Inhalt

VGH München, Urteil v. 25.07.2025 – 24 BV 24.412
Titel:

Waffenrechtliche Zuverlässigkeit, Anforderungen an den Grad der Überzeugung vom Vorliegen des Verfolgens der in § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG genannten Bestrebungen durch eine Vereinigung (volle richterliche Überzeugung), Relevanz der Einstufung, „gesichert extremistische Bestrebung“, durch das Bundesamt für Verfassungsschutz für die richterliche Überzeugungsbildung im Waffenrecht.

Normenketten:
WaffG § 5 Abs. 2 Nr. 3
WaffG § 45, § 46
VwGO § 86 Abs. 1
VwGO § 108 Abs. 1
BVerfSchG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, 2
Schlagworte:
Waffenrechtliche Zuverlässigkeit, Anforderungen an den Grad der Überzeugung vom Vorliegen des Verfolgens der in § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG genannten Bestrebungen durch eine Vereinigung (volle richterliche Überzeugung), Relevanz der Einstufung, „gesichert extremistische Bestrebung“, durch das Bundesamt für Verfassungsschutz für die richterliche Überzeugungsbildung im Waffenrecht.
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 31.01.2024 – M 7 K 23.1518
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 25642

Tenor

I.Die Berufungen der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses werden zurückgewiesen.
II.Die Beklagte und der Vertreter des öffentlichen Interesses tragen die Kosten des Berufungsverfahrens je zur Hälfte.
III.Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Schuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Gläubiger vorher Sicherheit leistet.
IV.Die Revision wird zugelassen.   

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme seiner am 21. März 2022 erteilten Erlaubnis zum Führen von Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen (Kleiner Waffenschein) mit Bescheid der Stadt Ingolstadt vom 3. März 2023.
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Auf Hinweis der Regierung von Oberbayern nahm die Beklagte nach Erteilung des Kleinen Waffenscheins eine erneute Überprüfung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit des Klägers aufgrund von Erkenntnissen des Landesamts für Verfassungsschutz vor. Dieses hatte mit Schreiben vom 28. Februar 2022, welches irrtümlich zunächst an ein unzuständiges Landratsamt übermittelt wurde und daher der Beklagten erst am 2. Juni 2022 zuging, mitgeteilt, dass der Kläger bis mindestens Juli 2020 erster Vorsitzender des Bezirksverbands Oberbayern der „Jungen Alternative“ Bayern, die seit 2019 Beobachtungsobjekt des Landesamts ist, gewesen sei.
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Nach erfolgter Anhörung nahm die Beklagte mit Bescheid vom 3. März 2023 die Erteilung des Kleinen Waffenscheins zurück (Nr. 1) und verpflichtete den Kläger unter Androhung von Zwangsgeld (Nr. 3) zu dessen Rückgabe (Nr. 2). Die sofortige Vollziehbarkeit der Nummer 2 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 4). Der Kleine Waffenschein hätte dem Kläger nicht erteilt werden dürfen, da er aufgrund seiner Mitgliedschaft und Tätigkeit als Vorstand der „Jungen Alternative“ gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b und c WaffG nicht die erforderliche Zuverlässigkeit besitze. Die „Junge Alternative“ verfolge extremistische Bestrebungen und werde deshalb vom Landesamt als Beobachtungsobjekt eingestuft; seit seinem Ausscheiden aus der Vereinigung seien noch keine fünf Jahre vergangen.
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Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger am 28. März 2023 Klage erheben. Seinen zugleich gestellten Antrag auf Eilrechtsschutz lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. August 2023 (Az.: M 7 S 23.1519) ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hatte Erfolg. Mit Beschluss vom 16. November 2023 (Az.: 24 CS 23.1695) hat der Senat die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt bzw. angeordnet.
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Mit Verweis auf diesen Beschluss hat das Verwaltungsgericht München der Klage mit Urteil vom 31. Januar 2024 stattgegeben und den Bescheid vom 3. März 2023 aufgehoben. Es liege keine Unzuverlässigkeit im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b und c WaffG vor, da die Vereinigung, in der der Kläger Mitglied gewesen sei, zu diesem Zeitpunkt (noch) keine der in § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG genannten Bestrebungen verfolgt habe.
