Titel:
			Kostenerstattung (Stattgabe), Vorrang-Nachrang-Verhältnis, Begriff der geeigneten Wohnform, Ambulantes betreutes Einzelwohnen, Hilfe zur Erziehung
			Normenketten:
			SGB X § 104
			SGB X § 102
			SGB VIII § 10
			SGB VIII § 19
			SGB VIII § 27
			SGB VIII § 31
			Schlagworte:
			Kostenerstattung (Stattgabe), Vorrang-Nachrang-Verhältnis, Begriff der geeigneten Wohnform, Ambulantes betreutes Einzelwohnen, Hilfe zur Erziehung
			Fundstelle:
			BeckRS 2025, 26028
		 
		 
		Tenor
		
			
			I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für den Hilfefall S. in dem Zeitraum zwischen dem 3. April 2013 und dem 31. Juli 2013 in Höhe von 3.195,80 EUR zu erstatten.
		 
		
			
			II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
		 
		
			
			III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
		 
		Tatbestand
		
			1
			Der Kläger, ein Träger der Eingliederungshilfe nach SGB IX bzw. SGB XII a.F. begehrt von dem Beklagten, einem Jugendhilfeträger, die Erstattung von Kosten, die er für das betreute Einzelwohnen für die Leistungsempfängerin S. im Zeitraum vom 3. April 2013 bis 31. Juli 2013 aufgewendet hat.
		 
		
			2
			Die am …  1982 geb. Leistungsempfängerin S. hatte zum maßgeblichen Zeitpunkt eine seelische Erkrankung (schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2 G) sowie eine Essstörung (ICD-10: F 50.9 G)). Sie ist Mutter zweier Töchter, geb. am … 2006 und am …  2008, und wohnte mit diesen seit dem … Juli 2012 in einer von ihr angemieteten Wohnung im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten.
		 
		
			3
			Am 3. April 2013 beantragte der Leistungserbringer C. beim Kläger die Übernahme von Kosten für das durch C. zu erbringende betreute Einzelwohnen ab dem 3. April 2013 in der angemieteten Wohnung der Leistungsempfängerin.
		 
		
			4
			Mit Schreiben vom 24. April 2013 leitete der Kläger die Antragsunterlagen an den Beklagten weiter und bat um Erledigung in eigener Zuständigkeit, da der Fall nach § 19 SGB VIII zu behandeln sei.
		 
		
			5
			Der Beklagte wies den Antrag mit Schreiben vom 14. Mai 2013 zurück, da aufgrund der von der Leistungsempfängerin S. selbst angemieteten Wohnung keine entsprechende Einrichtung der Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII vorläge und daher keine Kostenübernahme erfolge.
		 
		
			6
			Laut Bericht eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie zur Einleitung von Maßnahmen/Hilfen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII als Vorlage beim Sozialträger vom 10. Juni 2013 lag bei der Leistungsempfängerin vorrangig eine seelische/psychische Behinderung vor mit den Diagnosen ICD-10: F 32.2G und F 50.9G. Sie benötige betreutes Einzelwohnen mit intensiver psychosozialer Unterstützung bei der Betreuung der Töchter sowie der Tagesstrukturierung.
		 
		
			7
			In dem Hilfeplanungs-, Entwicklungs- und Abschlussberichtsbogen des Leistungserbringers C. vom 17. Juni 2013 (HEB-Bogen Teil A) wurde zur Beschreibung der aktuellen Situation der Leistungsempfängerin ausgeführt, dass die Leistungsempfängerin aufgrund „psychischer Instabilität“ immer wieder in Abhängigkeitsbeziehungen gerate. Besonders in Beziehung zu ihren Kindern und ihrer Rolle als Mutter lasse sie sich durch Familienangehörige leicht beeinflussen. Als Rahmenziele für den Planungszeitraum wurde neben der Unabhängigkeit in bestehenden Beziehungen auch die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit in der Rolle als Mutter festgehalten. Der Leistungsempfängerin falle es schwer, ihren Alltag zu organisieren und sie benötige Unterstützung und Begleitung, insbesondere auch bei der Gesundheitssorge der Kinder.
		 
