Inhalt

LArbG Nürnberg, Urteil v. 08.04.2025 – 7 SLa 213/24
Titel:

Schadensersatz wegen Streikmaßnahmen – Streikziel – gemeinsamer Antrag auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrags

Normenketten:
GG Art. 9 Abs. 3
BGB § 823 BGB
BGB § 1004
TVG § 5 Abs. 1
Leitsatz:
Das Streikziel eines gemeinsamen Antrages der Tarifvertragsparteien nach § 5 Abs. 1 TVG auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages ist rechtmäßig.
Schlagworte:
Berufung, Feststellungsklage, Unterlassungsklage, Streikrecht, Koalitionsfreiheit, Verhältnismäßigkeit, Allgemeinverbindlichkeit
Vorinstanz:
ArbG Würzburg, Endurteil vom 25.07.2024 – 9 Ca 681/23
Fundstelle:
BeckRS 2025, 24068

Tenor

I. Die Berufung gegen das Endurteil des Arbeitsgerichtes Würzburg vom 25.07.2024 – 9 Ca 681/23 – wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit eines Warnstreiks und Schadensersatz dem Grunde nach. Die Klägerin ist ein Großhandelsunternehmen. Sie betreibt mehrere Auslieferungslager in Nordbayern mit weniger als 2.000 Mitarbeitern mit fallender Tendenz wegen Schließung zweier Auslieferungslager. Sie ist Mitglied im Arbeitgeberverband des bayerischen Groß- und Außenhandels und wendet den allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrag und den nicht allgemeinverbindlichen Entgelttarifvertrag für die Beschäftigten in den Betrieben des bayerischen Groß- und Außenhandels in ihren Betrieben an.
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Die Beklagte ist die zuständige Gewerkschaft im Handel und im Betrieb vertreten.
3
Der Entgelttarifvertrag lief zum 30.04.2023 aus.
4
Mit Schreiben vom 14.03.2023 (Bl. 24 der Akte) gab die Beklagte ihre Tarifforderungen bekannt:
- Tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte um 13%
- Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 250 €
- Die Laufzeit der Tarifverträge muss 12 Monate betragen
- In einer gemeinsamen Initiative soll die Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge erreicht werden.
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Die Tarifvertragsparteien einigten sich nicht. Ab 16.05.2023 rief die Beklagte nach den im Verfahren vorgelegten Streikaufrufen (Bl. 25 – 32 und 40 – 71 der Akte) zu Streiks von jeweils mehreren Tagen in den einzelnen Auslieferungslagern auf. In den Streikaufrufen an die Beschäftigten der Auslieferungslager in Bayern wurden nur die ersten drei konkreten Tarifforderungen kommuniziert. Ferner findet sich dort der Hinweis: „Unser Ziel ist eine akzeptable Tarifeinigung auf Grundlage der ver.di Forderungen.“ Ein erläuternder Hinweis darauf, dass damit auch eine gemeinsame Initiative für die Allgemeinverbindlichkeit erreicht werden sollte, erfolgte in den Streikaufrufen nicht. Infolge der Streikaufrufe kam es zu Streiks in den einzelnen Auslieferungslägern.
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Dieses Streikziel hatte die Beklagte auch in früheren Tarifauseinandersetzungen schon verfolgt.
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Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 05.07.2023 (Bl. 75 f der Akte) wies die Klägerin darauf hin, dass die Arbeitsniederlegungen nach ihrem Ausmaß nicht mehr als Warnstreik behandelt werden könnten und es sich bei dem Streikziel, gerichtet auf Zustimmung zu einem Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit, um ein rechtswidriges Streikziel handele. Die Beklagte wurde zur Beendigung der Streikmaßnahmen aufgefordert.
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Im Sommer 2023 reichte die Klägerin dann an verschiedenen Arbeitsgerichten in Bayern Anträge auf Erlass einstweiliger Verfügungen zur Untersagung von Streikmaßnahmen ein. Sie machte im Wesentlichen geltend, bei dem Streikziel einer gemeinsamen Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit handele es sich um ein rechtswidriges Streikziel. Die Beklagte hielt an diesem Streikziel fest.
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Das Arbeitsgericht Würzburg, Urteil vom 13.07.2023 – 9 Ga 5/23 – und das Arbeitsgericht Bayreuth, Urteil vom 17.07.2023 – 1 Ga 2/23 – wiesen die Unterlassungsanträge ab. Das Arbeitsgericht Nürnberg, Urteile vom 13.07.2023 – 3 Ga 23/23 und 3 Ga 24/23 – gab den Anträgen statt. Das LAG Nürnberg, Urteile vom 20.07.2023 – 3 SaGa 5/23, 3 SaGa 6/23, 3 SaGa 7/23 und 3 SaGa 8/23 – bestätigte die Arbeitsgerichte Würzburg und Bayreuth, hob die Urteile des Arbeitsgerichtes Nürnberg auf und wies auch hier die Anträge zurück.