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Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung und beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 31. Januar 2024 – M 7 K 23.1518 – abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei unzuverlässig, da er nicht nur als Mitglied, sondern auch als Vorsitzender des Bezirksverbands Oberbayern der „Jungen Alternative“ Bayern eine Vereinigung unterstützt habe, bei der es bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Mitgliedschaft des Klägers den tatsachenbegründeten Verdacht von verfassungsfeindlichen Bestrebungen gegeben habe, was ausweislich des Wortlauts des Gesetzes und des Willens des Gesetzgebers ausreichend sei.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen
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und verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
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Die Landesanwaltschaft Bayern hat als Vertreter des öffentlichen Interesses ebenfalls Berufung eingelegt und beantragt,
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unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 31. Januar 2024 – M 7 K 23.1518 – die Klage abzuweisen.
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Im Wesentlichen trägt die Landesanwaltschaft vor, die einschlägige Vorschrift des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG sei – anders als vom Senat im Eilverfahren entschieden – bereits erfüllt, wenn Tatsachen die Annahme des Verfolgens von verfassungsfeindlichen Bestrebungen rechtfertigten. Dies sei bereits mit der Einstufung der „Jungen Alternative“ als Verdachtsfall im Jahr 2019 der Fall. Doch auch unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Senats sei der Kläger unzuverlässig. Zwar sei die Einstufung der „Jungen Alternative“ seitens des Verfassungsschutzes als gesichert extremistisch erst im April 2023 bekannt gemacht worden, doch die Vereinigung habe bereits lange davor verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt. Das Gutachten stelle stets nur eine retrospektive Auswertung dar, insbesondere gebe es keine Anhaltspunkte für eine erst im späteren Verlauf erfolgte Radikalisierung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen, das Protokoll über die mündliche Verhandlung sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässigen Berufungen der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses haben keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid der Beklagten vom 3. März 2023 zu Recht aufgehoben, sodass die Berufungen zurückzuweisen sind.
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Die Rücknahme des Kleinen Waffenscheins des Klägers ist rechtswidrig, denn es liegen nicht genügend Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitraum (1.) Mitglied einer gesichert verfassungsfeindlichen Vereinigung gewesen ist (§ 5 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b WaffG). Zwar war der Kläger von 2015 bis einschließlich 2020 Mitglied der „Jungen Alternative“, welche eine Vereinigung darstellt (2.). Allerdings fehlt es an der Überzeugung des Senats, dass sie bereits im maßgeblichen Zeitraum von fünf Jahren vor Bescheiderlass Bestrebungen verfolgt hat, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet waren (3.). Die waffenrechtlichen Nebenanordnungen teilen das rechtliche Schicksal der Rücknahme (4.).
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1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Bescheids ist die bei seinem Erlass bestehende Sach- und Rechtslage. In diesem Zeitpunkt müssen alle Voraussetzungen der maßgeblichen Rechtsgrundlage des § 45 Abs. 1 i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 3 des Waffengesetzes (WaffG) i.d.F. d. Bek. vom 11. Oktober 2002 (BGBl I S. 3970), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl I S. 1328), vorliegen.
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Nach § 45 Abs. 1 WaffG ist die waffenrechtliche Erlaubnis des Klägers zurückzunehmen, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Erlaubnis hätte versagt werden müssen. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Kläger zum Zeitpunkt der Erteilung der waffenrechtlichen Erlaubnis mit Bescheid vom 21. März 2022 als unzuverlässig i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b WaffG anzusehen war, weil Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass er innerhalb der letzten fünf Jahre Mitglied einer Vereinigung gewesen ist, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtete Bestrebungen i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG verfolgt oder verfolgt hat (im Folgenden: verfassungsfeindliche Vereinigung).
