Titel:
Asyl, Türkei, einstweiliger Rechtsschutz (erfolgreich), junge, weibliche Antragstellerin, Ablehnung als offensichtlich unbegründet, nicht eindeutig und in sich unglaubhaftes Vorbringen, Widerspruch zum Vortrag der Schwester in deren Asylverfahren (unbeachtlich), Vortrag häuslicher Gewalt und drohender Zwangsheirat
Normenketten:
AsylG § 30
VwGO § 80 Abs. 5
Schlagworte:
Asyl, Türkei, einstweiliger Rechtsschutz (erfolgreich), junge, weibliche Antragstellerin, Ablehnung als offensichtlich unbegründet, nicht eindeutig und in sich unglaubhaftes Vorbringen, Widerspruch zum Vortrag der Schwester in deren Asylverfahren (unbeachtlich), Vortrag häuslicher Gewalt und drohender Zwangsheirat
Fundstelle:
BeckRS 2025, 24231
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 16. Juli 2025 gegen den Bescheid des Bundesamts vom ... Juli 2025, Az... … …, wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
1
Die 2002 geborene Antragstellerin ist türkische Staatsangehörige vom Volk der Kurden. Sie hat die Türkei eigenen Angaben zufolge im Mai 2023 per Flugzeug verlassen, wurde kurz nach der Einreise auf dem Landweg am … Juni 2023 am … Juni 2023 im Bundesgebiet aufgegriffen und stellte am … Juni 2023 einen Asylantrag bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
2
Bei der persönlichen Anhörung am … Oktober 2024 erklärte die Antragstellerin auf Frage nach dem ausschlaggebenden Ereignis für ihre Ausreise, sie sei in der Türkei nicht glücklich gewesen. Ein Grund, warum sie Deutschland ausgesucht habe, sei, dass sie einen Bruder in B … habe, der sie unterstützen und ihr helfen könne. In der Türkei habe es große Probleme zwischen ihr und ihrer Familie und ihren Verwandten gegeben. Sie hätten ihr nicht erlaubt, die Schule zu besuchen und zu arbeiten. Ihr Vater habe für ihre beiden Schwestern Zwangsehen arrangiert. Sie wisse nicht, wo sich die Schwestern befinden. Ihre Schwester Z … sei Opfer häuslicher Gewalt geworden. Sie sei in Deutschland und das Jugendamt kümmere sich um sie. Auch die Antragstellerin selbst sei Opfer häuslicher Gewalt geworden. Ihre Schwester Z … habe es aber schlimmer getroffen. Sie selbst habe zwar arbeiten können, ihr Vater habe ihr aber alles Geld weggenommen. Sie sei nach I … gegangen und dort drei Monate geblieben. Sie habe versucht, sich ein neues Leben aufzubauen und sich unabhängig zu machen. Ihr Vater sei aber in die Wohnung ihrer Freundin eingebrochen und habe sie geschlagen. Nachdem sie nach G … zurückgekehrt sei, habe sie immer wieder von zu Hause weglaufen und bei Freundinnen übernachten müssen. Ihr Vater sei immer wieder zu ihr gekommen und habe Geld von ihr haben wollen; weigerte sie sich, ihm welches zu geben, habe er sie geschlagen. Er habe sie sowohl verbal als auch physisch angegriffen. Die Antragstellerin habe erfahren, dass sie sowohl Asthma als auch Atemnotattacken habe. Der Vater habe sie auch immer zu Hochzeiten ihrer Verwandten mitgenommen und dort seinen Bekannten gesagt, sie sei noch ledig. Eines Tages sei dann ein Mann von 42 Jahren zu ihnen nach Hause gekommen, den die Antragstellerin heiraten sollte. Der Vater habe gewarnt, die Antragstellerin würde ihn blamieren, wenn sie diese Ehe nicht einginge. Sie habe versucht, es mit ihrem Vater hinzubekommen, habe es aber irgendwann einfach nicht mehr ausgehalten. Sie sei dann nach I … gegangen und beschlossen, die Türkei für immer zu verlassen. Das sei acht Monate vor der Ausreise gewesen. Die Antragstellerin ergänzte, sie sei als Kind (13 bis 17 Jahre) von ihrem Onkel väterlicherseits sexuell belästigt worden. Seit sie zwölf Jahre alt war, sei sie zur Arbeit gezwungen worden und ihr Vater habe das Geld einbehalten. Im Falle einer Rückkehr würde sie in der Türkei nicht leben können. Sie wäre obdachlos. Wegen der Bedrohung seitens ihres Vaters würde keiner ihrer Freunde bereit sein, sie aufzunehmen. Sie habe ihren Vater bereits einmal bei der Polizei angezeigt – bevor sie nach I … ging – und diese habe eigentlich ein Kontaktverbot ausstellen wollen. Ihre Mutter und die Verwandten ihres Vaters hätten die Antragstellerin aber unter Druck gesetzt, sodass sie ihre Anzeige zurückgezogen habe. Der Vater wäre trotz des Kontaktverbots zu ihr gekommen. Das sei in der Türkei kein Problem, weil man sich nicht vorstellen könne, dass ein Vater seiner Tochter wehtut. Der Vater habe sie in Istanbul gefunden, weil ihre Freunde aus der Nachbarschaft Bescheid wussten. In I … habe sie mit ihrer Freundin für eine Firma gearbeitet, die Essenspakete vorbereitete und dafür Verpflegung und auch Geld bekommen. Auch wenn sie für sich sorgen könnte, genügte das nicht, da sie auch an ihre Schwester denken müsse. Die Familie habe überall in der Türkei Verwandte.