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Das LAG Nürnberg konnte in den Berufungsverfahren eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des Streikzieles nicht feststellen.
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Mit Klageschrift vom 07.08.2023 machte die Klägerin u. a. Schadensersatzansprüche geltend.
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Sie trug vor dem Erstgericht vor:
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Die Streikmaßnahmen seien rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit ergebe sich zum einen daraus, dass die zustimmende Erklärung eines Arbeitgeberverbandes zum Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit kein Streikziel sein könne. Dies ergebe sich schon aus dem Wortlaut des § 5 TVG. Es ergebe sich ferner aus dem mit dieser gesetzlichen Neuregelung verfolgten Zweck.
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Die Rechtswidrigkeit ergebe sich ferner aus der Unverhältnismäßigkeit der Streikmaßnahmen. In einem nicht zu rechtfertigenden Umfang seien es gerade die Auslieferungslager der Klägerin, die mit Streikmaßnahmen überzogen würden. Bis Januar 2024 sei es in den vier Auslieferungslagern zu knapp 700 Streiktagen gekommen. Diese erfolgten „am Stück ohne operative Verschnaufpause“. Die Streikmaßnahmen endeten häufig am Freitag und begännen am Montag. Dies habe im Hinblick auf die Sonntagszuschläge erhöhte Arbeitskosten bei der erforderlichen Sonntagsarbeit zur Folge.
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Der Schaden sei groß. Er liege bei ca. 66.000,00 € pro Streiktag. Insgesamt sei mit über 13 Mio. € Schaden zu rechnen.
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Die Klägerin beantragte,
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche Schäden zu ersetzen, die der Klägerin durch Streikaufrufe der Beklagten anlässlich der Gehaltstarifverhandlungen für den Gehaltstarifvertrag im bayerischen Großhandel in den Betrieben
- H-Stadt bei I-Stadt und J-Stadt durch Streikaufrufe ab 16. Mai 2023,
- K-Stadt durch Streikaufrufe ab 23. Mai 2023 und
- im Betrieb L-Stadt ab 23. Mai 2023 entstanden sind.
2. Es wird festgestellt, dass die Streikaufrufe der Beklagten in den Betrieben der Klägerin
- K-Stadt, K-Straße, K-Stadt,
- H-Stadt bei I-Stadt, H-Straße, H-Stadt bei I-Stadt,
- J-Stadt, J-Straße, J-Stadt und – L-Stadt, L-Straße, L-Stadt mit dem Streikziel „gemeinsame Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ rechtswidrig sind.
3. Es wird festgestellt, dass die Streikaufrufe der Beklagten in den Betrieben der Klägerin
- K-Stadt, K-Straße, K-Stadt,
- H-Stadt bei I-Stadt, H-Straße, H-Stadt bei I-Stadt,
- J-Stadt, J-Straße, J-Stadt und
- L-Stadt, L-Straße, L-Stadt unverhältnismäßig und damit rechtswidrig sind.
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Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte trug vor dem Erstgericht vor:
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Die Tarifforderung einer gemeinsamen Erklärung der Tarifvertragsparteien zur Allgemeinverbindlicherklärung sei rechtmäßig. Es gelte der Grundsatz, was tariflich regelbar sei, sei auch erstreikbar. Dies gelte auch für den schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrages wie beispielsweise dessen Laufzeit oder wie hier die Verpflichtung zum gemeinsamen Antrag nach § 5 TVG.
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Der Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit falle in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG. Eine Auslegung von § 5 TVG, dass der gemeinsame Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung keine rechtmäßige Streikforderung sein könne, verletze die Koalitionsfreiheit der Beklagten.
21
Ferner sei die Rechtsprechung des BAG zur Gesamtrechtswidrigkeit des Streiks bei Rechtswidrigkeit einzelner Streikziele nicht vereinbar mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 EMRK.
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Der Streik sei auch nicht unverhältnismäßig. Die Beklagte entscheide nach dem Grundsatz der Kampfmittelfreiheit frei darüber, ob sie Warnstreiks oder Erzwingungsstreiks durchführe und welche Unternehmen sie bestreike.