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Nachdem es auf die letzten fünf Jahre vor Erlaubniserteilung ankommt, der Kläger aber bereits im November 2020 aus der „Jungen Alternative“ ausgetreten ist, ist entscheidend, ob die Vereinigung im Zeitraum von 2018 bis November 2020 als eine verfassungsfeindliche Vereinigung anzusehen war. Sonstige Handlungen nach seinem Austritt, die ggf. eine Unterstützungshandlung i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c WaffG darstellen könnten, sind weder ersichtlich noch wurden sie von der Beklagten vorgetragen. Das Amt des Bezirksvorsitzenden hatte der Kläger bereits vor seinem Austritt aus der Vereinigung und damit vor Beendigung der Mitgliedschaft aufgegeben.
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2. Die „Junge Alternative“ war im maßgeblichen Zeitraum eine Vereinigung i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG. Hierunter versteht der Gesetzgeber Vereine im Sinne des Vereins- und Parteien im Sinne des Parteiengesetzes (vgl. BT-Drs. 19/15875, S. 36). Die „Junge Alternative“ war ein Verein i.S.v. § 2 Abs. 1 VereinsG.
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3. Für die Annahme einer waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b bzw. c WaffG muss nach der Rechtsprechung des Senats feststehen, dass die Vereinigung selbst Bestrebungen i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG verfolgt. Es genügt entgegen der Auffassung der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses nicht, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt (nur) Tatsachen die Annahme der Verfolgung solcher Bestrebungen rechtfertigen. Demnach gilt hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals „Mitglied in einer Vereinigung, die eine Bestrebung verfolgt (hat), die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet ist“ (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b i.V.m. Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG) das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung. Die § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG einleitende Wendung „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“ bezieht sich allein auf die Frage der Mitgliedschaft bzw. Unterstützungshandlung, nicht aber auf die Vereinigung und ihre Bestrebungen i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG (vgl. ebenso OVG LSA, B.v. 24.4.2023 – 3 M 13/23 – juris Rn. 26 ff.; BayVGH, B.v. 16.11.2023 – Az. 24 CS 23.1709 – juris Rn. 15 ff. m. zust. Anm. Nitschke NVwZ 2024, 79 ff.; OVG NW, B.v. 30.4.2025 – 20 A 1506/24 – juris Rn. 38 ff.; VGH BW, B.v. 10.6.2025 – 6 S 433/24 – juris Rn. 15 ff.; ausdrücklich zur Zustimmung neigend, aber offenlassend SächsOVG, B.v. 12.9.2024 – 6 B 48/24 – Rn. 16; offenlassend OVG NW, B. v. 22.3.2024 – 20 B 969/23 – juris Rn. 25 ff.; ThürOVG, B.v. 19.2.2024 – 3 EO 453/23 – juris Rn. 26; anders OVG Berlin-Bbg, B.v. 23.10.2023 – OVG 6 S 44/23 – BeckRS 2023, 30243 Rn. 3 ff.). Die Beweislast trägt die Beklagte (vgl. BVerwG, U.v. 21.5.2008 – 6 C 13.07 – juris Rn. 41).
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Die gegen dieses Normverständnis gerichteten Einwände der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses vermögen den Senat nicht zu überzeugen (vgl. ausführlich im Einzelnen BayVGH, U.v. 25.7.2025 – 24 BV 24.320 – juris Rn. 22 ff.). Es gibt keine Gründe, § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG so auszulegen, dass ein „zweifacher Verdacht“ genügt.