		
			8
			Die Leistungsempfängerin zog wohl am 1. August 2013 zu ihrem Lebensgefährten außerhalb des örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. In dem Abschlussberichtsbogen des Leistungserbringers C. vom 17. Juni 2013 wurde insbesondere ausgeführt, dass der Kontakt zu dem dann örtlich zuständigen Leistungserbringer bereits hergestellt worden sei, um das betreute Wohnen von dort weiterzuführen.
		 
		
			9
			Mit Bescheid vom 8. August 2013 gewährte der Kläger der Leistungsempfängerin S. im Zeitraum vom 3. April 2013 bis zunächst 31. Juli 2013 Leistungen der Eingliederungshilfe als vorläufige Leistungen gem. § 43 SGB I in Form der Übernahme der Kosten für betreutes Einzelwohnen zu einem Tagessatz von 26,09 EUR durch den Leistungserbringer C.
		 
		
			10
			Mit Schreiben vom selben Tage meldete der Kläger beim Beklagten einen Erstattungsanspruch in Bezug auf die bewilligten Leistungen ab dem 3. April 2013 gestützt auf § 102 SGB X an. Der Kläger gewähre die Kosten für das betreute Einzelwohnen der Leistungsempfängerin S. als erstangegangener Leistungsträger als vorläufige Leistung gemäß § 43 SGB I.
		 
		
			11
			Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 26. August 2013 den Kostenerstattungsanspruch gem. § 102 SGB X ab.
		 
		
			12
			Mit Schreiben vom 9. Oktober 2014 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht München (Az. * … … …, vormals * … … …*) mit dem Antrag:
		 
		
			13
			Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für die Leistungsberechtigte S. in der Zeit vom 3. April 2013 bis 31. Juli 2013 in Höhe von 3.195,80 EUR erbrachten Sozialhilfeaufwendungen zu erstatten.
		 
		
			14
			Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein Anspruch des Klägers nach § 102 SGB X bestehe, da die Leistungsberechtigte S. gemäß § 19 SGB VIII einen vorrangigen Anspruch auf Jugendhilfeleistungen gegen den Beklagten habe. Die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII lägen vor. Die Leistungsempfängerin habe allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen und werde gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut, weil sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung diese Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes benötige. Insbesondere sei auch die ambulante Betreuung in der eigenen Wohnung der Leistungsempfängerin von § 19 SGB VIII erfasst.
		 
		
			15
			Mit Schriftsatz vom 6. November 2014 beantragte der Beklagte,
		 
		
		
			17
			Zur Begründung wurde vorgetragen, dass im streitgegenständlichen Fall keine Leistung in einer geeigneten Wohnform nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erbracht worden sei. Eine privat angemietete Wohnung sei nicht ausreichend, da diese keine Einbindung in eine fachliche, organisatorische oder personelle Infrastruktur aufweise, um der Prägung der Leistung gerecht zu werden.
		 
		
			18
			Das beim Sozialgericht geführte Verfahren wurde mit Beschluss vom 1. Oktober 2019 an das Verwaltungsgericht München verwiesen, da der Kläger keine Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 6. Kapitel des SGB XII, sondern Leistungen nach dem SGB VIII erbracht habe.
		 
		
			19
			Mit Schriftsatz vom 10. April 2025 führte der Kläger aus, dass er gegen den Beklagten einen Anspruch nach § 104 SGB X habe, da gemäß § 10 Abs. 4 S. 1 SGB VIII Leistungen nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem SGB XII, hier der erbrachten Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX a.F. vorgingen.
		 
		
			20
			Der Kläger verzichtete mit Schriftsatz vom 21. August 2024, der Beklagte mit Schriftsatz vom 22. August 2024 auf mündliche Verhandlung.
		 