23
Jedenfalls setze ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte deren Verschulden voraus. Ein solches Verschulden liege nicht vor. Die Rechtslage sei sorgfältig geprüft worden und letztlich hätten in den einstweiligen Verfügungsverfahren die überwiegende Zahl der beteiligten Gerichte das Streikziel der gemeinsamen Erklärung zur Allgemeinverbindlicherklärung für rechtmäßig gehalten.
24
Das Erstgericht wies die Klage mit Urteil vom 25.07.2024 ab. Es hat nur beim Klageantrag zu 1 ein Feststellungsinteresse bejaht im Hinblick auf die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch andauernden Streiks und damit noch anwachsenden Schadens. In der Sache hat es in der gemeinsamen Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlicherklärung ein tarifvertraglich regelbares und rechtmäßiges Kampfziel gesehen. Es sei vom grundgesetzlich gewährleisteten Recht der Koalitionen, sich für die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzusetzen, umfasst. Damit werde auch nicht in unzulässiger Weise in den unternehmerischen Autonomiebereich eingegriffen. Das Streikziel, eine bereits beschlossene Betriebsstillegung zu verzögern, sei rechtmäßig. Im Vergleich dazu stelle sich das Streikziel der gemeinsamen Erklärung zur Allgemeinverbindlicherklärung als weit weniger intensiv dar. Es handele sich dabei auch nicht um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter. Die gemeinsame Erklärung zur Allgemeinverbindlicherklärung setze nur das entsprechende Verfahren in Gang. Ein direkter Eingriff in die unternehmerische Freiheit liege nicht vor. Es handele sich auch nicht um einen unzulässigen Eingriff in die grundgesetzlich geschützte negative Koalitionsfreiheit. Der nicht verbandsangehörige Unternehmer werde durch die Allgemeinverbindlicherklärung nicht Mitglied des Verbandes. Auch dem Wortlaut des Gesetzes lasse sich nicht entnehmen, dass es sich um ein nicht durch Streik zu beeinflussendes Vetorecht einer der Tarifvertragsparteien handele. Dies gelte in gleicher Weise für die Gesetzeshistorie. Die Willensbildung des Arbeitgebers über seine Position zu den verschiedenen erhobenen Tarifforderungen treffe dieser eigenverantwortlich. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass seine Willensbildung hinsichtlich einer gemeinsamen Initiative auf Allgemeinverbindlicherklärung in besonderem Maße geschützt sei.
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Die Streikmaßnahmen würden auch nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Sie seien unter Beachtung der Einschätzungsprärogative der Beklagten geeignet und erforderlich zur Erreichung der angestrebten Kampfziele unter Berücksichtigung der nicht tarifgebundenen und genossenschaftlich mit der Klägerin verbundenen Unternehmen. Auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sei gewahrt. Es gehe nicht um die Existenzvernichtung der Klägerin.
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Das Urteil wurde der Klägerin am 09.09.2024 zugestellt. Sie legte am 11.09.2024 Berufung ein und begründete diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 02.12.2024 am gleichen Tag.
27
Die Klägerin trägt in der Berufung vor:
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Der Beklagten sei es mit dem Streikziel der gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages nicht darum gegangen, dass verbandsangehörige Unternehmen den Tarifvertrag auch auf die nicht tarifgebundenen Mitarbeiter ausdehnten. Ziel sei es gewesen, die tarifvertragliche Bindung von Unternehmen zu erreichen, bei denen es der Beklagten bisher nicht gelungen sei, über einen Firmentarifvertrag eine Anerkennung der entgelttariflichen Regelungen zu erzielen. Dabei seien gerade die Betriebe der Klägerin massiv bestreikt worden. Es sei davon auszugehen, dass kein anderer Betrieb im bayerischen Großhandel auch nur zu 20% in dem Umfang betroffen gewesen sei wie die Betriebe der Klägerin.