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a) Für die Annahme der Rechtsmittelführer, der Gesetzgeber habe die fragliche Wendung „Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen“ allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit nicht zweimal aufgenommen, fehlen belastbare Anhaltspunkte, zumal der Gesetzgeber des Dritten Waffenrechtsänderungsgesetzes an den Stellen, wo er Formulierungen aus Gründen der „sprachlichen Vereinfachung“ geändert hat, darauf ausdrücklich hingewiesen hat (BT-Drs. 19/15875, S. 36). Die durch den Senat vorgenommene Auslegung vermeidet zudem einen Wertungswiderspruch zwischen einer „Individualbestrebung“ i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG und der „Kollektivbestrebung“ i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b bzw. Buchst. c WaffG, wenn das Nachweisniveau der dem Einzelnen vorwerfbaren Handlungen, an die die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit letztlich anknüpft, unterschiedlich ist. Die Kritik der Rechtsmittelführer, bei der vom Senat vertretenen Auslegung gäbe es keine eigenständigen Bereiche mehr für die Unzuverlässigkeitstatbestände des § 5 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 WaffG, verfängt angesichts der jeweils für sich stehenden und unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen beider Nummern nicht. Ebenfalls bilden die Gesetzgebungsgeschichte und das jeweilige Ziel des Gesetzgebers, mittels Verschärfungen des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG einen zunehmend risikovermeidenden Ansatz zu verfolgen, keinen Grund, um der von der Beklagten und dem Vertreter des öffentlichen Interesses vertretenen Auslegung zu folgen. Der einschlägige Unzuverlässigkeitsgrund des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG wurde im Laufe der Jahre mehrfach erweitert und die damit verfolgten Ziele des Gesetzgebers auch realisiert. Für eine andere Auslegung wegen andernfalls offensichtlicher Verfehlung gesetzgeberischer Ziele, auf die die Rechtsmittelführer mit ihrer Argumentation letztlich abzielen, besteht kein Raum. Dies gilt gerade vor dem Hintergrund des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Bestimmtheitserfordernis, demnach das Handeln der Verwaltung für den Einzelnen berechenbar und vorhersehbar sein muss.
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b) Darüber hinaus ist der Umstand, dass im fraglichen Normbereich des § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG vielfach Rückgriffe auf Einschätzungen und Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden notwendig sind, kein Grund, vom Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung abzuweichen (vgl. BVerwG, U.v. 21.5.2008 – 6 C 13.07 – juris Rn. 25).
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Das Gesetz sieht vor, dass die Waffenbehörde für ihre Beurteilung der Verfassungsfeindlichkeit einer Vereinigung die Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden einholen muss (BT-Drs. 19/15875, S. 36; vgl. § 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 WaffG). Denn die Waffenbehörde wird sich ohne deren Expertise kaum ein eigenes Bild hinsichtlich einer im Raum stehenden Verfassungsfeindlichkeit einer Vereinigung machen und diese gegebenenfalls auch nicht (gegenüber dem Verwaltungsgericht) begründen können. Jedoch ist das kein Grund, die waffenrechtlichen Vorschriften in Gleichlauf mit den verfassungsschutzrechtlichen Maßstäben auszulegen. Die im Vergleich zu anderen Behörden typischerweise herabgesetzten Anforderungen für das Tätigwerden und für grundrechtsrelevantes Handeln von Verfassungsschutzbehörden sind der wesentliche Grund dafür, dass diese Ämter überhaupt über Informationen verfügen, die gegebenenfalls im waffenrechtlichen Verfahren zur Verfügung stehen. Sie sind aber kein Grund, die waffenrechtlichen Vorschriften „verfassungsschutzrechtlich“ auszulegen. Auch im Falle der Unzuverlässigkeit nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG handelt die Waffenbehörde nicht als Verfassungsschutzbehörde.
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4. Der Senat konnte nicht die volle Überzeugung davon gewinnen, dass die „Junge Alternative“ im maßgeblichen Zeitpunkt der Mitgliedschaft des Klägers bis einschließlich November 2020 verfassungsfeindliche Bestrebungen i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG verfolgt hat. Folglich konnte die Beklagte die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit nicht auf die Mitgliedschaft des Klägers in der „Jungen Alternative“ von 2015 bis 2020 stützen. Die Rücknahme war daher rechtswidrig.
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a) Für die Bildung der richterlichen Überzeugung von der Tatsache, ob eine Vereinigung verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, gelten die allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätze. Die Gerichte sind daher verpflichtet, sich vom Vorliegen der behaupteten Tatsachen selbst zu überzeugen und die ihnen jeweils zugeschriebene rechtliche Bedeutung selbstständig zu beurteilen. Hierbei können maßgeblich Einschätzungen der Verfassungsschutzbehörden herangezogen werden, weil die einschlägigen Tatbestandsmerkmale des § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG verglichen mit den verfassungsschutzrechtlichen Vorschriften (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c, Abs. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG), auf die die vorliegende Einstufung der „Jungen Alternative“ gestützt wird, trotz teils abweichenden Wortlauts die gleiche inhaltliche Bedeutung haben (vgl. grundsätzlich BayVGH, U.v. 25.7.2025 – 24 BV 24.320 – juris Rn. 37 ff.; 43 ff.).
