Inhalt

SG Nürnberg, Beschluss v. 04.04.2025 – S 11 AY 7/25 ER
Titel:

Antragsgegner, Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Leistungsausschluss, Prozeßbevollmächtigter, Rückwirkende Aufhebung, Leistungsbewilligung, Antragstellers, Grobfahrlässige, Aufenthaltsgestattung, Aufschiebende Wirkung, Abschiebungsverbot, Sozialgerichtliches Eilverfahren, Rechtswidrigkeit, Existenzsichernde Leistung, Bescheidung, Erneuter Bescheid, Asylverfahren, Einstweiliger Rechtsschutz, Beschlüsse, Verwaltungsakt

Leitsatz:
Ein Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG liegt nicht vor, wenn dem Leistungsberechtigten die freiwillige Ausreise in den für sein Asylverfahren zuständigen EU-Mitgliedstaat aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich ist.
Schlagworte:
Eilverfahren, Leistungsaufhebung, Mitwirkungspflicht, Rückforderung, Existenzminimum, Dublin-Verfahren, Überbrückungsleistungen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 25087

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 21.03.2025 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2025 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragstellern die mit Bescheid vom 23.12.2024 bewilligten Leistungen ab 01.03.2025 zu erbringen, wobei die bereits für März 2025 gewährten Leistungen anzurechnen sind.
III. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller sind von der Antragsgegnerin zu erstatten.

Gründe

I.
1
Im vorliegenden Eilverfahren geht es um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2025, mit dem diese ihren Bescheid über die Bewilligung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) vom 12.12.2024 ab 18.12.2024 aufgehoben, ihren Bescheid vom 23.12.2024 zurückgenommen, die Antragsteller zur Erstattung überzahlter Leistungen i.H.v. insgesamt 965,66 € verpflichtet und eine Neubewilligung von Leistungen für den Zeitraum 18.12.2024 bis 31.03.2025 vorgenommen hat.
2
Die am 21.08.1964 geborene Antragstellerin zu 1. und der am 01.07.1969 geborenen Antragsteller zu 2., die beide belarussischer Staatsangehörigkeit sind, stehen bei der Antragsgegnerin im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Mit Bescheid vom 30.06.2023 wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Antrag des Antragstellers zu 2. auf Asyl als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen, ordnete die Abschiebung nach Polen an sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes und befristete letzteres auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Mit weiterem Bescheid vom 02.07.2024 wies das BAMF den Antrag der Antragstellerin zu 1. auf Asyl als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen, ordnete die Abschiebung nach Polen an sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes und befristete letzteres auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
3
Die Antragsgegnerin bewilligte den Antragstellern mit Bescheid vom 12.12.2024 Leistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum 01.12.2024 bis 31.01.2025. Für den notwendigen persönlichen Bedarf nach § 3 a Abs. 1 AsylbLG sowie den notwendigen Bedarf nach § 3 a Abs. 2 AsylbLG, davon Abteilung 1 – Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke, Abteilung 3 – Bekleidung, Schuhe, Abteilung 6 – Gesundheitspflege wurden für Dezember 2024 826 € und für Januar 2025 794 € bewilligt. Für den notwendigen Bedarf nach § 3 a Abs. 2 AsylbLG, davon Abteilung 4 – Wohnen/Energie wurden Sachleistungen (Gemeinschaftsunterkunft) bewilligt. Zudem bewilligte die Antragsgegnerin Krankenhilfe nach § 4 AsylbLG. Der Bescheid wurde nach Aktenlage bestandskräftig.
4
Am 23.12.2024 erließ die Antragsgegnerin einen erneuten Bescheid über die Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum 01.02.2025 bis 31.05.2025. Für den notwendigen persönlichen Bedarf nach § 3 a Abs. 1 AsylbLG sowie den notwendigen Bedarf nach § 3 a Abs. 2 AsylbLG, davon Abteilung 1 – Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke, Abteilung 3 – Bekleidung, Schuhe, Abteilung 6 – Gesundheitspflege wurden monatlich 794 € bewilligt. Für den notwendigen Bedarf nach § 3 a Abs. 2 AsylbLG, davon Abteilung 4 – Wohnen/Energie wurden Sachleistungen (Gemeinschaftsunterkunft) bewilligt. Zudem bewilligte die Antragsgegnerin Krankenhilfe nach § 4 AsylbLG. Der Bescheid wurde nach Aktenlage bestandskräftig.
