Titel:
			Wirkungen einer schriftlichen ärztlichen Invaliditätsfeststellung - betroffener Körperbereich
			Normenketten:
			AUB 2008 Nr. 2.1.1.1
			GG Art. 103 Abs. 1
			ZPO § 139 Abs. 5, § 296 Abs. 1, § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
			Leitsätze:
			1. Es stellt einen die Zurückverweisung rechtfertigenden wesentlichen Verfahrensmangel dar, wenn das Erstgericht den innerhalb einer nach § 139 Abs. 5 ZPO gewährten Frist erfolgten ergänzenden Sachvortrag einer Partei als verspätet zurückweist. (Rn. 28)
			2. Die Wirkung einer nach den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen erforderlichen Invaliditätsfeststellung beschränkt sich auf den vom Arzt benannten Verletzungsbereich, der allerdings nicht zu eng eingegrenzt werden darf. Wenn sich aus der fristgemäßen Bescheinigung eines Orthopäden die unfallbedingte Verletzung von Muskeln und Sehnen sowie daraus folgende dauerhafte Bewegungseinschränkungen ergeben, nimmt auch eine dieselben Körperbereiche betreffende Schmerzsymptomatik an der Feststellungswirkung teil. (Rn. 34 und 35)
			 Die ärztliche Invaliditätsfeststellung zu einem Dauerschaden in einem bestimmten Verletzungsbereich schließt demgegenüber (nur) solche Verletzungen und Schäden aus, die zwar aufgrund desselben Unfalls, aber entweder – wie etwa psychisch bedingte Einschränkungen – mittels einer anderen Kausalkette entstanden sind oder sich an ganz anderen Körperstellen auswirken. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
			 Die Wirkung einer nach den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen erforderlichen Invaliditätsfeststellung beschränkt sich auf den vom Arzt benannten Verletzungsbereich, der allerdings nicht zu eng eingegrenzt werden darf. Wenn sich aus der fristgemäßen Bescheinigung eines Orthopäden die unfallbedingte Verletzung von Muskeln und Sehnen sowie daraus folgende dauerhafte Bewegungseinschränkungen ergeben, nimmt auch eine dieselben Körperbereiche betreffende Schmerzsymptomatik an der Feststellungswirkung teil. (amtl. Leitsatz) (redaktioneller Leitsatz)
			Schlagworte:
			Unfallversicherung, Invaliditätsbescheinigung, ärztliche Invaliditätsfeststellung, Anspruch auf rechtliches Gehör, Hinweispflicht
			Vorinstanz:
			LG Ansbach, Urteil vom 27.03.2025 – 3 O 922/24 Ver
			Fundstellen:
			BeckRS 2025, 25088
			FDZVR 2025, 025088
		 
		 
		Tenor
		
			
			1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 27.03.2025, Az. 3 O 922/24 Ver, aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Landgericht zurückverwiesen.
		 
		
			
			2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
		 
		
		
			
			Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 28.000,00 € festgesetzt.
		 
		Entscheidungsgründe
		
		
			1
			Die Parteien streiten über weitergehende Ansprüche aus einer privaten Unfallversicherung, die der Kläger seit 2010 bei der Beklagten unterhielt (Anlagenkonvolut K 1).
		 
		
			2
			Dem Vertrag lagen insbesondere die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen der Beklagten (im Folgenden nur: AUB) sowie die Besonderen Bedingungen für das Produkt „B… Unfallschutz Comfort“ zugrunde (Anlagenkonvolut K 1). Vereinbart war u.a. eine Invaliditäts-Grundsumme von 50.000,00 €, die sich bedingungsgemäß auf bis zu 150.000,00 € erhöhen kann.
		 
		
			3
			Hintergrund des Rechtsstreits ist ein Arbeitsunfall, den der Kläger am 17.04.2022 erlitt und bei dem er sich eine Ruptur der ischiocruralen Muskulatur am linken Sitzbein sowie eine Sehnenruptur in der rechten Schulter zuzog.
		 
		
			4
			Diesen Unfall meldete der Kläger am 13.05.2022 bei der Beklagten (Anlage B 1). In der Folge legte er eine am 11.07.2023 erstellte Invaliditätsbescheinigung des Arztes Dr. G. (Anlage K 7 / B 3) und eine auf den 03.08.2023 datierte Bescheinigung des Arztes Dr. B. vor (Anlage K 6 / B 4). Die Beklagte trat in die Leistungsprüfung ein und gab ein Gutachten des Orthopäden Dr. R. in Auftrag, das dieser am 12.02.2024 erstattete (Anlage B 6). Auf der Grundlage einer mit 5/20 Armwert und 3/20 Beinwert zu bemessenden Invalidität und zu 50% mitwirkenden Vorerkrankungen (d.h. einem Invaliditätsgrad von insgesamt 14%) zahlte die Beklagte vorgerichtlich 7.000,00 € an den Kläger (Anlage K 2).
		 