3
Die Schwester der Antragstellerin hat am … März 2024 einen Asylantrag gestellt, über den nach Anhörung am … Mai 2024, bei der die Schwester der Antragstellerin eine drohende Zwangsheirat mit einem 60-jährigen Mann, den eigentlich die Antragstellerin habe heiraten sollen, als Begründung für ihr Schutzersuchen angab, noch nicht entschieden wurde.
4
Mit Bescheid vom ... Juli 2025 lehnte das Bundesamt lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, den Antrag auf Asylanerkennung und den Antrag auf subsidiären Schutz jeweils als offensichtlich unbegründet ab (Ziffern 1 bis 3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Andernfalls werde sie in die Türkei oder einen anderen Staat, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, abgeschoben. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Soweit die Antragstellerin vortrage, von ihrem Vater geschlagen und zur Herausgabe von Geld gezwungen worden zu sein sowie dass sie zwangsverheiratet werden sollte, seien die Voraussetzungen des § 3 AsylG nicht erfüllt. Insbesondere liege kein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG vor. Vielmehr handle es sich im innerfamiliäre Auseinandersetzungen, die zum einen aus Profitgier und zum anderen aus unterschiedlichen Auffassungen zum Verfahren der Auswahl des Ehepartners entstanden sein sollen. Solche Streitereien hätten in der Regel keinen politischen oder religiösen Hintergrund, sondern beruhten auf unterschiedlichen Interessen der beteiligten Personen. Frauen und Mädchen, die sich der Zwangsverheiratung wiedersetzten, besäßen zudem keine im Sinne des externen Ansatzes einer bestimmten sozialen Gruppe in der Türkei abgegrenzte Identität. Ihre kurdische Volkszugehörigkeit – bzw. die ihrer Eltern – verhelfe dem Antrag nicht zum Erfolg, zumal sich die Antragstellerin selbst als Türkin bezeichnet habe. Die Angaben der Antragstellerin zu ihren Fluchtgründen wirkten konstruiert und nicht überzeugend. Sie habe eine begründete Furcht vor ernsthaftem Schaden nicht glaubhaft gemacht. Schon die einleitenden Worte im Sachvortrag stünden im Widerspruch zu den anderen Ausführungen. Während sie einerseits sage, die Familie habe ihr nicht erlaubt, zur Schule zu gehen und zu arbeiten, habe sie andererseits berichtet, das Abitur abgelegt und in verschiedenen Jobs gearbeitet zu haben. Zudem habe sie erklärt, alle Geschwister seien Opfer häuslicher Gewalt geworden, während ihre Schwester Z … in deren Anhörung gesagt habe, das habe nur die Mädchen betroffen. Es bestünden noch weitere Widersprüche zum Vortrag der Schwester: Die Antragstellerin spreche von einem 42-jährigen Mann, mit dem sie verheiratet werden sollte, die Schwester von einem 60-jährigen. Auch komme die Information aus dem Vortrag der Schwester, dass beide mit demselben Mann verheiratet werden sollten, im Vortrag der Antragstellerin nicht vor. Auch die Aussagen zum angeblich ebenfalls in Deutschland befindlichen Bruder sowie zum Beruf des Vaters und zur Organisation der Ausreise der Schwester gingen auseinander. Auch wenn es im elterlichen Haus tatsächlich zu Misshandlungen gekommen sein möge, wirke der Vortrag der Antragstellerin insgesamt doch zu konstruiert und dramatisierend. Aus hier gebe es Differenzen zur Darstellung der Schwester, was die Freiwilligkeit der Herausgabe des verdienten Geldes angehe. Ob die Schilderung der Antragstellerin, sie sei im Alter zwischen 14 und 17 Jahren von einem ihrer Onkel sexuell belästigt worden, der Realität entspricht oder eine ungerechtfertigte Dramatisierung darstellt, könne dahingestellt bleiben. Denn da die Antragstellerin zudem ausgeführt habe, dass diese Übergriffe im Alter von 17 Jahren beendet gewesen