		
			21
			Mit gerichtlichem Schreiben vom 23. Juni 2025 wurden die Parteien darauf hingewiesen, dass nach vorläufiger Beurteilung der Sach- und Rechtslage, das betreute Einzelwohnen im vorliegenden Fall eine Jugendhilfemaßnahme nach § 27 SGB VIII i.V.m.§ 31 SGB VIII darstellen könnte. Eine Stellungnahme hierauf erfolgte nicht.
		 
		
			22
			Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von den Parteien vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
		 
		Entscheidungsgründe
		
			23
			Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
		 
		
			24
			Der Verwaltungsrechtsweg ist – auch entsprechend dem insoweit bindenden Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts München vom 1. Oktober 2019 – gegeben, weil sich ein etwaiger Erstattungsanspruch vorliegend nicht nach § 102 SGB X, sondern ausschließlich nach § 104 SGB X richten kann (s.u.) und damit der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet ist.
		 
		
			25
			Die zulässige Leistungsklage ist begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der von ihm im streitgegenständlichen Zeitraum vom 3. April 2013 bis 31. Juli 2013 aufgewendeten Kosten für das betreute Einzelwohnen der Leistungsempfängerin S. in Höhe von insgesamt 3.195,80 EUR.
		 
		
			26
			Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände (VGH BW, U.v. 23.2.2024 – 12 S 775/22 – juris Rn. 32).
		 
		
			27
			Als Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Kostenerstattung kommt vorliegend allein § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X (in der im streitgegenständlichen Zeitraum gültigen Fassung vom 11. September 2012 – im Folgenden: a.F.) in Betracht.
		 
		
			28
			Hingegen ist der Kostenerstattungsanspruch nach § 102 SGB X, auf den sich der Kläger zunächst berufen hat, nicht einschlägig. Der Kläger hat als Eingliederungshilfeträger nach §§ 53, 54 SGB XII in der bis 31. Dezember 2019 geltenden Fassung (im Folgenden a.F.) die Leistung originär und nicht lediglich vorläufig erbracht. Eine vorläufige Leistung erfordert, dass ein Leistungsanspruch nur gegen einen Leistungsträger besteht, zwischen mehreren Leistungsträgern aber streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. Es muss für § 102 SGB X folglich das Bestehen eines negativen Kompetenzkonflikts oder einer sonstigen Unklarheit über die Zuständigkeit für die endgültige Leistungserbringung vorliegen. Vor diesem Hintergrund muss der erstattungsberechtigte Leistungsträger geleistet haben (BayVGH, B.v. 17.2.2014 – 12 C 13.2646 – juris Rn. 18; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 114 SGB X (Stand: 01.12.2017), Rn. 26 ff.). Vorliegend stand der Leistungsempfängerin S. jedoch auch gegenüber dem Kläger ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach SGB XII a.F. zu; was inzwischen auch vom Kläger selbst nicht mehr in Zweifel gezogen wird (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 10. April 2025). Irrelevant ist insoweit auch, dass der Kläger im Bewilligungsbescheid vom 8. August 2013 von einer vorläufigen Leistung nach § 43 SGB I ausgegangen ist (vgl. VG München, U.v. 30.7.2025 – M 18 K 20.6968 – juris Rn. 34 m.w.N.).
		 
		
			29
			Ein möglicher Kostenerstattungsanspruch des nachrangigen Leistungsträgers kann sich nicht aus § 102 SGB X, sondern ausschließlich nach § 104 SGB X ergeben.
		 
		
			30
			Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und – wie hier – weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
		 
		
			31
			Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 26).
		 
		
			32
			Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII a.F. sieht einen grundsätzlichen Vorrang der Jugendhilfe vor Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch a.F., unter die hier die eingliederungshilferechtlichen Leistungen des Klägers fallen, vor. Zwar bestand keine vorrangige Leistungspflicht des Beklagten nach § 19 SGB VIII, jedoch eine solche nach den §§ 27, 31 SGB VIII.
		 