		
			5
			Der Kläger macht geltend, bei ihm bestehe unfallbedingt eine Schmerzsymptomatik in Form neuropathischer Schmerzen (schmerzbedingte Durchschlafstörungen, schmerzbedingte Schoninnervation, Störung der Propriozeption; Anlage K 8), welche bislang nicht berücksichtigt worden seien. Der Invaliditätsgrad betrage auch unter Berücksichtigung etwaiger degenerativer Vorschädigungen 70%, so dass sich die geschuldete Leistung auf insgesamt 35.000,00 € belaufe.
		 
		
			6
			Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird ergänzend auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
		 
		
			7
			Mit seiner Klage fordert der Kläger die Zahlung weiterer 28.000,00 € sowie Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.501,19 €.
		 
		
			8
			Das Landgericht hat diese Klage mit Endurteil vom 27.03.2025 ohne Beweisaufnahme vollständig abgewiesen. Es hat dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass bereits der Sachvortrag des Klägers zu der Schmerzsymptomatik und einem damit verbundenen Dauerschaden unsubstantiiert sei. Im Übrigen fehle es diesbezüglich an einer fristgerechten ärztlichen Feststellung der Invalidität.
		 
		
			9
			Dieses Urteil wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 28.03.2025 zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufung ging am 28.04.2025 beim Oberlandesgericht Nürnberg ein (Bl. 1 d. OLG-A.). Das Rechtsmittel wurde mit einem am 28.05.2025 eingegangenen Schriftsatz begründet (Bl. 8 ff. d. OLG-A.).
		 
		
			10
			Der Kläger beantragt im Berufungsrechtszug, das Endurteil des LG Ansbach vom 27.03.2025 abzuändern und wie folgt zu erkennen:
		 
		
			
			1. Die Beklagte wird verpflichtet, an den Kläger aus dem Unfallereignis vom 29.02.2024 über bereits bezahlte 7.000,00 € noch weitere 28.000,00 € zu bezahlen.
		 
		
			
			2. Die Beklagte wird verurteilt, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.501,19 € zu bezahlen.
		 
		
			11
			Die Beklagte beantragt,
		 
		
			
			die Berufung zurückzuweisen.
		 
		
			12
			Sie verteidigt das angefochtene Urteil mit ihrer Erwiderung vom 25.06.2025 (Bl. 17 ff. d. OLG-A.).
		 
		
			13
			Mit Beschluss vom 01.07.2025 hat der Senat rechtliche Hinweise zur Sache erteilt (Bl. 24 ff. d. OLG-A.).
		 
		
			14
			Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 21.08.2025 ergänzend die Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO beantragt (Bl. 44 d. OLG-A.).
		 
		
			15
			Nachdem seitens der Parteien entsprechendes Einverständnis erklärt wurde, hat der Senat mit Beschluss vom 25.08.2025 angeordnet, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht (Bl. 45 d. OLG-A.).
		 
		
		
			16
			1. Die zulässige Berufung des Klägers hat vorläufig Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und antragsgemäß zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
		 
		
			17
			Das Urteil beruht auf einem entscheidungserheblichen Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1 ZPO). Infolgedessen bestehen durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in erster Instanz getroffenen Feststellungen, welche die Durchführung der bislang unterbliebenen Beweisaufnahme gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
		 
		
			18
			a) Das bisherige Verfahren im ersten Rechtszug leidet an einem wesentlichen Verfahrensfehler (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Denn das Landgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, indem es dessen Sachvortrag übergangen hat. Konkret hat die Vorinstanz § 296 Abs. 1 ZPO fehlerhaft angewendet und den Kläger zu Unrecht mit seinem Vorbringen ausgeschlossen (LGU 5).
		 