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b) Dem erforderlichen Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung entspricht inhaltlich allerdings nur die verfassungsschutzbehördliche Kategorie der „gesichert ex-tremistischen Bestrebung“. Eine Einstufung als „Prüffall“ oder „Verdachtsfall“ genügt hingegen nicht (vgl. ausführlich BayVGH, U.v. 25.7.2025 – 24 BV 24.320 – juris Rn. 48 ff.).
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Die drei Kategorien „Prüffall“, „Verdachtsfall“ und „gesichert extremistisch“ sind gesetzlich nicht vorgesehen, in der verfassungsschutzbehördlichen Praxis aber etabliert und von der Rechtsprechung grundsätzlich akzeptiert (vgl. Schneider, DÖV 2022, 372 ff.; BVerfG, B.v. 24.5.2005 – 1 BvR 1072/01 – juris Rn. 89). Sie knüpfen normativ an die in § 4 Abs. 1 Satz 5 BVerfSchG genannten „tatsächlichen Anhaltspunkte“ an und bringen eine jeweils ansteigende Erkenntnisdichte hinsichtlich der Verfassungsfeindlichkeit einer Bestrebung zum Ausdruck (vgl. VG Köln, B.v. 5.2.2024 – 13 L 1124/23 – juris Rn. 167).
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Es ist anerkannt, dass eine Bestrebung erst dann als „gesichert extremistisch“ eingestuft werden kann, wenn die jeweils vorliegenden Informationen und Erkenntnisse durch Zahl und inhaltliche Eindeutigkeit ergeben, dass sich die zuvor bestehenden Verdachtsmomente zur Gewissheit verdichtet haben (vgl. OVG NW, B.v. 30.4.2025 – 20 A 1506/24 – juris Rn. 102; VG Köln, B.v. 5.2.2024 – 13 L 1124/23 – juris Rn. 162 ff.; Schneider, DÖV 2022, 372/373 u. 377) und daher die gegebenen Tatsachen „das Vorliegen einer verfassungsfeindlichen Bestrebung (…) belegen“ (Warg in Dietrich/Eiffler, Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, S. 535; zum Zusammenhang zwischen „gesichert“ und Beweis Meiertöns, GSZ 2025, 140/147). Die Qualität und die Quantität der Erkenntnisse dürfen keinen Zweifel an der verfassungsfeindlichen Ausrichtung mehr belassen (vgl. zutreffend Bundesamt, Gutachten vom 28.3.2023, S. 10, 29).
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c) Vor diesem Hintergrund fehlt es an der ausreichenden Überzeugungsgewissheit, dass die „Junge Alternative“ (bereits) während der Mitgliedschaft des Klägers eine verfassungsfeindliche Vereinigung i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG war. Denn zum Zeitpunkt seines Austritts im November 2020 war die „Junge Alternative“ durch das Gutachten vom 15. Januar 2019 (erst) als „Verdachtsfall“ eingestuft. Die Einstufung als „Verdachtsfall“ ist inhaltlich überzeugend und wurde weder durch die Beklagte noch den Vertreter des öffentlichen Interesses substantiiert in Zweifel gezogen, sodass weder davon auszugehen ist, dass bereits vor dem Austritt des Klägers eine höhere Einstufung der „Jungen Alternative“ geboten gewesen wäre, noch, dass später eingetretene Umstände die damalige Einschätzung bis November 2020 überholt haben könnten (vgl. hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 25.7.2025 – 24 BV 24.320 – juris Rn. 52 ff.). Die Hochstufung zur „gesichert extremistischen Bestrebung“ erfolgte mit Gutachten vom 28. März 2023 und damit über zwei Jahre nach Austritt des Klägers (zur seitherigen Verfassungsfeindlichkeit der „Jungen Alternative“: BayVGH, U.v. 25.7.2025 – 24 BV 24.320 – juris Rn. 60 ff.).