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Richtigerweise ergebe sich aus Wortlaut und Gesetzeshistorie des § 5 TVG, dass die dort geforderte gemeinsame Erklärung nicht erstreikbar sei. Das Gesetz verlange mit der gemeinsamen Erklärung auch entsprechende übereinstimmende Willenserklärungen. Dies beinhalte, dass jede Partei für sich und autonom und ohne Zwang zu der Erkenntnis gelange, dass sie diese Erklärung abgeben wolle. Davon könne bei einer erstreikten Erklärung nicht die Rede sein. Dies ergebe sich auch aus der Historie des § 5 Abs. 1 TVG. Vor dem Tarifautonomiestärkungsgesetz von 2015 habe jede Partei alleine den Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit stellen können, soweit das Quorum von 50% erreicht gewesen sei. Mit der gesetzlichen Neuregelung sei das Quorum weggefallen und die Einleitung des Verfahrens von einem gemeinsamen Antrag abhängig gemacht worden. Nach der Gesetzesbegründung sei dazu vermerkt worden, dass an die Stelle des Quorums „ein konkretisiertes öffentliches Interesse tritt“. Mit dem gemeinsamen Antrag habe sichergestellt werden sollen, dass die „Sozialpartner eine Abstützung der tariflichen Ordnung für notwendig erachten“. Die Möglichkeit eines Zwanges einer der Parteien zur gemeinsamen Erklärung durch Arbeitskampfmaßnahmen sei den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Der gesetzlichen Neuregelung sei das Einvernehmen der Parteien und damit die Freiwilligkeit immanent. Diese Neuregelung habe die Entscheidung über die Antragstellung in der Sphäre der verbandlichen Selbstbestimmung angesiedelt und nicht in der Sphäre der tarifvertraglichen Selbstbestimmung. Die gegenteilige Auslegung des Erstgerichtes ermangele einer tragfähigen und dogmatisch haltbaren Begründung.
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Arbeitskampfmaßnahmen könnten nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer Inhalte dienen. Dies seien entsprechend § 1 Abs. 1 TVG Tarifnormen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen. Daneben gäbe es die schuldrechtlichen Normen, die nicht die Arbeits- und Betriebsbeziehungen beträfen, sondern nur das Verhältnis der Tarifvertragsparteien untereinander. Nur in den schuldrechtlichen Normen sei eine Verpflichtung zur Stellung eines gemeinsamen Antrages auf Allgemeinverbindlicherklärung denkbar. Dieser gemeinsame Antrag sei nicht erstreikbar. Es handele sich dabei nicht um eine Arbeits- und Wirtschaftsbedingung iSd Art. 9 Abs. 3 GG. Der gemeinsame Antrag regele nur Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Insoweit sei der gemeinsame Antrag vergleichbar mit Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien über die Durchführung von Arbeitskämpfen oder über eine Schlichtung. Diese seien ebenfalls nicht erstreikbar.
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Jedenfalls sei im vorliegenden Fall der Streik unverhältnismäßig und rechtswidrig ungeachtet der Frage der Erstreikbarkeit des gemeinsamen Antrages auf Allgemeinverbindlichkeit. Sie, die Klägerin, wende den Manteltarifvertrag wie auch den Entgelttarifvertrag ungeachtet der Frage der Allgemeinverbindlichkeit auf alle Mitarbeiter an. Dies sei auch der Beklagten bekannt gewesen. Wären die tarifungebundenen Mitarbeiter der Klägerin das Ziel der Beklagten gewesen, hätte jederzeit bei entsprechender Forderung eine Verpflichtungserklärung der Klägerin abgegeben werden können. Ziel des Streiks sei die Geltungserstreckung des Entgelttarifvertrages auf nicht tarifgebundene Personen gewesen. Tarifvertragsregelungen seien Ausdruck des Prinzips der Tarifautonomie als kollektiv ausgeübter Privatautonomie. Dies könne sich nur auf die Arbeitsbeziehungen der durch sie Tarifgebundenen beziehen. Es könne deshalb nicht darauf abzielen, darüber hinaus auch Dritte der Tarifgeltung zu unterwerfen.
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In der Sache handele es sich um eine Art Unterstützungsstreik, der darauf abziele, die Tarifgeltung bei einer fremden Gruppe von Arbeitgebern durchzusetzen. Deshalb müssten die Regeln des Unterstützungsstreiks auch hier Anwendung finden, unabhängig davon, dass zwischen dem gemeinsamen Antrag und der Allgemeinverbindlicherklärung noch die in § 5 TVG vorgesehene Prüfung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu erfolgen habe. Auch beim Unterstützungsstreik müsse sich die mittelbar unter Druck gesetzte Arbeitgeberseite noch für den Tarifabschluss entscheiden. Beim Unterstützungsstreik sei u. a. eine besondere wirtschaftliche Nähebeziehung zwischen den bestreikten Arbeitgebern und den nicht kampfbeteiligten Arbeitgebern Voraussetzung für dessen Zulässigkeit. Diese Nähebeziehung liege nicht vor. Die Arbeitgeber im Groß- und Außenhandel stünden in Konkurrenz zueinander und hülfen sich nicht wechselseitig bei Arbeitskampfmaßnahmen.