		
			19
			aa) Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass ein Versicherungsfall eingetreten ist, nachdem der Kläger am 17.04.2022 einen Unfall i.S.v. Ziffer 1.3 AUB, § 178 Abs. 2 VVG erlitten hat. Ebenfalls nicht in Streit steht, dass sich der Kläger infolge dieses Unfalls Primärverletzungen (Ruptur der ischiocruralen Muskulatur am linken Sitzbein und eine Sehnenruptur in der rechten Schulter) zugezogen hat, die zu einer dauerhaften Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit des Klägers geführt haben (Invalidität; Ziffer 2.1.1 AUB, § 180 VVG). Dem Grunde nach hat der Kläger daher Anspruch auf die vertragliche vereinbarte Invaliditätsleistung.
		 
		
			20
			bb) Der Kläger wendet sich nicht gegen die vorgerichtlich von der Beklagten ermittelte und ihrer Regulierung zugrunde gelegte Bemessung der auf orthopädischem Fachgebiet zu beurteilenden unfallbedingten Beeinträchtigungen. Jedenfalls sind keine konkreten Einwendungen vorgebracht worden. Hierauf hatte bereits die Vorinstanz hingewiesen (Sitzungsprotokoll vom 23.01.2024, Seite 2), ohne dass eine anderslautende Erklärung des Klägers erfolgt ist.
		 
		
			21
			Er macht vielmehr ausschließlich geltend, dass zusätzliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen seien, die das neurologische Fachgebiet beträfen. Unter Berücksichtigung dieser weiteren Beeinträchtigungen sei die Invalidität mit mindestens 5/10 Armwert und 5/10 Beinwert (über der Mitte des Oberschenkels) zu bemessen, so dass sich „selbst unter Berücksichtigung etwaiger degenerativer Vorschädigungen“ ein Invaliditätsgrad von 70% ergäbe.
		 
		
			22
			cc) Noch zutreffend hat die Vorinstanz ausgeführt, dass es der Klageschrift an einer näheren Substantiierung der zusätzlich zu berücksichtigenden „neurologischen Beeinträchtigungen“ fehlte (LGU 5). Auch die der Klageschrift beigefügten Unterlagen gaben hierfür nichts her.
		 
		
			23
			In der Replik des Klägers vom 21.10.2024 war dann von einer „massiven Schmerzsymptomatik“ im Bereich des linken Beines die Rede. In dem in Bezug genommen Attest des Arztes Dr. W. vom 13.06.2023 (Anlage K 8) heißt es ergänzend, dass Laufen nur mit einer Gehilfe und für maximal 200 m möglich sei, bei progredienten Schmerzen ischiocrural. Außerdem wurde ein herabgesetztes Empfinden von Sinnesreizen (Hypästhesie) an der linken Fußinnenseite festgestellt.
		 
		
			24
			In der mündlichen Verhandlung vom 23.01.2025 hat die zuständige Einzelrichterin dann darauf hingewiesen, dass „der Vortrag der Klagepartei hinsichtlich der neurologischen Beeinträchtigungen derzeit unsubstantiiert sein dürfte“. Hierzu war dem Kläger gemäß § 139 Abs. 5 ZPO antragsgemäß eine Stellungnahmefrist bis zum 13.02.2025 eingeräumt worden.
		 
		
			25
			Diese Stellungnahme des Klägers ging am 13.02.2025, also fristgemäß, beim Landgericht ein. Dort hat er nochmals auf die vorliegenden ärztlichen Atteste – namentlich den Arztbrief des Herrn Dr. B. vom 16.05.2023 (Anlage B 3, Seite 8) – Bezug genommen und geltend gemacht, dass außergewöhnliche Schmerzen gesondert zu bewerten seien, da sie zu einer Funktionsbeeinträchtigung führten, die die aus der reinen Gewebeverletzung resultierenden Schmerzen deutlich übersteigen. Der Kläger leide unter schmerzbedingten Durchschlafstörungen. Es bestehe eine schmerzbedingte Schoninnervation sowie eine Störung der Propriozeption. Er nehme Magnesium zur Vermeidung von Muskelkrämpfen.
		 
		
			26
			Diesen unter Sachverständigenbeweis gestellten Vortrag hatte die Beklagte mit Schriftsatz vom 07.03.2025 „vorsorglich bestritten“.
		 
		
			27
			Das Landgericht hat den klägerischen Vortrag aus dem nachgelassenen Schriftsatz ausweislich der Entscheidungsgründe „zur Kenntnis genommen“ (LGU 5), ihn aber gemäß § 296 Abs. 1 ZPO für präkludiert angesehen.
		 