seien, sei, insbesondere aufgrund der inzwischen größeren Lebenserfahrung und Durchsetzungsfähigkeit der Antragstellerin, nicht damit zu rechnen, dass solche Übergriffe bei einer Rückkehr wieder aufgenommen werden könnten. Auch die Rücknahme der Anzeige gegen den Vater auf Druck der Verwandtschaft sei angesichts der durchgängigen Gewalttätigkeit und des daraus resultierenden Leidens nicht plausibel. Selbst bei Wahrunterstellung des Sachvortrags stünde der Antragstellerin bei zu befürchtenden rechtswidrigen Übergriffen durch ihren Vater die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes, zu dessen Erlangbarkeit und Inhalt Näheres ausgeführt wird, zur Verfügung. Zudem stehe der Antragstellerin jedenfalls eine inländische Schutzalternative in der Türkei offen; sie könnte in einer der Großstädte in der Westtürkei leben, deren Erreichbarkeit angesichts der unproblematischen Ausreise per Flugzeug nicht in Zweifel zu ziehen sei. Es könne der Antragstellerin zugemutet werden, sich in einem sicheren Landesteil niederzulassen. Weder habe sie vorgetragen, noch sei ersichtlich, dass sie aus den mit einer entsprechenden Beschäftigung hinreichend wahrscheinlich zu erwartenden Einnahmen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnte. Es fehle an einem hinreichenden Beleg für die Behauptung, sie sei in der gesamten Türkei nicht sicher. Zu den Möglichkeiten, Familienangehörige aus privatem Interesse ausfindig zu machen, wird Näheres ausgeführt. Die vorgetragenen Erkrankungen, Asthma, Migräne und Nebenhöhlenentzündung seien nicht geeignet, ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot zu begründen. Wegen des Aufenthalts von Bruder und Schwester in Deutschland ergäben sich keine im Rahmen der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigenden Bindungen.
6
Gegen diesen Bescheid, zugestellt am … Juli 2025, richtet sich die Klage vom 16. Juli 2025, erhoben mit Schriftsatz vom selben Tag und dem Antrag, den Bescheid der Antragsgegnerin vom ... Juli 2025 teilweise aufzuheben (Ziffer 1), die Antragsgegnerin zu verpflichten, in der Person der Antragstellerin, die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG festzustellen, hilfsweise, einen subsidiären Schutzstatus bzw. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG anzuerkennen (Ziffer 2) sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben aufgehoben bzw. auf einen Tag zu verkürzen (Ziffer 2). Mit Schriftsatz vom selben Tag wurde beantragt,
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Die aufschiebende Wirkung bezüglich der Abschiebeandrohung gem. Ziffer 5 des Bescheides vom ... Juli 2025, Aktenzeichen … wird angeordnet.
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Zur Begründung wurde ergänzend zum bereits gegenüber dem Bundesamt Vorgebrachten ausgeführt, es hätten manchmal Verwandte bei der Familie übernachtet, um die Antragstellerin und ihre Geschwister vor den Übergriffen des Vaters zu schützen. Die Antragstellerin sei geschlechtsspezifischer Verfolgung ausgesetzt gewesen. Eine offensichtliche Unbegründetheit könne unter diesen Umständen nicht angenommen werden.
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Die Antragsgegnerin hat am 22. Juli 2025 die Akten (darunter auch die Asylakte der Schwester der Antragstellerin) vorgelegt und mit Schriftsatz vom 24. Juli 2025 beantragt, die Klage abzuweisen sowie
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den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Die Antragstellerin begehrt die Anordnung der kraft Gesetzes ausgeschlossenen, § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG, aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid.
