Titel:
Rechtsfehlerhafte Ablehnung von Vollzugslockerungen: Keine Mitwirkungspflicht des Strafgefangenen bei Behandlung und sozialer Reintegration
Normenketten:
BayStVollzG Art. 13 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2
StVollzG § 11, § 115
Leitsätze:
1. Will die JVA eine Lockerung wegen der Gefahr des Missbrauchs der Maßnahme zu Straftaten ablehnen, hat sie in ihrer Entscheidung darzulegen, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernstlich zu befürchten steht, der Gefangene werde die Maßnahme zur Begehung einer Straftat ausnutzen. (Rn. 13)
2. Maßgebender Ansatz ist die Frage, ob das Verhalten des Strafgefangenen das ihm bei der Gewährung der konkreten vollzugsöffnenden Maßnahme entgegengebrachte Vertrauen rechtfertigt oder ob zu befürchten ist, der Verurteilte werde gerade die Gewährung von Lockerungen zu Straftaten missbrauchen. (Rn. 14)
3. Es gibt keine Mitwirkungspflicht des Strafgefangenen, deren Verweigerung mit der Ablehnung von Lockerungen sanktioniert werden könnte. Eine fehlende Bereitschaft des Gefangenen, an der Gestaltung seiner Behandlung und einer Erreichung der sozialen Reintegration mitzuwirken, darf alleine die Versagung einer beantragten Vollzugslockerung oder einer vollzugsöffnenden Maßnahme nicht begründen. (Rn. 18)
1. Lässt sich der Strafgefangene darauf ein, bei der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken, sich mit seinen Taten auseinander zu setzen und seine straffreie Zukunft verantwortlich zu planen und vorzubereiten, ist dies ein Aspekt, dem in der Gesamtschau mit weiteren Umständen ein maßgebliches Gewicht bei der Beurteilung der Flucht- oder Missbrauchsgefahr zukommen kann. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist der Strafgefangene dazu nicht bereit, ist auch dies ein Gesichtspunkt – von mehreren – bei der von der Anstalt zu treffenden Beurteilung, ob eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr iSv Art. 13 Abs. 2 BayStVollzG gegeben ist. In diesem Fall muss sich die Anstalt im Rahmen ihrer Prognose damit befassen, wie sich die fehlende Therapie auf die Persönlichkeit des Strafgefangenen und auf dessen aktuelle Gefährlichkeit konkret auswirkt. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Justizvollzugsanstalt, Vollzugslockerungen, Ablehnung, Missbrauchsgefahr, Fluchtgefahr, Prognoseentscheidung, Behandlung, soziale Reintegration, Mitwirkungspflicht, Verweigerung
Vorinstanz:
LG Bayreuth, Beschluss vom 18.06.2025 – StVK 205/25
Fundstelle:
BeckRS 2025, 24735
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen werden der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth vom 18. Juni 2025 und der Bescheid der Justizvollzugsanstalt B. vom 24. Februar 2025 aufgehoben.
II. Die Justizvollzugsanstalt B. wird verpflichtet, den Antrag des Beschwerdeführers auf die Gewährung von Lockerungen unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats neu zu verbescheiden.
III. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens beider Instanzen und die dem Antragsteller darin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
IV. Der Beschwerdewert wird auf 3000.- € festgesetzt.
Gründe
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Der Beschwerdeführer befindet sich im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt B. zur Vollstreckung einer am 18. Juli 2019 wegen mehrerer Sexualstraftaten zum Nachteil der Tochter seiner Ehefrau ausgesprochenen Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren. Zwei Drittel der Strafe waren am 21. August 2024 verbüßt, ohne dass der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt worden wäre. Das voraussichtliche Strafende errechnet sich auf den 22. August 2027. Seinen Antrag auf die Gewährung von Lockerungen hat die Justizvollzugsanstalt zuletzt mit Schreiben vom 24. Februar 2025 unter Verweis auf die Schwere der begangenen Taten, die Beurteilung eines externen psychiatrischen Sachverständigen und die Weigerung des Antragstellers, an einer therapeutischen Aufarbeitung der Straftaten mitzuwirken, auch mit Blick auf die Höhe des Strafrestes und die fehlenden Anstaltsressourcen abgelehnt. Mit Schreiben vom 26. Februar 2025 hat sich der Verfahrensbevollmächtigte des Strafgefangenen bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts gegen den Bescheid gewandt und beantragt, diesen aufzuheben und die Antragsgegnerin zur Neubescheidung zu verpflichten. Mit Beschluss vom 18. Juni 2025 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen und zur Begründung angeführt, dass die Ablehnung von Lockerungen aus den von der Anstalt dargelegten Gründen nicht zu beanstanden sei. Hiergegen hat der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 4. Juli 2025 Rechtsbeschwerde eingelegt und materielle Rügen erhoben. Der Generalstaatsanwalt in M. beantragt, die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen als unzulässig, hilfsweise als begründet zu verwerfen.