5
Mit Beschluss vom 18.12.2024 lehnte das Verwaltungsgericht A-Stadt (VG) den Antrag des Antragstellers zu 2. vom 11.07.2023 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner zum VG erhobenen Klage gegen den Bescheid des BAMF vom 30.06.2023 ab (Az. beim VG: AN 18 S 23.50452). Der Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zu 2. am 19.12.2024 zugestellt. Mit weiterem Beschluss vom 18.12.2024 lehnte das VG den Antrag der Antragstellerin zu 1. vom 10.07.2024 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer zum VG erhobenen Klage gegen den Bescheid des BAMF vom 02.07.2024 ab (Az. beim VG: AN 18 S 24.50436). Der Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin zu 1. am 20.12.2024 zugestellt. Am 12.01.2025 legten die Antragsteller der Antragsgegnerin jeweils eine Kopie der ersten beiden Seiten der Beschlüsse vor. Mit Schreiben vom 13.01.2025 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, dass für die Bearbeitung des Antrages auf Leistungen nach dem AsylbLG alle Seiten des Beschlusses benötigt würden. Die Vorlage der vollständigen Beschlüsse erfolgte durch die Antragsteller nach Aktenlage am 29.01.2025.
6
Am 18.02.2025 kontaktierte die Antragsgegnerin die Ausländerbehörden, die noch am gleichen Tag mitteilten, dass mit Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO die Abschiebungsanordnung nach Polen vollziehbar sei. Die Aufenthaltsgestattung der betreffenden Person sei nunmehr kraft Gesetzes erloschen, die Überstellungsfrist habe zu laufen begonnen. Eine Überstellung nach Polen werde zeitnah organisiert und durchgeführt.
7
Mit Schreiben vom 25.02.2025 hörte die Antragsgegnerin die Antragsteller dazu an, dass sie beabsichtige, den Bewilligungsbescheid vom 23.12.2024 teilweise aufzuheben und lediglich Überbrückungsleistungen nach § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von 2 Wochen, zu gewähren. Grundlage für die beabsichtigte Aufhebung sei, dass die Antragsteller nunmehr die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG erfüllen würden. Den Antragstellern wurde die Möglichkeit gegeben, sich bis spätestens 12.03.2025 zu äußern.
8
Mit Schreiben vom 10.03.2025 haben sich die Antragsteller geäußert und u.a. dargelegt, weshalb es ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei, nach Polen zurückzukehren. Eine Aussetzung der Leistungen wäre eine unmenschliche Härte und würde gegen die Grundsätze des Schutzes besonders schutzbedürftiger Personen verstoßen. Die gesundheitlichen und familiären Umstände seien von der Antragsgegnerin angemessen zu berücksichtigen.