13
Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG.
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Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.). Die gerichtliche Überprüfung der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsfeststellung hat im Hinblick auf den nach Art .19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz aufgrund der als asylerheblich vorgetragenen oder zu erkennenden Tatsachen und in Anwendung des materiellen Asylrechts erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren zu erfolgen (BVerfG, B.v. 19.6.1990 – 2 BvR 369/90 – juris Rn. 20). Die Anforderungen entsprechen insofern denjenigen der Ablehnung einer asylrechtlichen Klage als offensichtlich unbegründet (BVerfG, B.v. 19.6.1990 a.a.O. – juris Rn. 21). Anknüpfungspunkt zur Frage der Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs durch das Gericht muss daher die Prüfung sein, ob das Bundesamt den Antrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob diese Ablehnung auch weiterhin Bestand haben kann.
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Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsausspruchs, welcher auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt wird, da die Begründung des Asylantrags über weite Strecken nicht glaubhaft sei und die Antragstellerin einen ihr im Heimatland drohenden ernsthaften Schaden nicht habe substantiieren können. Aus der Bescheidsbegründung geht hervor, dass auf der Antragsgegnerseite nicht davon ausgegangen wird, dass sich die physische häusliche Gewalt und die Versuche der Zwangsverheiratung in der geschilderten Weise zugetragen haben, sodass es auf die ansonsten bestehende Möglichkeit internen Schutzes bzw. einer innerstaatlichen Schutzalternative nur hilfsweise ankommen soll.
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Die Einzelrichterin vermag die Einordnung des Tatsachenvortrags der Antragstellerin als eindeutig und offensichtlich unglaubhaft nicht zu teilen. Auf die unterbliebene Substantiierung des Vorbringens darf es in diesem Zusammenhang nicht ankommen, da diese lediglich die Ablehnung als einfach unbegründet stützen könnte. Auch wenn das Vorgetragene die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus, wie im Bescheid zutreffend ausgeführt, nicht wird rechtfertigen können, ist die Möglichkeit einer ernsthaften Bedrohung, welche zur Gewährung subsidiären Schutzes führen würde, nicht deswegen von vornherein ausgeschlossen, weil der Vortrag eindeutig nicht den Tatsachen entspricht.
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Die Ablehnung als offensichtlich unbegründet auf Grundlage von § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfordert, dass das Vorbringen qualifiziert bemakelt ist. Das Erfordernis der Eindeutigkeit bzw. Offensichtlichkeit verlangt, dass an der Unstimmigkeit, der Widersprüchlichkeit, der Falschheit oder Unwahrscheinlichkeit der Angaben des Ausländers keinerlei vernünftige Zweifel bestehen. Ob ein Vorbringen eindeutig unstimmig und widersprüchlich ist, ist unter Berücksichtigung des persönlichen Horizonts des Asylbewerbers, insbesondere seines Intellekts und seines Bildungsstandes sowie seiner aktuellen Situation zu beurteilen. Ist ein Widerspruch nicht offenkundig, entspricht es sowohl dem Amtsermittlungsgrundsatz als auch dem Gebot des fairen Verfahrens, den Asylbewerber hierauf hinzuweisen, um ihm so Gelegenheit zu geben, den Widerspruch möglicherweise aufzulösen. Bei eindeutig falschen oder jedenfalls bei offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben, ist ein Abgleich mit hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen erforderlich, während eindeutig unstimmige und widersprüchliche Angaben schon in sich nicht schlüssig sind und eines solchen Abgleichs nicht bedürfen (vgl. m.w.N. Heusch in Kluth/Heusch BeckOK Ausländerrecht, § 30 AsylG Rn. 20 ff.). Kann das Bundesamt vom Asylbewerber vorgetragene, an sich asylrelevante Motive nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts mit der für ein Offensichtlichkeitsurteil notwendigen Gewissheit als vorgeschoben aufdecken, sodass allein die genannten asylunerheblichen Motive übrigbleiben, steht einer Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nichts entgegen. In einer solchen Konstellation wird das Offensichtlichkeitsverdikt durch eine Kombination der Gründe von Nr. 1 und Nr. 2 des § 30 Abs. 1 getragen, ohne dass es darauf ankäme, ob das Bundesamt in seiner Begründung auf bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darauf oder auf Nr. 1 abgestellt hat (vgl. m.w.N. Heusch in Kluth/Heusch BeckOK Ausländerrecht, § 30 AsylG Rn. 14 ff.),
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Hinsichtlich des Vortrags der sexuellen Belästigung durch den Onkel teilt die Einzelrichterin die im Bescheid vertretene Auffassung, dass insoweit keine konkrete Wiederholungsgefahr besteht und diese länger zurückliegenden Ereignisse aus schwerlich fluchtauslösend gewesen sein können. Freilich ist nachvollziehbar, dass hierin bereits eine emotionale Grundlage für die wesentlich später getroffene Ausreiseentscheidung begründet liegt.