		
			28
			dd) Dass diese Verfahrensweise den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat, liegt auf der Hand. Das Landgericht hat schon die Voraussetzungen des § 296 Abs. 1 ZPO nicht ordnungsgemäß festgestellt, so dass eine Prüfung durch das Rechtsmittelgericht nicht möglich ist (vgl. zu den Begründungsanforderungen: BGH, Urteil vom 22.10.1998 – VII ZR 82/97, NJW 1999, 585; BeckOK-ZPO/Bacher, § 296 Rn. 29 ff. [Stand: 01.07.2025]). Darüber hinaus hatte die Einzelrichterin erstmals in der mündlichen Verhandlung auf den aus ihrer Sicht bislang unzureichenden Sachvortrag zu den „neurologischen Beeinträchtigungen“ hinwiesen. Wenn dann – prozessordnungsgemäß – auf Antrag eine Stellungnahmefrist gemäß § 139 Abs. 5 ZPO eingeräumt wird und innerhalb dieser Frist tatsächlich ergänzender Vortrag der darlegungspflichtigen Partei eingeht, ist dem Gericht der Weg über § 296 Abs. 1 ZPO versperrt (vgl. Jäckel, Das Beweisrecht der ZPO, 3. Aufl., Rn. 262 f.). Dieses ergänzende Vorbringen hat das Gericht nicht nur dem Gegner mitzuteilen und ihm ebenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Es ist darüber hinaus grundsätzlich im Rahmen der anstehenden Entscheidung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 26.10.2023 – III ZR 184/22, NJW-RR 2024, 199 Rn. 19). Anderenfalls würde die richterliche Hinweispflicht leerlaufen (vgl. BGH, Urteil vom 21.12.2004 – XI ZR 17/03, juris Rn. 11). Erfordert es die Stellungnahme des Gegners, so ist eine bereits geschlossene mündliche Verhandlung wiederzueröffnen (§ 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO; vgl. Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 22. Aufl., § 139 Rn. 30).
		 
		
			29
			b) Der Verfahrensfehler erweist sich auch als entscheidungserheblich. Denn auch mit dem zweiten selbständig tragenden Grund des erstinstanzlichen Urteils lässt sich die Klageabweisung nicht rechtfertigen. Im Streitfall scheitert eine weitergehende Invaliditätsleistung aus dem Unfall vom 17.04.2022 nicht bereits daran, dass die behaupteten „neurologischen Beeinträchtigungen“ nicht fristgemäß von einem Arzt schriftlich festgestellt worden sind (entgegen LGU 5-9).
		 
		
			30
			aa) Das Bedingungswerk sieht hierfür eine Frist von 18 Monaten nach dem Unfall vor (Ziffer 5 der Besonderen Vereinbarungen), so dass die Feststellung bis zum 17.10.2023 zu erfolgen hatte. Die Einhaltung dieser Frist stellt – wie schon der Bedingungstext selbst klarstellt – eine Anspruchsvoraussetzung dar (vgl. BGH, Urteile vom 07.03.2007 – IV ZR 137/06, VersR 2007, 1114 Rn. 9 und vom 19.11.1997 – IV ZR 348/96, VersR 1998, 175; OLG Hamm, NVersZ 2001, 551). Sie dient dem berechtigten Interesse des Versicherers an der baldigen Klärung seiner Einstandspflicht sowie der Abgrenzung von schwer zu ermittelnden Spätfolgen (vgl. Grimm/Kloth, Unfallversicherung, 6. Aufl., AUB 2014, Ziffer 2 Rn. 20 m.w.N.). Die an die ärztliche Feststellung zu stellenden Anforderungen und die hierbei geltenden rechtlichen Maßstäbe hat das Landgericht unter Bezugnahme auf einschlägige Rechtsprechung und Kommentarliteratur im Ausgangspunkt zutreffend dargestellt (LGU 5/6).
		 
		
			31
			bb) Im Streitfall existiert zum einen eine am 11.07.2023 – und damit fristgemäß – erstellte Bescheinigung des Arztes Dr. G. (Anlage K 7). Die Diagnose lautet dort „S75.3G, M75.1G“. Nach der ICD-10-Klassifikation sind damit die gesicherten Diagnosen einer „Verletzung von Muskeln und Sehnen der posterioren Muskelgruppe in Höhe des Oberschenkels“ und von „Läsionen der Rotatorenmanschette“ gemeint. Die genannte ärztliche Bescheinigung stellt eine unfallbedingte Invalidität in Gestalt einer Gehbehinderung und einer Funktionsbeeinträchtigung der oberen Extremitäten fest. Eine Nachuntersuchung sei auf dem Gebiet der orthopädischen Unfallchirurgie durchzuführen.
		 