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Die Klägerin und Berufungsklägerin stellt folgende Anträge:
1. Unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Würzburg, Kammer Schweinfurt, vom 25. Juli 2024, Aktenzeichen 9 Ca 631/23, wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche Schäden zu ersetzen, die der Klägerin durch Streikaufrufe der Beklagten anlässlich der Gehaltstarifverhandlungen für den Gehaltstarifvertrag im bayerischen Großhandel in den Betrieben
- H-Stadt bei I-Stadt und J-Stadt durch Streikaufrufe ab 16.Mai 2023,
- K-Stadt durch Streikaufrufe ab 23.Mai 2023 und
- im Betrieb L-Stadt ab 23. Mai 2023 entstanden sind.
2. Es wird festgestellt, dass die Streikaufrufe der Beklagten in den Betrieben der Klägerin
- K-Stadt, K-Straße, K-Stadt,
- H-Stadt bei I-Stadt, H-Straße, H-Stadt bei I-Stadt,
- J-Stadt, J-Straße, J-Stadt und – L-Stadt, L-Straße, L-Stadt mit dem Streikziel „gemeinsame Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ rechtswidrig sind.
3. Es wird festgestellt, dass die Streikaufrufe der Beklagten in den Betrieben der Klägerin
- K-Stadt, K-Straße, K-Stadt,
- H-Stadt bei I-Stadt, H-Straße, H-Stadt bei I-Stadt,
- J-Stadt, J-Straße, J-Stadt und
- L-Stadt, L-Straße, L-Stadt unverhältnismäßig und damit rechtswidrig sind.
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Und hilfsweise zu 2.
4. Der Beklagten wird verboten, Streikaufrufe anlässlich von Gehaltstarifvertragsverhandlungen im bayerischen Großhandel in den Betrieben der Klägerin in KStadt, H-Stadt bei I-Stadt und L-Stadt vorzunehmen mit dem Streikziel „gemeinsame Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrags im Großhandel“ vorzunehmen.
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Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
Die Berufung wird zurückgewiesen.
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Die Beklagte trägt in der Berufung vor:
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Die gemeinsame Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit sei tariflich regelbar und erstreikbar. Es handele sich dabei um die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen iSv Art. 9 Abs. 3 GG. Ein Bezug zu den Arbeitsbedingungen liege klar und deutlich vor. Die Allgemeinverbindlichkeit verfolge arbeitnehmerschützende Zwecke und reduziere den Wettbewerbsdruck durch nicht tarifgebundene Arbeitgeber. Damit könne sie auch Gegenstand eines Streiks sein. Auch das TVG stehe dem nicht entgegen. § 1 TVG unterscheide Normen und schuldrechtliche Regelungen, gebe aber nichts dafür her, dass nur Normen Gegenstand eines Arbeitskampfes sein könnten, schuldrechtliche Regelungen aber nicht oder nur eingeschränkt. Dies entspreche auch der Rechtsprechung der Instanzgerichte und des BAG. Auch § 5 TVG in der Fassung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes gebe dafür nichts her. Nach Wortlaut und Sinn und Zweck der Norm folge, dass die Allgemeinverbindlicherklärung tariflicher Regelungen erleichtert werden sollte. Der Ausschluss eines Arbeitskampfes mit diesem Ziel widerspräche dem.
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Auch grundrechtliche Positionen der Arbeitgeberseite stünden der Erstreikbarkeit der gemeinsamen Beantragung nicht entgegen. Dies gelte auch für Art. 12 GG. Als Verbandsmitglied habe die Klägerin die Verhandlungsmechanismen auf Verbandsebene und den Arbeitskampf zu akzeptieren. Ferner habe bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 5 TVG eine Tarifvertragspartei alleine der anderen Tarifvertragspartei das Verfahren zur Allgemeinverbindlichkeit aufdrängen können.
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Mit dem Streikziel der gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifes werde sichergestellt, dass Mitglieder der Beklagten, die ihre Mitgliedschaft dem Arbeitgeber nicht offenbaren wollten, trotzdem nach Tarif vergütet werden. Dies sei bei den häufig nicht im Verband organisierten Genossen der A., die die Einzelhandelsfilialen betrieben, von Bedeutung.
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Der Wortwahl des Gesetzgebers des Tarifautonomiestärkungsgesetzes lasse sich entnehmen, dass mit der Neuregelung des § 5 Abs. 1 TVG kein durch Streik nicht beeinflussbares Vetorecht geschaffen werden sollte. Dabei gehe es auch nicht um Zwang, sondern um die Vermeidung kollektiven Bettelns.
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Der von der Klägerin bemühte Vergleich des Streikzieles der gemeinsamen Initiative mit einem Unterstützungsstreik gehe fehl. Hier gehe es nicht darum, auf einen Dritten Druck auszuüben, sondern auf den am Arbeitskampf beteiligten Verband, um eine Erklärung abzugeben.