9
Mit Bescheid vom 14.03.2025 hat die Antragsgegnerin den Bescheid über die Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG vom 12.12.2024 mit Wirkung ab 18.12.2024 aufgehoben. Der Bescheid vom 23.12.2024 über die Bewilligung von Leistungen nach § 3 AsylbLG wurde zurückgenommen. Die Antragsteller wurden verpflichtet, die für die Zeit vom 18.12.2024 bis 28.02.2025 überzahlten Leistungen i.H.v. insgesamt 965,66 € zu erstatten. Für die Zeit vom 18.12.2024 bis 31.12.2024 wurden Überbrückungsleistungen und für die Zeit vom 01.01.2025 bis 31.03.2025 Härtefall-Überbrückungsleistungen gewährt. Ihre Aufhebungsentscheidung stützt die Antragsgegnerin nach den Ausführungen in den Gründen des Bescheids sowohl i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB) X als auch auf § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 SGB X. Mit der Ablehnung des Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das VG seien die Abschiebungsanordnungen nach Polen seit 18.12.2024 vollziehbar. Die Aufenthaltsgestattungen, die die Antragsteller am 13.12.2024 und am 19.12.2024 vorgelegt und mit denen sie die Weitergewährung von Leistungen nach dem AsylbLG beantragt hätten, seien bereits seit 18.12.2024 kraft Gesetzes erloschen. Die Antragsteller würden laut der Bescheide des BAMF vom 30.06.2023 bzw. vom 02.07.2024 die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG erfüllen. Demnach hätten sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG mehr. Die Antragsteller seien ihrer Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren in grob fahrlässiger Weise nicht nachgekommen, da sie die vollständigen Beschlüsse des VG erst am 29.01.2025 vorgelegt hätten. Sie hätten damit keine rechtzeitigen Angaben gemacht und ihrer Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht Genüge getan. Die Änderung in ihren Verhältnissen (Erlöschen der Aufenthaltsgestattungen und vollziehbare Abschiebungsanordnungen nach Polen) führe gemäß § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG zum Wegfall des Leistungsanspruches ab 18.12.2024. Gesichtspunkte, die das Vorliegen eines atypischen Falles rechtfertigen und ggf. zu einem Verzicht der rückwirkenden Aufhebung führen würden, seien nicht ersichtlich. Ein Vertrauensschutz liege bei den Antragstellern nicht vor. Das öffentliche Interesse an gesetzmäßigen Entscheidungen überwiege das private Interesse der Antragsteller, zu Unrecht erhaltene Leistungen behalten zu dürfen. Hilfeempfänger seien verpflichtet, wahrheitsgemäße Angaben zu machen und würden ihr Einkommen damit auf den Umfang beschränken, den ihnen das Gesetz zubillige. Es sei nicht gerechtfertigt, dass Personen, die Zahlungen durch unvollständige Angaben erlangt hätten, bessergestellt würden als Personen, die wahrheitsgemäß Änderungen angeben würden.
10
Gegen den Bescheid legten die Antragsteller am 21.03.2025 Widerspruch ein.
11
Bereits am 13.03.2025 haben die Antragsteller, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, beim Sozialgericht Nürnberg (SG) um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung tragen die Antragsteller u.a. vor, dass die Kürzung der Leistungen nach dem AsylbLG bereits aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands unzulässig sei. Die Antragsteller hätten einen hohen Bedarf an Arzneimitteln und Hygienemitteln. Der Prozessbevollmächtigte habe die Antragsteller über die Entscheidungen des VG erst am 04.01.2025 informieren können, weil er vom 20.12.2024 bis zum 03.01.2025 im Urlaub gewesen sei. Am 12.01.2025 hätten die Antragsteller die Antragsgegnerin informiert. Das sei vollkommen rechtzeitig gewesen. Die Antragsteller hätten eine Überzahlung absolut nicht verschuldet.
12
Das Gericht hat im Verfahren Auskünfte beim VG und bei den Ausländerbehörden eingeholt.
13
Die Antragsteller beantragen,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 14.03.2025 anzuordnen.
14
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
15
Sie ist der Auffassung, dass der Bescheid vom 14.03.2025 rechtmäßig ergangen ist.
16
Mit Schreiben vom 27.03.2025 hat das Gericht die Antragsgegnerin darauf hingewiesen, dass der Bescheid vom 14.03.2025 rechtswidrig ist und hierzu auf verschiedene Aspekte hingewiesen. Am 01.04.2025 hat das Gericht der Antragsgegnerin telefonisch noch mal ausführlich erläutert, welche rechtlichen und tatsächlichen Aspekte die Antragsgegnerin bei Erlass des Bescheides vom 14.03.2025 falsch beurteilt bzw. übersehen hat.
17
Mit Schriftsatz vom 01.04.2025 hat die Antragsgegnerin daraufhin geäußert, dass sie die Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG nicht vorliegen würden, nicht teile. Sie fühle sich bei der Behandlung des vorliegenden Falls an eine Weisung des Bayerischen Staatsministerium des Inneren, für Sport und Integration (StMI) vom 21.02.2025 gebunden.
