgl. LSG Nds-Bremen, u.v. 8.9.2022 – L 8 SO 91/18 – juris Rn. 28). Zudem handelt es sich bei den zwei von dem Beklagten genannten „Alternativen“ nicht um Leistungen der Jugendhilfe, so dass er zwar beratend die Inanspruchnahme solcher weiterer bzw. anderer Hilfen vorschlagen kann, er kann hierauf jedoch nicht als Alternativangebote verweisen. Vielmehr obliegt die Entscheidung über die Schulwahl ebenso wie eine medikamentöse Behandlung ausschließlich den Sorgeberechtigten bzw. ggf. der Schulverwaltung (vgl. VG München, B.v. 3.7.2019 – M 18 E 19.1542 – juris Rn. 31). Sollte das Jugendamt bei Verweigerung einer solchen, von dem Jugendamt als vorrangig angesehenen Maßnahme eine Kindeswohlgefährdung sehen, wäre das Familiengericht nach § 8a SGB VIII einzuschalten. Andernfalls hat das Jugendamt diese Entscheidungen zu akzeptieren und dem Hilfebedarf zu Grunde zu legen (vgl. BayVGH, U.v. 24.10.22 – 12 CE 22.1977 – juris Rn. 19; VG München, B.v. 7.9.2023 – M 18 E 23.3151 – juris Rn. 53).
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An der Angemessenheit des vom Kläger gewährten Stundenumfangs von 26 Stunden inkl. einer Stunde indirekte Leistung und der Kostenhöhe von 4.636,52 EUR bestehen keine Zweifel.
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Der geltend gemachte Erstattungsanspruch wurde auch entsprechend § 111 SGB X mit dem Schreiben des Klägers vom 25. Juni 2019 ausreichend geltend gemacht und ist nicht verjährt, § 113 SGB X.
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Der Anspruch auf Prozesszinsen ergibt sich in entsprechender Anwendung von §§ 291 Satz 1 und Satz 2, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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Der Klage war somit vollumfänglich stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.