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Für den Fall, das Gericht würde in letzter Konsequenz die Rechtswidrigkeit dieses Streikzieles feststellen, wäre als Voraussetzung eines Schadensersatzanspruches ein Verschulden der Beklagten erforderlich. Insoweit sei die Rechtsprechung des BAG zu beachten, die bei neuartigen Tarifforderungen davon ausgehe, dass selbst bei der Feststellung eines rechtswidrigen Streikzieles der Gewerkschaft nicht ohne weiteres ein Verschuldensvorwurf gemacht werden könne. Ein Verschulden der Beklagten könne bei der Frage der Rechtmäßigkeit des Streikzieles der Allgemeinverbindlichkeit nicht angenommen werden, nachdem die Beklagte alles getan habe, um die Rechtslage zu prüfen und insbesondere entsprechende Rechtsgutachten eingeholt worden seien. Ferner sei auch der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens zu beachten. Der Arbeitskampf wäre in der vorliegenden Form auch ohne die Forderung nach der gemeinsamen Initiative im Hinblick auf die anderen Streikziele durchgeführt worden.
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In der mündlichen Verhandlung erklärt die Klägerin auf Befragen des Gerichts, dass die abschließende Zahl der Streiktage in den Betrieben der Klägerin derzeit ebenso wenig feststehe wie der entstandene Schaden. Die Beklagte erklärt auf Befragen des Gerichtes, der Organisationsgrad der Beschäftigten in der Branche in Bayern liege unter 10%. Auch im Warnstreik werde den Mitgliedern der Beklagten Streikgeld gezahlt in Abhängigkeit von der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit, sobald der Streik länger als vier Stunden dauere. Die Warnstreiks hätten im vorliegenden Fall im Raum M-Stadt am 17.05.2023 begonnen und die Beklagte viel Geld gekostet.
44
Die Parteien stellen unstreitig, dass die schließlich erzielte Tarifeinigung im Juni 2024 eine Erhöhung der Tabellenentgelte und der Ausbildungsvergütungen gebracht hätte sowie eine Inflationsausgleichsprämie und eine betriebliche Altersvorsorge. Ein gemeinsamer Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG sei nicht Gegenstand der Tarifeinigung gewesen.
45
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die tatbestandlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Ferner wird Bezug genommen auf die Berufungsbegründung der Klägerin vom 02.12.2024 und die Berufungserwiderung vom 20.01.2025.

Entscheidungsgründe

I.
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Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft, § 64 Abs. 1, Abs. 2 c ArbGG, und auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO.
II.
47
Die Berufung ist nicht begründet.
48
1. Die Klagen sind teilweise unzulässig.
49
Die Feststellungsklage Antrag zu 1. ist unzulässig. Es besteht kein Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO. Der Streik hat mit der Tarifeinigung im Juni 2024 geendet. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es im laufenden Berufungsverfahren nicht möglich ist, die entstandenen Schäden in der mittlerweile vergangenen Zeit von mehreren Monaten zu berechnen und einen bezifferten Antrag zu stellen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Klägerin im Jahr 2025 noch weitere Schäden aus dem im Juni 2024 beendeten Streik entstehen könnten. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, die Schäden seien noch nicht bezifferbar, ist sie jede Erklärung schuldig geblieben, warum dies der Fall sein soll. Die Zulässigkeit ergibt sich auch nicht aus § 256 Abs. 2 ZPO. Es ist keine Hauptklage anhängig.
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Die Feststellungsanträge zu 2. und 3. sind ebenfalls unzulässig. Sie sind nicht auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses, sondern einer Rechtsfolge gerichtet. Anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des BAG zur sogenannten Elementenfeststellungsklage. Danach liegt ein Feststellungsinteresse nur ausnahmsweise vor, wenn der Streit durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag insgesamt beseitigt wird und das Rechtsverhältnis der Parteien abschließend geklärt werden kann, BAG, Urteil vom 03.12.2019 – 9 AZR 54/19 –, Rn. 12. Dies ist nicht der Fall. Die Frage der Schadensersatzpflicht der Beklagten hängt von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab.
51
Die hilfsweise Klageerweiterung auf Untersagung von Streikaufrufen mit dem Streikziel „gemeinsame Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ ist damit zur Entscheidung angefallen. Es handelt sich um eine vorbeugende Unterlassungsklage. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für die Klägerin liegt vor. Die Klägerin möchte künftigen Störungen ihrer betrieblichen Abläufe durch Warnstreiks mit einem nach ihrer Auffassung unzulässigen Streikziel vorbeugen. Auf eine Wiederholungsgefahr kommt es hier nicht an. Als Globalantrag ist der Antrag auch hinreichend bestimmt nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Beklagten soll für jeden denkbaren Arbeitskampf im Groß- und Außenhandel in Bayern untersagt werden, das Streikziel „gemeinsame Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ zu verfolgen.