		
			33
			1. Die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII (i.d.F. vom 11. September 2012 – im Folgenden: a.F.) sind nicht erfüllt.
		 
		
			34
			Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F. sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
		 
		
			35
			Vorliegend stellte das intensiv betreute Einzelwohnen der Leistungsempfängerin bereits keine geeignete Wohnform i.S.v. § 19 SGB VIII a.F. dar.
		 
		
			36
			In der Praxis besteht hinsichtlich der von § 19 SGB VIII erfassten „Wohnform“ je nach Betreuungsintensität und abhängig vom Hilfebedarf der Mütter/Väter eine Vielfalt unterschiedlicher Konzeptionen und Modelle, die auch Wohnformen einbezieht, die in stärkerem Umfang auf Verselbstständigung und selbstverantwortliche Lebensführung ausgerichtet sind. Grundsätzlich kann daher zwar im Einzelfall auch die Betreuung im Rahmen des betreuten Einzelwohnens eine geeignete Wohnform i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII darstellen. Allerdings genügt hierfür grundsätzlich nicht eine lediglich ambulante Betreuung bei eigenverantwortlicher Lebensführung in einer privat angemieteten Wohnung. Erforderlich ist vielmehr die organisatorische, fachliche und personelle Anbindung der Unterkunft und Betreuung an das Hilfesystem eines Leistungserbringers in Gestalt eines „institutionalisierten Wohnens mit Kind“. Die Wohnung muss insoweit also als dezentraler Teil einer Einrichtung dieses Leistungserbringers zu qualifizieren sein. Dabei müssen auch Angebote der gezielten Förderung für in einer solchen Einrichtung lebenden Kinder bereitgehalten werden. Hierzu gehören insbesondere altersgerechte Spielzeuge und Spielräume, Gruppenangebote für Kinder, aber auch Eltern-Kind-Angebote sowie kreative und sportliche Aktivitäten (vgl. VG München, U.v. 10.11.2021 – M 18 K 17.5671 – juris Rn. 41 m.w.N.; Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 8. Auflage 2022, § 19 SGB VIII, Rn. 8; Schmidt in: BeckOnline Großkommentar, Stand: 1.5.2025, § 19 SGB VIII, Rn. 31 f.; Telscher in: Schlegel/ Voelzke, juris-PK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 19 SGB VIII, Rn. 49 f. und Rn. 61).
		 
		
			37
			Ein solches „institutionalisiertes Wohnen mit Kind“ ist bei dem hier vorliegendem intensiv betreutem Einzelwohnen durch den Leistungserbringer C. nicht gegeben. Der Leistungsempfängerin S. obliegt ihre Lebensführung in ihrer Privatwohnung eigenverantwortlich; durch C. wird lediglich sozialpsychiatrische Betreuung und Begleitung geleistet, die zu vereinbarten Terminen in der eigenen Wohnung der Leistungsempfängerin S. stattfindet, in der die Leistungsempfängerin auch schon vor Beginn der Leistung gewohnt hat. Dies entspricht damit Umfang her nicht der Hilfe, die im Rahmen des § 19 SGB VIII geleistet wird. Vielmehr werden im streitgegenständlichen Fall ausschließlich ambulante Betreuungsleistungen erbracht, ohne dass diese in irgendeiner Form an ein übergeordnetes Hilfesystem gekoppelt wären.
		 
		
			38
			Ein Anspruch der Leistungsempfängerin gegenüber dem Beklagten auf Hilfe nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F. scheidet daher mangels Vorliegen einer entsprechenden Wohnform aus.
		 
		
			39
			2. Allerdings stellt sich die gegenüber der Leistungsempfängerin S. geleistete Hilfe als Hilfe zur Erziehung in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe gemäß § 27 i.V.m. § 31 SGB VIII dar.
		 
		
			40
			a) Bei der Leistungsempfängerin lag ein Hilfebedarf nach § 27 SGB VIII vor.
		 