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Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat mit der Sachrüge Erfolg.
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1. Die nach Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 116 Abs. 1 StVollzG statthafte Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht (§ 118 StVollzG) erhoben und genügt auch den besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten. Die Strafvollstreckungskammer hat die Vorgaben der Rechtsprechung an die Begründung einer Versagung von Lockerungen nicht beachtet.
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2. Die Sachrüge ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses der Strafvollstreckungskammer und des der gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Bescheides der Justizvollzugsanstalt. Denn die Entscheidung der Vollzugsanstalt erweist sich als rechtsfehlerhaft.
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a. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 BayStVollzG kann als Lockerung des Vollzugs angeordnet werden, dass Gefangene für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht Vollzugsbediensteter (Ausgang) verlassen dürfen. Nach Absatz 2 der Vorschrift dürfen Lockerungen mit Zustimmung der Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass die Gefangenen sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werden. Nach Art. 15 BayStVollzG ist bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzugs eine Strafe unter anderem wegen einer schwerwiegenden Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit Ausnahme der §§ 180a und 181a StGB vollzogen wurde oder zu vollziehen ist, eine Lockerung des Vollzugs besonders gründlich zu prüfen. Bei der Entscheidung sind nach der gesetzlichen Regelung auch die Feststellungen im Urteil und die im Ermittlungs- oder Strafverfahren erstatteten Gutachten zu berücksichtigen.
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b. Danach sind Vollzugslockerungen zwingend zu versagen, wenn zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerung zu Straftaten missbrauchen werde. Ein Ermessen ist in diesem Fall nicht eröffnet (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 4; Setton in BeckOK Strafvollzug Bund, 27. Ed. 1.2.2025, StVollzG § 11 Rn. 25).
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c. Der Missbrauch bezieht sich auf Straftaten aller Art, nicht nur erheblicher (vgl. Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 4; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 11 Rn. 9; Harrendorf/Ullenbruch in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 10. Kapitel Vollzugsöffnende Maßnahmen C II Rn. 53).
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d. Die Vollzugsbehörden haben dazu eine Prognoseentscheidung zu treffen (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 6 m.w.N.; Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 18; Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 10 m.w.N.; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 53). Etwaige Zweifel bei der geforderten Prognose gehen, wie sich dem Begriff des Befürchtens entnehmen lässt, zulasten des Gefangenen (Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 18; Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 9).
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e. Bezüglich der unbestimmten Rechtsbegriffe der Flucht- und Missbrauchsgefahr steht der Vollzugsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu mit der Folge, dass das Vorliegen dieser Voraussetzungen im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar ist (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 5; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 StObWs 318/20 –, juris Rn. 21; KG Berlin, Beschluss vom 22. August 2011 – 2 Ws 258 und 260/11 Vollz –, juris Rn. 50; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 51). Bezüglich der Kontrolle des Beurteilungsspielraums ist die Strafvollstreckungskammer auf die Prüfung beschränkt, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, alle entscheidungsrelevanten Umstände berücksichtigt, die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums eingehalten und die richtigen Wertmaßstäbe angewendet hat (vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juli 2024 – 203 StObWs 273/24 –, juris Rn. 27 m.w.N.; Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 19; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 51; Laubenthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, a.a.O. 12. Kapitel Rechtsbehelfe § 115 II Rn. 23; Arloth/Krä a.a.O. § 115 Rn. 16 m.w.N.; Bachmann in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baierl, Strafvollzugsgesetze, 13. Aufl., Kap. P II § 115 Rn. 87, 88; Spaniol in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil IV § 115 StVollzG Rn. 28, 31).