52
2. Die Unterlassungsklage ist unbegründet.
53
Die Beklagte hat mit der „gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ ein zulässiges Streikziel verfolgt. Dem stehen keine verfassungsrechtlichen oder einfachgesetzlichen Bedenken entgegen.
54
Das Erstgericht ist bei der Klage auf Feststellung der Schadensersatzpflicht mit sorgfältiger und zutreffender Begründung zum zutreffenden Ergebnis gelangt, dass ein rechtswidriges Handeln der Beklagten mit den durchgeführten Streiks mit dem Streikziel der „gemeinsamen Initiative“ nicht vorlag. Das Gericht nimmt daher Bezug auf die sorgfältigen und richtigen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Erstgerichtes und macht sich diese zu eigen, § 69 Abs. 2 ArbGG.
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Ergänzend ist noch festzustellen:
56
Nach der Rechtsprechung des BAG kann sich ein Anspruch auf Unterlassung einer Streikmaßnahme aus den §§ 1004 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB ergeben. Das Recht des Betriebsinhabers am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist danach deliktisch geschützt. Es ist auf die ungestörte Betätigung und Entfaltung des von dem Betriebsinhaber geführten Betriebs gerichtet und umfasst alles, was in seiner Gesamtheit den wirtschaftlichen Wert des Betriebs als bestehende Einheit ausmacht, BAG, Urteil vom 22.09.2009 – 1 AZR 972 08 –, Rn. 21. Der Unterlassungsanspruch ist gegeben, wenn sich das Streikgeschehen als rechtswidrig und seitens der kampfführenden Gewerkschaft bzw. deren Organen schuldhaft erweist, BAG, Urteil vom 26.07.2016 – 1 AZR 160/14 –, Rn. 21. Der Eingriff in den Gewerbebetrieb ist nicht rechtswidrig, wenn er als Arbeitskampfmaßnahme zulässig ist.
57
a.) Die Berufung macht geltend, bei dem gemeinsamen Antrag handele es sich nicht um Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen iSd Art. 9 Abs. 3 GG.
58
Dies ist unzutreffend. Die Beklagte bewegte sich mit dem Streikziel der „gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ in dem durch die Verfassung vorgegebenen Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG. Danach ist das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.
59
(1) Nach der Rechtsprechung des BAG sind danach die Tarifvertragsparteien für die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zuständig. Darunter fallen alle Faktoren, die im Zusammenwirken die Voraussetzungen und Bedingungen abhängiger Arbeit beeinflussen, BAG, Urteil vom 28.06.2001 – 6 AZR 114/00 –, Rn. 97. Das geht weit über das Aushandeln von Arbeitsbedingungen hinaus. Der Schutz der koalitionsmäßigen Betätigung ist nicht auf einen Kernbereich beschränkt. Er geht auch über den Bereich der Tarifautonomie hinaus und umfasst nicht nur Aktivitäten, die der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge dienen. Vielmehr gehört zu der geschützten Betätigungsfreiheit auch das Recht, im gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die organisierten Gruppeninteressen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien darzustellen und zu verfolgen, BAG, Urteil vom 25.01.2005 – 1 AZR 657/03 –, Rn. 19 zu einer gewerkschaftlichen Unterschriftenaktion. Dieses weite Verständnis der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wird auch vom Verfassungsgericht geteilt. Dieses hat auch schon wiederholt darauf hingewiesen, dass mit Tarifverträgen und deren Allgemeinverbindlicherklärung Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geregelt werden, BVerfG, Beschluss vom 15.07.1980 – 1 BvR 24/74 –, Rn. 44; BVerfG, Beschluss vom 10.01.2020 – 1 BvR 4/17 –, Rn. 13.
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(2) Nach diesen Maßstäben fällt das hier streitige Streikziel unter die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen iSd Art. 9 Abs. 3 GG. Der gemeinsame Antrag der Tarifvertragsparteien ist nach der gesetzlichen Neuregelung mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz notwendige Voraussetzung der Prüfung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung vorliegen. Mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung werden für einen anderen Adressatenkreis ebenso Arbeitsbedingungen geregelt wie mit dem von der Allgemeinverbindlichkeitserklärung betroffenen Tarifvertrag.