		
			41
			§ 27 Abs. 1 SGB VIII gewährt dem Personensorgeberechtigten bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Norm setzt demnach das Vorliegen einer erzieherischen Mangellage im Hinblick auf das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen voraus. Ob eine Mangellage vorliegt, bemisst sich daran, ob die Erziehung durch die Eltern dem Kindeswohl entspricht (vgl. Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. (Stand: 13.02.2025), § 27, Rn. 41). Werden die in der konkreten Familiensituation erreichbaren Standards für eine gelungene geistige, körperliche oder seelische Entwicklung des Kindes nicht erreicht und ist dadurch das Kindeswohl gefährdet, liegt ein Erziehungsdefizit vor. Das Defizit ist hierbei nicht am Maßstab eines erzieherischen Optimums (bestmögliche Erfüllung des Kindeswohls), sondern an dem des „erzieherischen Minimums“ (keine Gefährdung des Kindeswohls) zu messen (vgl. Kunkel/Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 27 Rn. 5).
		 
		
			42
			Vorliegend wurde im Sozialbericht vom 17. Juni 2013 des Leistungserbringers eine erhebliche Einschränkung der Leistungsempfängerin in vielen Lebensbereichen festgestellt. In schwierigen Situationen reagiere sie schnell aggressiv, weswegen Konflikte vor allem mit ihren Kindern eskalieren könnten. Die Leistungsempfängerin lasse sich besonders in ihrer Beziehung zu ihren Kindern und in ihrer Rolle als Mutter leicht beeinflussen. Als Rahmenziel für den Planungszeitraum wurden in dem Sozialbericht u.a. die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit in der Rolle als Mutter festgehalten. Sie sei bereit Hilfe anzunehmen, um sich psychisch wieder zu stabilisieren und ihre Lebenssituation und die ihrer Kinder zu verbessern. Ziel sei die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Leistungsempfängerin in ihrer Rolle als Mutter zu stärken sowie einen adäquaten Umgang mit innerfamiliären Konflikten zu finden. Ebenso führt auch der ärztliche Bericht vom 10. Juni 2013 aus, dass die Leistungsempfängerin ein betreutes Einzelwohnen mit intensiver psychosozialer Unterstützung bei der Betreuung der Töchter benötige.
		 
		
			43
			Es ist daher davon auszugehen, dass die Leistungsempfängerin eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht mehr gewährleisten konnte und dadurch ein Erziehungsdefizit vorlag, welches eine (drohende) Gefährdung für die geistige, körperliche oder seelische Entwicklung der beiden Kinder der Leistungsempfängerin S. im Leistungszeitraum darstellte.
		 
		
			44
			b) Das ambulante Einzelwohnen stellt vorliegend eine Form der sozialpädagogischen Familienhilfe im Sinne des § 31 SGB VIII dar.
		 
		
			45
			Gemäß § 31 SGB VIII soll sozialpädagogische Familienhilfe durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Kennzeichnend für diese Hilfemaßnahme ist die in der Regel ambulante Hilfe, die im Umfeld der Familie stattfindet. Die Hilfe ist für sämtliche Mitglieder der (Kern-)Familie konzipiert; der Schwerpunkt liegt aber auf der Arbeit mit den erwachsenen und für die Erziehung verantwortlichen Familienmitgliedern. In den Blick genommen werden Familien mit multiplen Problemen. Rein erzieherische Bedarfe sind daher nicht ausreichend (BeckOGK/Bohnert, 1.8.2025, SGB VIII § 31 Rn. 4, 5, beck-online).
		 