		
			32
			Darüber hinaus enthält die – ebenfalls fristgemäß – am 03.08.2023 auf einem Formblatt des Versicherers erstellte Bescheinigung des Arztes Dr. B. (Anlage K 6) die Diagnose „Ruptur ischiocr. Muskulatur li + Sehnenruptur re Schulter“. Daraus ergebe sich eine unfallbedingte Invalidität im Bereich „Arm re + Bein li“. Die Höhe der Invalidität lasse sich in ca. 1 bis 2 Jahren feststellen und erfordere eine Nachuntersuchung auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet.
		 
		
			33
			Schließlich bescheinigte der Arzt Dr. K. am 12.08.2023 eine bei dem Kläger festgestellte Rotatorenmanschettenruptur rechts, die zu einer dauerhaften Invalidität in Gestalt von Bewegungs-, Kraft- und Funktionsbeschränkungen der rechten Schulter geführt habe (Anlage K 13). Die Höhe der Invalidität lasse sich nach ca. 6 Monaten feststellen.
		 
		
			34
			cc) Die Wirkung dieser ärztlichen Feststellungen beschränkt sich auf den vom Arzt innerhalb der 18-Monatsfrist benannten Verletzungsbereich, der allerdings nicht zu eng eingegrenzt werden darf (vgl. Prölss/Martin/Piontek, VVG, 32. Aufl., AUB 2020, Ziffer 2 Rn. 16; Jacob, Unfallversicherung, 3. Aufl., AUB 2020, Ziffer 2.1 Rn. 96), und die adäquaten Folgen der für diesen Bereich noch notwendigen Behandlungen. Die Überschreitung der Frist ist demnach unschädlich, wenn die neu ins Feld geführte Funktionsbeeinträchtigung und die ärztlicherseits festgestellten Symptome denselben Körperbereich betreffen. Jeweils hat eine dahingehende Wertung zu erfolgen, ob die ärztliche Invaliditätsfeststellung dem Versicherer Veranlassung bot, im Rahmen der Invaliditätsbemessung auch die nicht ausdrücklich benannten Dauerschäden gutachterlich überprüfen und in die Gesamtbewertung einfließen zu lassen (vgl. BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13, NJW-RR 2015, 1442 Rn. 22).
		 
		
			35
			Die hier vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen über eine durch den Unfall verursachte dauerhafte Gebrauchsminderung der linken unteren Extremitäten und der rechten Schulter gab dem beklagten Versicherer ausreichenden Anlass, zur Prüfung seiner Leistungspflicht alle Körperteile im Bereich der betroffenen Gliedmaßen und Gelenke in den Blick zu nehmen, die Einfluss auf diese Gebrauchsminderung haben konnten. Das schließt nur solche Verletzungen und Schäden aus, die zwar aufgrund desselben Unfalls, aber entweder – wie etwa psychisch bedingte Einschränkungen (vgl. dazu auch OLG Celle, r+s 2014, 519) – mittels einer anderen Kausalkette entstanden sind oder sich an ganz anderen Körperstellen auswirken. Daraus folgt im Streitfall unschwer, dass die vom Kläger geltende gemachte unfallbedingte Schmerzsymptomatik im Bereich des linken Beines und der rechten Schulter an der Feststellungwirkung der fristgemäßen ärztlichen Invaliditätsbescheinigungen teilnimmt. Die entsprechenden Symptome wurden im Übrigen ärztlich festgestellt (Anlagen K 8 und B 3, Seite 8). Ob jenes als Anlage K 8 vorgelegte Attest seinerseits – isoliert betrachtet – die Voraussetzungen einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung erfüllt, muss mithin nicht entschieden werden (entgegen LGU 7/8). Es ist auch der Beweisaufnahme vorbehalten zu klären, ob die unfallkausalen Muskel- und Sehnenverletzungen beim Kläger auch zu Nervenschädigungen geführt haben und ob diese – innerhalb der Invaliditätseintrittsfrist – die behaupteten dauerhaften Schmerzen und Krämpfe hervorgerufen haben.
		 
		
			36
			c) Die Sache ist gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf Antrag des Klägers an das Landgericht zurückzuverweisen. Ein solcher Antrag konnte auch noch nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 18.10.2022 – XI ZR 606/20, BeckRS 2022, 32839 Rn. 27; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2003, 573).
		 