18
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie auf die vorliegende Verfahrensakte des Gerichts Bezug genommen.
II.
19
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.
20
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches vom 21.03.2025 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2025 ist zulässig, insbesondere statthaft.
21
Gemäß § 11 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG, § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG hat der Widerspruch der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2025, mit dem eine rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung ab 18.12.2024 erfolgt ist, keine aufschiebende Wirkung. In diesem Fall ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die statthafte Antragsart im einstweiligen Rechtsschutz.
22
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist auch offensichtlich begründet.
23
Der Prüfungsmaßstab für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG stellt sich wie folgt dar (s. hierzu auch Bayerisches Landessozialgericht vom 20.07.2018 – L 18 SO 126/18 B ER, juris Rn. 19 und vom 19.03.2018 – L 18 AY 7/18 B ER, ZFSH/SGB 2018, 339): In Anfechtungssachen ist auf der Grundlage des § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG eine Abwägung des Interesses des Antragstellers am Nichtvollzug und des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts durchzuführen. Dabei sind wegen der verfassungsrechtlich fundierten Sicherungs- und Rechtsschutzfunktion des Eilverfahrens grundsätzlich die Abwägungselemente des prospektiven Hauptsacheerfolgs und der ohne Eilrechtsschutz drohenden Rechtsverletzungen zu beachten. Weiteres Abwägungselement ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit vor Eintritt der Bestandskraft, das über das Erlassinteresse hinausgehen muss. Die Gewichtung der einzelnen Abwägungselemente hängt unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zur Ausgestaltung des fachgerichtlichen Eilverfahrens vom Rechtsschutzziel ab. Je schwerer die drohende Rechtsverletzung ist, umso höher sind die Anforderungen an die Genauigkeit der Prognose des Hauptsacheerfolgs zu stellen, um auf dieses Abwägungselement eine Ablehnung des Eilantrags zu stützen; gegebenenfalls muss sogar im Eilverfahren bereits eine abschließende Prüfung durchgeführt werden, um den Eilantrag wegen fehlender Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens ablehnen zu können (vgl zu den verfassungsrechtlich fundierten Aspekten der Abwägungsentscheidung Bundesverfassungsgericht vom 29.7.2003 – 2 BvR 311/03, juris Rn. 14; vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05 juris Rn. 23 ff.; vom 6.2.2007 – 1 BvR 3101/06; vom 25.2.2009 – 1 BvR 120/09 juris Rn. 11; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023 Rn. 12c ff.). Anders gewendet: Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Hauptsacheerfolgs und die Eintrittswahrscheinlichkeit der ohne Eilrechtsschutz drohenden Rechtsverletzungen sind für einen Erfolg des Eilantrags umso geringer, je schwerer die drohenden Beeinträchtigungen sind. Bei der Abwägung ist die gesetzgeberische Grundentscheidung zu berücksichtigen. Die danach vorgesehene sofort wirkende Belastung kann nur in Abhängigkeit von der Wahrscheinlichkeit des Hauptsacheerfolgs und der Schwere der Belastung berücksichtigt werden. Bei geringer Erfolgswahrscheinlichkeit der Hauptsache wird die nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung mit sofortiger Wirkung eintretende Folge in der richterlichen Abwägungsentscheidung grundsätzlich nicht zugunsten des Antragstellers ins Gewicht fallen. Bei wahrscheinlicher Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts und deshalb gegebener hoher Erfolgswahrscheinlichkeit der Hauptsache kann auch die nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung sofort geltende Folge zugunsten des Antragstellers berücksichtigt werden. Dies steht nicht im Widerspruch zur gesetzlichen Maßgabe der sofortigen Geltung der entsprechenden Belastung, weil der Gesetzgeber von der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts ausgegangen ist (Krodel/Cantzler, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 5. Aufl. 2022, Rn. 313).
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Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass aufgrund der hohen Erfolgswahrscheinlichkeit in der Hauptsache dem Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben ist. Die von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 14.03.2025 erfolgte Leistungsaufhebung gegenüber den Antragstellern ab 18.12.2024 ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig.