		
			46
			Die Leistungsempfängerin S. war aufgrund ihrer Erkrankung und Überforderung und der daraus resultierenden Erziehungsdefizite nicht mehr in der Lage, eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung ihrer Töchter sicherzustellen. Das betreute ambulante Wohnen stellte dabei eine geeignete und notwendige Hilfe zur Erziehung und Förderung der kindlichen Entwicklung dar. Rahmenziele des gewährten ambulanten Einzelwohnens waren, neben der Betreuung der Leistungsempfängerin S. selbst, auch ausdrücklich, die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der S. in ihrer Rolle als Mutter zu verbessern. Die Leistungsempfängerin reagierte laut Sozialbericht vom 17. Juni 2013 in Konfliktsituationen insbesondere mit den Kindern schnell aggressiv. Zudem belaste der Gesundheitszustand der Kinder und die Krankenhausaufenthalte der jüngeren Tochter die Leistungsempfängerin psychisch, weshalb sie Unterstützung und Begleitung bei der Gesundheitssorge der Kinder benötige. Die psychische Belastung der Leistungsempfängerin mache eine intensive und begleitende Unterstützung erforderlich. Die ambulante Betreuung in der Privatwohnung der Leistungsempfängerin ermögliche eine bedarfsgerechte Unterstützung, um ihre Erziehungsfähigkeit zu stärken und Alltagsprobleme, insbesondere im Umgang mit ihren Kindern, zu bewältigen.
		 
		
			47
			3. Die Leistungsempfängerin hatte dementsprechend sowohl gegenüber dem Kläger als auch gegenüber dem Beklagten einen deckungsgleichen Leistungsanspruch.
		 
		
			48
			Voraussetzung für das Rangverhältnis zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII a.F. ist, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe gegeben und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (stRspr; grundlegend BVerwG; U.v. 19.10.2011 – 5 C 6/11 – juris Rn. 16). Diese Kongruenz der Leistungspflichten ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die vorliegende Hilfe in Form des betreuten ambulanten Wohnens in der eigenen Wohnung ist sowohl Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe als auch Inhalt der Jugendhilfeleistung nach §§ 27 i.V.m. 31 SGB VIII. Beide Leistungspflichten sind hier nicht nur teilweise, sondern vollständig deckungsgleich. Hingegen ist irrelevant, in welchem Bereich der Schwerpunkt der Hilfemaßnahme lag (BayVGH, B.v. 24.2.2014 – 12 ZB 12.715 – juris Rn. 36 m.w.N.).
		 
		
			49
			4. Der Anspruch gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. ist auch nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen, da er vom Kläger gegenüber dem Beklagten rechtzeitig geltend gemacht wurde. Leistung i.S.v. § 111 Satz 1 SGB X ist vorliegend das betreute Einzelwohnen der Leistungsempfängerin S. im Zeitraum vom 3. April 2013 bis zum 31. Juli 2013. Somit begann die Jahresfrist gemäß § 111 SGB X am 1. August 2013 und endete am 31. Juli 2014. Der Kläger leitete den Antrag auf Übernahme der Kosten für das betreute Einzelwohnen bereits am 24. April 2013 und damit schon vor Fristbeginn an den Beklagten weiter. Mit Schreiben vom 8. August 2013 meldete der Kläger bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch der Kosten an. Insoweit ist auch unerheblich, dass der Kläger in seinen Schreiben zur Anmeldung des Kostenerstattungsanspruchs seinen Anspruch nicht auf die Rechtsgrundlage des § 104 SGB X gestützt hat, sondern auf § 102 SGB X. Die falsche Bezeichnung der Rechtsgrundlage ist in Bezug auf die Frist des § 111 SGB X vorliegend unschädlich, da an das Geltendmachen keine überzogenen formalen Anforderungen zu stellen sind. Dem o.g. Schreiben lassen sich hinreichend konkret der Rechtssicherungswille und das Erstattungsbegehren sowie die wesentlichen Umstände des Erstattungsanspruchs entnehmen (vgl. VG München, U.v. 9. Juli 2025 – M 18 K 20.6653 –, Rn. 61, juris, m.w.N.).
		 
		
			50
			Der Umfang des Kostenerstattungsanspruchs beläuft sich nach der vorgelegten Kostenaufstellung auf 3.195,80 €. Anhaltspunkte für einen Fehler in dieser Berechnung sind nicht erkennbar und hat der Beklagte auch nicht geltend gemacht.
		 
		
			51
			Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
		 
		
			52
			Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.