		
			37
			aa) Es ist eine weitere Verhandlung erforderlich. Der Prozess ist weder zur Entscheidung reif noch kann die Entscheidungsreife mit vertretbarem Aufwand herbeigeführt werden. Vielmehr ist eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig. Es ist zunächst ein neurologisches Sachverständigengutachten zu der vom Kläger behaupteten Schmerzsymptomatik und deren Unfallkausalität einzuholen. Anschließend wird ein weiteres unfallchirurgisch-orthopädisches Fachgutachten einzuholen sein, um unter Berücksichtigung der unstreitig erlittenen Verletzungen von Muskeln und Sehnen eine Gesamtbemessung – zum Neubemessungsstichtag 17.04.2025 – vorzunehmen (vgl. dazu auch OLG Koblenz, VersR 2013, 1518).
		 
		
			38
			bb) § 538 Abs. 2 ZPO räumt dem Berufungsgericht ein Ermessen ein („darf“; vgl. auch BGH, Urteil vom 01.02.2010 – II ZR 209/08, NJW-RR 2010, 1048 Rn. 16). Der Senat hat im Rahmen der erforderlichen Abwägung Folgendes berücksichtigt:
		 
		
			39
			Würde der Senat die zuvor skizzierte Beweisaufnahme gemäß § 538 Abs. 1 ZPO selbst durchführen, wäre hiermit keine bedeutsame Zeitersparnis verbunden. Auch entstehen durch eine vom Landgericht durchzuführende Beweisaufnahme keine zusätzlichen Kosten, die ohne eine Zurückverweisung vermieden werden könnten. Darüber hinaus ginge den Parteien eine Tatsacheninstanz verloren und die Möglichkeiten der Rechtsmittelkontrolle würden verkürzt. Diese Aspekte erscheinen in ihrer Gesamtschau so wesentlich, dass die möglichen zusätzlichen Kosten eines nochmaligen Berufungsverfahrens nach vollständigem Abschluss der ersten Instanz dahinter zurücktreten.
		 
		
			40
			cc) Eine Neuvornahme des bisherigen erstinstanzlichen Verfahrens ist nicht erforderlich. Daher muss dieses nicht aufgehoben werden (vgl. Musielak/Voit/Ball, ZPO, 22. Aufl., § 538 Rn. 6).
		 
		
			41
			d) Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
		 
		
			42
			aa) Der im Berufungsrechtszug weiterverfolgte Klageantrag zu 1. spricht von einem „Unfallereignis vom 29.02.2024“. Der Unfall ereignete sich jedoch am 17.04.2022. Dahingehend wird der Klageantrag zu korrigieren sein.
		 
		
			43
			bb) Der Kläger ist für die Voraussetzungen und die Höhe des behaupteten Anspruchs beweisbelastet, wobei er die Invalidität als solche mit dem Beweismaß des § 286 ZPO nachweisen muss. Erst danach kann hinsichtlich der Auswirkungen eines Dauerschadens und der Bemessung des Invaliditätsgrades die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zur Anwendung kommen (vgl. BGH, Urteil vom 12.11.1997 – IV ZR 191/96, r+s 1998, 80). Auf das daraus folgende abgestufte Beweismaß ist ein Sachverständiger im Beweisbeschluss ebenso hinzuweisen wie auf die für den Begriff der Invalidität und deren Ausmaß relevanten Vertragsbedingungen einschließlich der Invaliditätseintrittsfrist und des Bemessungsstichtages (vgl. BGH, Urteil vom 13.05. 2009 – IV ZR 211/05, NJW-RR 2009, 1193 Rn. 19).
		 
		
			44
			2. Ein Ausspruch über die Kosten des Berufungsverfahrens ist nicht verlasst. Hierüber ist in dem die erste Instanz abschließenden Urteil nach Maßgabe der §§ 91 ff. ZPO mitzuentscheiden.
		 
		
			45
			3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO. Eine solche Entscheidung ist zu treffen, obwohl das vorliegende Urteil keinen vollstreckungsfähigen Inhalt enthält (vgl. OLG München, Urteil vom 18.09.2002 – 27 U 1011/01, juris Rn. 75). Da ein solcher Inhalt fehlt, ist ein Ausspruch zur Abwendungsbefugnis hingegen nicht geboten.
		 
		
			46
			4. Der Streitfall wirft keine höchstrichterlich noch ungeklärten Fragen auf und hat auch sonst keine grundsätzliche Bedeutung. Es bedarf daher keiner Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO).
		 
		
			47
			5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde gemäß §§ 47 Abs. 1 und 2, 48 Abs. 1, 43 Abs. 1 GKG festgesetzt.