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Bei Auswertung des übrigen Vortrags der Antragstellerin gelangt die Einzelrichterin zu der Auffassung, dass dieser – bei freilich nicht völlig von der Hand zu weisenden Glaubhaftigkeitszweifeln (dazu sogleich) – nicht mit der für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet erforderlichen Eindeutigkeit und bereits in sich unstimmig ist.
21
Es ist der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren Gelegenheit zu geben, nachfolgend bezeichnete, der Einzelrichterin durchaus bewusst gewordene, Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten aufzulösen. So erfolgte während der Anhörung eine Steigerung des Vorbringens: Als zentralen Fluchtgrund gab die Antragstellerin an, sie wolle bei ihrem Bruder sein und die Familie habe ihr nicht erlaubt, zur Schule zu gehen und zu arbeiten (S. 2 des Anhörungsprotokolls). Später erklärte sie, sie sei seit dem zwölften Lebensjahr zur Arbeit gezwungen worden und habe das verdiente Geld abgeben müssen (S. 7 des Anhörungsprotokolls). Sodann gelangt sie von dem Vortrag, der Vater habe für ihre beiden Schwestern Zwangsehen arrangiert (S. 4 des Anhörungsprotokolls), hin zu dem Vortrag, er habe auch sie mit einem bestimmten 42-Jährigen verheiraten wollen (S. 6 des Anhörungsprotokolls), sodann vom Vortrag, ihre Schwester Z … sei Opfer häuslicher Gewalt geworden (S. 5 des Anhörungsprotokolls), hin zu dem Vortrag, dies habe alle Geschwister betroffen (S. 6 des Anhörungsprotokolls). Für diese sukzessive Zuspitzung lassen sich neben dem, das Vorbringen entspräche nicht der Wahrheit, mehrere Erklärungsansätze finden, welche vor einer endgültigen Ablehnung auszuräumen sind. Ferner bestehen deutliche Widersprüche zum Vortrag der Schwester: Als fluchtauslösendes Ereignis hat die Schwester angegeben, dass die Antragstellerin selbst mit einem 60-jährigen Mann verheiratet werden sollte (S. 6 des Anhörungsprotokolls), wovon in der Anhörung der Antragstellerin keine Rede war; ebenso wenig davon, dass die Trauung – zumindest nach den Schilderungen der Schwester – bereits unmittelbar bevorstand und die Antragstellerin vom dafür anberaumten Friseurbesuch flüchtete. Von einer Freundin, die – wie von der Antragstellerin angegeben (S. 7 des Anhörungsprotokolls) – die Flucht organisiert haben soll, fehlt wiederum in den Schilderungen der Schwester jedes Wort. Zur Begründung des Offensichtlichkeitsausspruchs dürfen diese Widersprüche allerdings nicht herangezogen werden, zum einen da die Unstimmigkeit des Vorbringens aus sich heraus bestehen muss, zum anderen, da die Antragstellerin mit diesen Widersprüchen nicht konfrontiert wurde, obwohl deren Anhörung zeitlich nach der ihrer Schwester stattfand.
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Das hiernach durchaus nicht durchweg bemakelte Vorbringen steht nicht im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen. Die Antragstellerseite weist zutreffend darauf hin, dass sowohl häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie Zwangsverheiratungen in der Türkei mit relevanter Häufigkeit vorkommen und dagegen nur bedingt wirksamer Schutz zur Verfügung steht (vgl. insb. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei – Lagebericht – Stand: Januar 2024, S. 14 f.). Daher kann der Vortrag auch nicht – unter Austausch der Rechtsgrundlage für den Offensichtlichkeitsausspruch – als belanglos i.S.v. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG eingeordnet werden.
23
Nach alledem war dem Antrag im gerichtskostenfreien (§ 83b AsylG) Verfahren mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
24
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.