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f. Für die Begründung der konkreten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr sind die relevanten Tatsachen von der Vollzugsbehörde konkret festzustellen; allgemeine Befürchtungen, pauschale Wertungen oder nur formelhafte Begründungen genügen nicht (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 7 m.w.N.).
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g. Für ihre Prognose hat die Anstalt eine Gesamtabwägung aller für die Entscheidung relevanten Umstände vorzunehmen (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 7 m.w.N.; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. 10. Kapitel Vollzugsöffnende Maßnahmen C II Rn. 54; Setton a.a.O. § 11 Rn. 27). Zu berücksichtigen sind insbesondere die Persönlichkeit des Betroffenen, sein Vorleben, etwaige frühere Verurteilungen, die Umstände und das Gewicht der Tat sowie die Tatmotivation, der Umgang mit der Tat, die Persönlichkeitsentwicklung, das Verhalten im Vollzug sowie die Eignung für eine Therapie und die Durchführung einer solchen (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 24; Laubenthal/Baier in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier a.a.O. Kapitel E VI Rn. 147).
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aa. Will die Justizvollzugsanstalt eine Lockerung wegen Fluchtgefahr ablehnen, hat sie in ihrer Entscheidung darzulegen, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernstlich zu befürchten steht, der Gefangene werde die Maßnahme zur Flucht nutzen (Setton a.a.O. § 11 Rn. 26). Um die Fluchtgefahr zu begründen, genügt nicht allein die Höhe der Restfreiheitsstrafe, sondern es bedarf besonderer in der Person des Gefangenen liegender Umstände wie fehlende Absprachefähigkeit und Verlässlichkeit (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Januar 2022 – 203 StObWs 569/21 –, juris Rn. 39).
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bb. Will die JVA eine Lockerung wegen Missbrauchsgefahr ablehnen, hat sie in ihrer Entscheidung darzulegen, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernstlich zu befürchten steht, der Gefangene werde die Maßnahme zur Begehung einer Straftat ausnutzen (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 7 m.w.N.; Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 22).
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aaa. Maßgebender Ansatz ist nicht die Frage, ob überhaupt in der Person des Verurteilten die erneute Gefahr der Begehung von Straftaten droht – dieser Gesichtspunkt ist im Rahmen des Verfahrens nach §§ 57, 57a StGB zu beantworten –, sondern es kommt für die Prognose entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Gefangenen das ihm bei der Gewährung der konkreten vollzugsöffnenden Maßnahme entgegengebrachte Vertrauen rechtfertigt oder ob zu befürchten ist, der Verurteilte werde gerade die Gewährung von Lockerungen zu Straftaten missbrauchen (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Juli 2001 – 3 Ws 50/01 –, juris Rn. 12; Laubenthal/Baier a.a.O. Kapitel E VI Rn. 140a; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. 10. Kapitel C II Rn. 49; Setton a.a.O. § 11 Rn. 26).
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bbb. Die Beurteilung hat lockerungsbezogen zu erfolgen (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 8 m.w.N.; Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 11a; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. 10. Kapitel C II Rn. 53).
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h. Die Vollzugsbehörde hat bei ihrer Prognose zu berücksichtigen, dass nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Vorschriften über Vollzugslockerungen und vollzugsöffnende Maßnahmen der Wiedereingliederung der Gefangenen und deren Resozialisierungsinteresse dienen (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 18. September 2019 – 2 BvR 1165/19 –, juris Rn. 17; Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 10; Senat, Beschluss vom 27. November 2023 – 203 StObWs 456/23 –, juris Rn. 12). Durch Lockerungsmaßnahmen werden dem Gefangenen Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. August 2010 – 2 BvR 729/08 –, juris, Rn. 32; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 15. Mai 2018 – 2 BvR 287/17 –, juris Rn. 30; Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 10; Senat, Beschluss vom 27. November 2023 – 203 StObWs 456/23 –, juris Rn. 12).