25
a. Die Rechtswidrigkeit der am 14.03.2025 vorgenommenen rückwirkenden Leistungsaufhebung ergibt sich bereits daraus, dass die Voraussetzungen für eine Aufhebung weder nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 48 SGB X noch nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 SGB X vorliegen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass aus der Begründung des Bescheids vom 14.03.2025 nicht hervorgeht, auf welcher Rechtsgrundlage der Bescheid vom 23.12.2024 zurückgenommen wird. Die Antragsgegnerin begründet die Rücknahme des Bescheids sowohl mit der Vorschrift des § 48 SGB X als auch mit der Vorschrift des § 45 SGB X, also sowohl mit einer bereits anfänglich vorliegenden Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung als auch mit einer nachträglich eingetretenen Rechtswidrigkeit.
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Ein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten der Antragsteller im Zusammenhang mit den am 18.12.2024 ergangenen Beschlüssen des VG ist entgegen der Behauptung der Antragsgegnerin nicht belegt.
27
In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass die Antragsgegnerin in ihrem Schreiben vom 28.02.2025 die Antragsteller entgegen Art. 28 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz ebenso wenig zu dem ihnen zur Last gelegten fahrlässigen Verhalten wie zu einer rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung ab 18.12.2024 angehört hat. Vielmehr hat die Antragsgegnerin in ihrem Schreiben lediglich mitgeteilt, dass eine teilweise Aufhebung des Bescheides vom 23.12.2024 beabsichtigt ist. Ein fahrlässiges Verhalten wurde den Antragstellern in dem Schreiben nicht vorgehalten. Die Antragsgegnerin hat vielmehr jegliche Ermittlungen von Amts wegen zu einem mutmaßlich grob fahrlässigen oder vorsätzlichen Verhalten der Antragsteller unterlassen. Diese Ermittlungen hat das Gericht im Eilverfahren nachgeholt.
28
Dabei ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Argumentation der Antragsgegnerin in sich widersprüchlich ist. Einerseits wirft die Antragsgegnerin den Antragstellern ein grob fahrlässiges Verhalten vor, aufgrund dessen es zu den (mutmaßlich) rechtswidrigen Bewilligungen vom 12.12.2024 und vom 18.12.2024 gekommen sei. Hierbei unterstellt sie eine verspätete Mitteilung der Beschlüsse des VG vom 18.12.2024 durch die Antragsteller. Die Ablehnung der Anträge der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen gegen die Bescheide des BAMF vom 30.06.2023 und vom 02.07.2024 durch das VG stelle eine wesentliche Veränderung in den Verhältnissen dar, die zum Wegfall des Leistungsanspruchs geführt habe. Andererseits führt die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid aus, dass die Voraussetzungen des § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG bereits durch die Bescheide des BAMF erfüllt seien. Danach hätten die Voraussetzungen der Vorschrift zum Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 12.12.2024 und vom 23.12.2024 aber völlig unabhängig von der Entscheidung des VG vorgelegen. Somit hätte die Antragsgegnerin – ihre Rechtsauffassung als zutreffend unterstellt – bereits am 12.12.2024 und am 23.12.2024 sehenden Auges eine rechtswidrige Leistungsbewilligung vorgenommen.
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Ungeachtet dessen ist aufgrund der Ermittlungen des Gerichts festzustellen, dass den Antragstellern eine grob fahrlässige Verletzung ihrer Mitteilungspflichten im Verwaltungsverfahren nicht vorgeworfen werden kann. Eine verspätete Mitteilung der Beschlüsse des VG vom 18.12.2024 ist gegenüber der Antragsgegnerin nicht erfolgt.