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Nachdem sich die Hochstufung auf einen inkrementellen Verdichtungsprozess über mehrere Jahre stützt, ist die nicht näher substantiierte Behauptung beider Rechtsmittelführer, die Vereinigung sei jedenfalls auch schon während der Mitgliedschaft des Klägers verfassungsfeindlich gewesen, nicht überzeugend. Weder kann der eigentlichen Hochstufung eine irgendwie geartete „Vorwirkung“ entnommen werden, noch wurden im Verwaltungsverfahren Nachweise vorgelegt, die eine Beurteilung als verfassungsfeindlich zu einem früheren Zeitpunkt auch nur nahelegen. Es ist weder erkennbar noch vorgetragen, dass der notwendige qualitative und quantitative Verdichtungsprozess bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen wäre. Auch enthält das Gutachten vom 28. März 2023 kein Material im Sinne eines „schlagenden Beweises“, dessen Inhalt für sich genommen bereits ein früheres Urteil der Verfassungsfeindlichkeit der „Jungen Alternative“ zulassen würde. Stattdessen wurde ausweislich des Gutachtens wichtiges Material erst in deutlichem Zeitabstand nach dem Austritt des Klägers gesammelt; die Nachweise stammen schwerpunktmäßig aus den Jahren 2021, 2022 und sogar bis Anfang 2023 (vgl. beispielsweise nur: Gutachten vom 28.3.2023, S. 101, 112, 121, 123). Entgegen der Argumentation des Vertreters des öffentlichen Interesses handelt es sich insbesondere nicht um eine lediglich quantitative Steigerung durch permanente Wiederholung von bereits (nachweislich) vorhandenen verfassungsfeindlichen Bestrebungen, sondern die über die Jahre 2021 bis Anfang 2023 zusammengetragenen Materialien weisen in ihrem Verlauf eine zunehmende sprachliche Verschärfung und eine inhaltliche Radikalisierung auf.
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In ähnlicher Weise liegt auch der nunmehr im Mai 2025 erfolgten Hochstufung der Partei „Alternative für Deutschland“, in der der Kläger seit 2015 Mitglied ist, ein Verdichtungsprozess zugrunde, der einer diesbezüglichen Vorwirkung auf den Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids entgegensteht. Folglich kommt vorliegend auch keine Umdeutung der Rücknahme nach § 45 Abs. 1 WaffG in einen Widerruf nach § 45 Abs. 2 Satz 1 WaffG in Betracht.
35
5. Da die „Junge Alternative“ zum maßgeblichen Zeitpunkt der Mitgliedschaft des Klägers bis November 2020 (noch) keine verfassungsfeindliche Vereinigung i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG war, ist die Rücknahme der waffenrechtlichen Erlaubnis in Nr. 1 des Bescheids rechtswidrig. Die Verpflichtung zur Rückgabe des Kleinen Waffenscheins und die Zwangsgeldandrohung teilen als waffenrechtliche Nebenanordnungen das Schicksal der Rechtswidrigkeit der Rücknahme. Der Bescheid verletzt den Kläger in seinen Rechten und wurde zu Recht vom Verwaltungsgericht aufgehoben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Berufungen sind daher zurückzuweisen.
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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und Abs. 3 VwGO. Nachdem sowohl die Beklagte als auch der Vertreter des öffentlichen Interesses eigenständig Berufung eingelegt haben, welche jeweils zurückgewiesen wurde, tragen sie die Kosten des Berufungsverfahrens je zur Hälfte. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
37
C. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Es ist entscheidungserheblich, ob es für die Annahme im Regelfall fehlender Zuverlässigkeit i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b bzw. c WaffG erforderlich ist, dass sich die (nur) tatsachenbasierte Annahme einer Mitgliedschaft bzw. Unterstützung auf eine Vereinigung bezieht, hinsichtlich der (zur Überzeugung der Behörde bzw. des Gerichts) feststeht, dass sie verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, oder ob auch insoweit ein „Verdacht“ genügt.