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i. Verweigert der Strafgefangene eine Mitwirkung an der Behandlung oder eine Therapie, gilt folgendes:
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(1) Es gibt keine Mitwirkungspflicht des Strafgefangenen, deren Verweigerung mit der Ablehnung von Lockerungen sanktioniert werden könnte (vgl. Burkhardt in Feest/Lesting/Lindemann a.a.O. Teil II § 38 C Rn. 50). Eine fehlende Bereitschaft des Gefangenen, an der Gestaltung seiner Behandlung und einer Erreichung der sozialen Reintegration mitzuwirken, darf alleine die Versagung einer beantragten Vollzugslockerung oder einer vollzugsöffnenden Maßnahme daher nicht begründen (Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 32; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. 10. Kapitel C II Rn. 54 und 68; Laubenthal/Baier a.a.O. Kapitel E VI Rn. 147a).
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(2) Lässt sich der Strafgefangene darauf ein, bei der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken, sich mit seinen Taten auseinander zu setzen und seine straffreie Zukunft verantwortlich zu planen und vorzubereiten, ist dies ein Aspekt, dem in der Gesamtschau mit weiteren Umständen ein maßgebliches Gewicht bei der Beurteilung der Flucht- oder Missbrauchsgefahr zukommen kann (Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. 10. Kapitel C II Rn. 68; Laubenthal/Baier a.a.O. Kapitel E VI Rn. 147a).
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(3) Ist der Strafgefangene dazu nicht bereit, ist auch dies ein Gesichtspunkt – von mehreren – bei der von der Anstalt zu treffenden Beurteilung, ob eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr im Sinne von Art. 13 Abs. 2 BayStVollzG gegeben ist (vgl. Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 12; OLG München, Beschluss vom 7. Juni 2016 – 5 Ws 21/16 (R) –, juris Rn. 26; BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 – 2 BvR 2267/18-, juris Rn. 26; Burkhardt a.a.O. Teil II § 38 C Rn. 51; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. 10. Kapitel C II Rn. 68). In diesem Fall muss sich die Anstalt im Rahmen ihrer Prognose damit befassen, wie sich die fehlende Therapie auf die Persönlichkeit des Strafgefangenen und auf dessen aktuelle Gefährlichkeit konkret auswirkt (vgl. Hoefler, NJW-Sonderbeilage 2025, 92, 93).
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j. Bei langjährig Inhaftierten kann es zudem, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2008 – 2 BvR 719/08 –, juris, Rn. 3, und vom 5. August 2010 – 2 BvR 729/08 –, juris, Rn. 32; BVerfG, Beschluss vom 21. September 2018 – 2 BvR 1649/17-, juris Rn. 27; Senat, Beschluss vom 26. Januar 2023 – 203 StObWs 502/22-, juris). Der damit verbundene personelle Aufwand ist grundsätzlich hinzunehmen, da der Staat grundrechtliche und einfachgesetzlich begründete Ansprüche Gefangener nicht nach Belieben dadurch verkürzen kann, dass er die Vollzugsanstalten nicht so ausstattet, wie es zur Wahrung ihrer Rechte erforderlich wäre (vgl. Hoefler a.a.O. S. 92, 93). Es widerspräche dem Sinn und Zweck von Ausführungen zur Erhaltung und Festigung der Lebenstüchtigkeit eines Gefangenen, diese von dem Abschluss einer Therapie abhängig zu machen. Das bei einer Ausführung nie ganz auszuschließende Risiko einer Entweichung oder eines Missbrauchs kann, wie bereits dargelegt, mit besonderen Sicherungsmaßnahmen reduziert werden (BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 – 2 BvR 2267/18-, juris Rn. 26).
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k. Die Behörde muss im Falle einer Missbrauchsbefürchtung darlegen, warum die Gefahr nicht durch Sicherungsvorkehrungen ausgeräumt werden kann (Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 11; BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 865/11 – juris Rn. 16).