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Nach Auskunft des VG sind die Beschlüsse vom 18.12.2024 dem Prozessbevollmächtigten der Antragsteller am 19.12.2024 bzw. am 20.12.2024 zugestellt worden. Dieser hat – entsprechend seiner Mitteilung im vorliegenden Eilverfahren – die Antragsteller erst am 04.01.2025 von den Beschlüssen in Kenntnis setzen können. Die Unterrichtung der Antragsgegnerin durch die Antragsteller am 12.01.2025 ist somit unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern erfolgt. Dass der Antragsgegnerin zunächst nur die ersten beiden Seiten der Beschlüsse des VG zur Kenntnis gebracht wurden, ändert hieran nichts. Denn die von der Antragsgegnerin für wesentlich gehaltene Veränderung in den Verhältnissen der Antragsteller bestand in der Ablehnung der Anträge der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klagen gegen die Bescheide des BAMF. Die Ablehnung war aber bereits dem Tenor auf der ersten Seite der Beschlüsse zu entnehmen.
31
Darüber hinaus ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass es den Antragsteller möglich gewesen wäre, die Antragsgegnerin vor Erlass des Bescheides vom 23.12.2024 vom Vorliegen der Beschlüsse des VG vom 18.12.2024 zu unterrichten. Die Antragsteller haben überhaupt erst am 04.01.2025 Kenntnis von den Beschlüssen erhalten. Ein für den Erlass der (mutmaßlich) rechtswidrigen Bewilligungsentscheidung vom 23.12.2024 ursächliches Fehlverhalten der Antragsteller ist damit nicht feststellbar.
32
b. Im Übrigen ergibt sich die Rechtswidrigkeit der am 14.03.2025 vorgenommenen rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung ab 18.12.2024 auch daraus, dass die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG nicht vorliegen.
33
Nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG haben Leistungsberechtigte nach Absatz 1 Nummer 5, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG.
34
Zwar hat das BAMF im Falle der Antragsteller mit Bescheiden vom 30.06.2023 bzw. vom 02.07.2024 den Antrag der Antragsteller auf Asyl als unzulässig abgewiesen, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und die Abschiebung nach Polen angeordnet. Allerdings ist den Antragstellern die Ausreise nach Polen derzeit rechtlich und tatsächlich nicht möglich. Damit greift der Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG nicht.
35
Dass den Antragstellern eine freiwillige Ausreise derzeit nicht möglich ist, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den Mitteilungen der Regierung von M – Zentrale Ausländerbehörde M, der für die Abschiebung der Antragsteller zuständigen Ausländerbehörde, vom 26.03.2025 und vom 27.03.2025. Danach ist den Antragstellern eine freiwillige Ausreise in den für ihr Asylverfahren zuständigen EU-Mitgliedstaat Polen während der laufenden Überstellungsfrist nicht möglich. Vielmehr muss die Überstellung im sogenannten Dublin-Verfahren immer kontrolliert erfolgen. Ein Überstellungstermin für die Antragsteller ist derzeit noch nicht konkret bestimmt. Die Aussage der Regierung von Mittelfranken steht im Übrigen in Übereinstimmung mit der Dienstanweisung des BAMF zur Behandlung der sog. Dublin-Fällen, wonach einer freiwilligen Ausreise – anstelle der sog. kontrollierten Überstellung – grundsätzlich nicht zugestimmt wird.
36
Ein Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG für die Antragsteller ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Schreibens des StMI vom 21.02.2025, an dessen Inhalt sich die Antragsgegnerin gebunden fühlt.
37
Das Gericht kann dabei dahingestellt sein lassen, ob, wie in dem Schreiben vom 21.02.2025 ausgeführt, die Einholung einer gesonderten Feststellung des BAMF über die Ausreisemöglichkeit des Betroffenen durch die Leistungsbehörden nach dem AsylbLG im Verwaltungsverfahren nicht erforderlich ist (a.A. u.a. SG Landshut Beschluss v. 18.12.2024 – S 11 AY 19/24 ER). Denn zwingende Voraussetzung des Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist es, dass dem Betroffenen die Ausreise – sei es auch im Rahmen einer Überstellung – tatsächlich möglich ist (vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 20/12805, S. 31; s. auch die Stellungnahme der Bundesregierung vom 13.01.2025, BT-Drs. 20/14574, S. 6). Diese Voraussetzung wird in dem Schreiben des StMI vom 21.05.2025 auch nicht infrage gestellt. So nimmt die im Schreiben des StMI genannte Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat vom 16.10.2024 (BT-Drs. 20/13413, S. 53) ebenfalls ausdrücklich darauf Bezug, dass die selbstinitiierte Ausreise in der Regel mit der Unzulässigkeitsentscheidung innerhalb von zwei Wochen möglich ist, wenn der Transfer gewährleistet ist. Zu diesem Zweck wird dem Ausländer ein Laissezpasser ausgestellt. Im Falle der Antragsteller ist die Zweiwochenfrist seit Erlass der Bescheide des BAMF am 30.06.2023 und am 02.07.2024 längst abgelaufen. Es ist aus den vorliegenden Akten auch nicht ersichtlich, dass die Antragsteller im Besitz eines Laissezpasser wären und ihnen Transfermöglichkeiten offen stünden. Insbesondere ist dem Schreiben des StMI auch zu entnehmen, dass in Fällen mit Bezug zu Italien der Leistungsausschluss nicht greifen soll, da sich Italien weigert, Dublin-Fälle zurückzunehmen und es somit an Rückführungsmöglichkeiten fehlt. Damit kommt es aber offenbar auch nach Auffassung des StMI in Fällen, in denen eine Entscheidung des BAMF i.S.d. § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG vorliegt, letztlich entscheidend darauf an, dass dem Betroffenen zum Zeitpunkt des Leistungsausschlusses eine Ausreise rechtlich und tatsächlich auch möglich ist.
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Ein anderes Verständnis der gesetzlichen Regelung des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG wäre mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen auch nicht vereinbar. Denn der Anspruch auf existenzsichernde Leistungen – auch nach dem AsylbLG – resultiert aus dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG –, Urt. v. 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11). Der Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist daher allenfalls dann verfassungsgemäß (zu grundsätzlichen Zweifeln an der europarechtlichen Konformität und der Verfassungsgemäßheit der Vorschrift siehe u.a. SG Landshut a.a.O., Frerichs in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1 AsylbLG Rn. 54 ff. m.w.N.), wenn der Betroffene vom Gesetzgeber in Anwendung des Nachganggrundsatzes (siehe dazu BVerfG, Urt. v. 05.11.2019 – 1 BvL 7/16, juris Rn. 123-126; Beschl. vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21, BVerfGE 163, 254-298 Rn. 61) zulässigerweise darauf verwiesen werden kann, seine Existenz vorrangig selbst zu sichern. Eine solche Existenzsicherung durch die Inanspruchnahme materieller Leistungen und einer medizinischen Versorgung durch den für das Asylverfahren des Betroffenen zuständigen EU-Mitgliedstaat nach Maßgabe der Aufnahme-Richtlinie (RL 2013/33/EU, ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 96 ff.) kommt aber nur dann in Betracht, wenn dem Betroffenen die Ausreise in den Mitgliedstaat tatsächlich möglich ist (vgl. Stellungnahme der Bundesregierung vom 13.01.2025, BT-Drs. 20/14574, S. 6). Nur dann stellt sich auch die Frage, ob trotz Vorliegens des Leistungsausschlusses Überbrückungsleistungen nach § 1 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG oder Härtefallleistungen nach § 1 Abs. 4 Satz 6 AsylbLG zu gewähren sind.
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Nach alledem besteht für die Antragsteller in der Hauptsache eine sehr hohe Erfolgswahrscheinlichkeit. Berücksichtigt man zudem, dass die Entscheidung der Antragsgegnerin für die Antragsteller eine erhebliche Absenkung ihrer existenzsichernden Leistungen und für den Zeitraum ab 01.04.2025 sogar einen völligen Wegfall der Leistungen zur Folge hat, war dem Antrag der Antragsteller zwingend stattzugeben.
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3. Die Anordnung der Leistungsnachzahlung ab 01.03.2025 beruht auf § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG. Hierbei hat das Gericht berücksichtigt, dass die Leistungen an die Antragsteller in der Höhe nachzuzahlen sind, wie sie ohne den angefochtenen Bescheid vom 14.03.2025 auf Grundlage des bestandskräftigen Änderungsbescheids vom 23.12.2024 zu gewähren gewesen wären.
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4. Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.