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l. Gemessen daran können die gerichtliche Entscheidung und der Bescheid der Vollzugsbehörde keinen Bestand haben. Es fehlt bereits an der nachvollziehbaren Darlegung einer Missbrauchsgefahr. Der Verweis auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen vom 21. Oktober 2024 genügt insoweit nicht. Denn die vom Gutachter untersuchte und im Ergebnis verneinte Frage, ob eine bedingte Haftentlassung ohne therapeutische Aufarbeitung der Delikte, ohne Rückfallpräventionsstrategie und ohne Erprobung befürwortet werden könne, vermag die Ablehnung einer Lockerung – gerade als Mittel der vom Sachverständigen vermissten Erprobung – nicht zu rechtfertigen, zumal der Gutachter eine stufenweise Lockerung für angezeigt und die Gefahr einer Entweichung oder Delinquenz während einer Lockerung als sehr gering erachtet hat. Bei der Prüfung der Missbrauchsgefahr hätte sich die Anstalt nicht am Maßstab des § 57 StGB orientieren dürfen, sondern das Risiko nach den oben dargestellten Vorgaben lockerungsbezogen unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Strafgefangenen, seines Vorlebens, der Umstände der Tat nebst der Tatmotivation, des Umgangs mit der Tat, der Persönlichkeitsentwicklung und des Verhaltens im Vollzug beurteilen müssen. Auch die Absprachefähigkeit des Gefangenen spielt eine Rolle (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 19. März 2024 – 203 StObWs 97/24 –, juris Rn. 12). Die Justizvollzugsanstalt hätte in ihre Überlegungen zudem mit einstellen müssen, dass mit zunehmender Dauer der Strafverbüßung der Resozialisierungsaspekt (vgl. Art. 2 S. 2 BayStVollzG) an Bedeutung gewinnt. Die diesbezüglich nachgeholten Erwägungen in ihrer Stellungnahme im Strafvollzugsverfahren waren von der Strafvollstreckungskammer nicht zu beachten. Denn die Vollzugsbehörde darf im gerichtlichen Verfahren, das auf die Nachprüfung einer Ermessensentscheidung oder einer Entscheidung im Ermessensspielraum gerichtet ist, keine neuen, zunächst außer Betracht gelassenen Gründe nachschieben (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 29. Juli 2024 – 203 StObWs 273/24 –, juris Rn. 40 m.w.N.; Senat, Beschluss vom 17. April 2023 – 203 StObWs 61/23-, juris Rn. 21 m.w.N.; Laubenthalt a.a.O. 12. Kap. § 115 Rn. 4 m.w.N.; Spaniol a.a.O. § 115 Rn. 50; Arloth/Krä a.a. O. § 115 Rn. 4). Der Verweis auf die fehlende Therapiebereitschaft genügte demgegenüber ebenso wenig wie der Hinweis auf die Dauer der Reststrafe (zu letzterem vgl. Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern, BeckOK Strafvollzug Bayern, 22. Ed. 1.4.2025, BayStVollzG Art. 13 Rn. 10; Setton a.a.O. § 11 Rn. 28) oder auf fehlende Ressourcen (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Januar 2023 – 203 StObWs 502/22 –, juris Rn. 19). Soweit die Vollzugsanstalt in ihrer Entscheidung argumentiert, die gebotenen Vor- und Nachbereitungen von vollzugsöffnenden Maßnahmen seien bei einem Sexualstraftäter im Normalvollzug außerhalb einer – vom Antragsteller abgelehnten – sozialtherapeutischen Abteilung oder Anstalt nicht leistbar, so dass Lockerungen bis zum Strafende nicht in Betracht kämen, übersieht sie, dass die darin liegende indirekte Disziplinierung des Strafgefangenen nach den oben dargestellten Grundsätzen unzulässig ist. Mit dem Druckmittel des Ausschlusses von Lockerungen darf die Vollzugsanstalt die Therapiebereitschaft nicht abverlangen.
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m. Die Entscheidungen der Anstalt und der Strafvollstreckungskammer unterliegen daher der Aufhebung. Der Beschwerdegegner hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats. Die Anstalt wird zu prüfen haben, ob etwaigen Befürchtungen mit Sicherungsmaßnahmen, Auflagen und Weisungen entgegengewirkt werden kann, um den Gefangenen bei seiner Entlassung nicht unvorbereitet zu lassen. Hierbei wird sie auch den Aspekt des Opferschutzes bedenken.
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Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 1 und 4 StVollzG, § 467 Abs. 1, § 473 Abs. 4 StPO. Die Festsetzung des Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 S. 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 60, 65, 52 Abs. 1 GKG.