61
b.) Die Beklagte verletzt mit dem Streikziel der „gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ keine grundrechtlich geschützten Positionen der Klägerin.
62
(1) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet. Es genießt jedoch keinen höheren Schutz als andere Grundrechte. Es kann durch andere verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie insbesondere die in den Art. 12 und 14 GG geschützten Rechtsgüter eingeschränkt werden. In jedem Fall bedarf es eines verhältnismäßigen Ausgleichs der sich entgegenstehenden Grundrechtspositionen, ohne dass das eine Grundrecht das andere Grundrecht vollständig verdrängt. Der Ausgleich ist herbeizuführen nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz, BVerfG, Beschluss vom 09.07.2020 – 1 BvR 719/19 –, Rn. 9.
63
(2) Nach diesen Maßstäben ist eine Rechtswidrigkeit des Streikzieles der „gemeinsamen Initiative“ nicht ersichtlich. Das Erstgericht hat dazu zutreffend ausgeführt. Die Berufung greift dies auch nicht an.
64
c.) Die Berufung macht geltend, es ergäbe sich aus Wortlaut und Gesetzeshistorie der Neuregelung des § 5 TVG, dass die dort geforderte gemeinsame Erklärung nicht erstreikbar sei.
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Dies ist unzutreffend. Dem Streikziel der „gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ stehen die von der Berufung ins Feld geführten einfachgesetzlichen Bedenken nicht entgegen.
66
(1) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet. Es genießt jedoch keinen höheren Schutz als andere Grundrechte.
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Es kann deshalb durch den einfachen Gesetzgeber zugunsten anderer Ziele mit Verfassungsrang beschränkt werden wie sie beispielsweise in den Art. 12 und 14 GG normiert sind. Der Gesetzgeber hat dabei große Gestaltungsspielräume. Die Grenze dieser Gestaltungspielräume bildet der objektive Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG. In den Worten des BVerfG muss deshalb ein Bereich gewahrt bleiben, in dem die Tarifvertragsparteien ihre Angelegenheiten grundsätzlich selbstverantwortlich und ohne staatliche Einflussnahme regeln können, BVerfG, Beschluss vom 19.06.2020 – 1 BvR 842/17 –, Rn. 20. Dies wirkt sich auf die Zulässigkeit von Maßnahmen des Arbeitskampfes aus. Die Funktionsfähigkeit der Tarifvertragsparteien darf durch Arbeitskampf nicht gefährdet werden, was nur gilt, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Kräftegleichgewicht, eine Parität besteht. Unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG ist es daher jedenfalls, wenn die Verhandlungsfähigkeit einer Tarifvertragspartei bei Tarifauseinandersetzungen einschließlich der Fähigkeit, einen wirksamen Arbeitskampf zu führen, nicht mehr gewahrt bleibt und ihre koalitionsmäßige Betätigung weitergehend beschränkt wird, als es zum Ausgleich der beiderseitigen Grundrechtspositionen erforderlich ist, BVerG, aaO zu den Regelungen des Einsatzes von Leiharbeitnehmern im Arbeitskampf des § 11 Abs. 5 AÜG. Auch das BAG sieht in der Rechtsordnung, die das Grundrecht nach Art. 9 Abs. 3 GG ausgestaltet, eine Grenze für die Zulässigkeit von Streiks, BAG, Urteil vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06 –, Rn. 14. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund gehalten, bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzes die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden, BAG, Urteil vom 20.11.2018 – 1 AZR 189/17 –, Rn. 20.
68
Nach diesen Maßstäben können sich auch aus dem TVG Beschränkungen für den Arbeitskampf ergeben. Dies kommt schon zum Ausdruck in der ständigen Rechtsprechung des BAG, dass Arbeitskampfmaßnahmen auf die Durchsetzung eines tariflich regelbaren Zieles gerichtet sein müssen, BAG, Urteil vom 10.12.2002 – 1 AZR 96/02 –, Rn. 43 und in jüngerer Zeit BAG, Urteil vom 26.07.2016 – 1 AZR 160/14 –, Rn. 52. Dabei wird § 1 TVG der einfachgesetzliche Prüfmaßstab.
69
(2) Nach diesen Maßstäben ergibt sich aus dem TVG nicht, dass die Beklagte mit der „gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ ein tariflich nicht regelbares Ziel verfolgt hätte.
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Nach § 1 TVG werden in einem Tarifvertrag die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien geregelt sowie Rechtsnormen gesetzt, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können. Rechtssystematisch ist danach zu unterscheiden zwischen den normativen Regelungen in einem Tarifvertrag und den schuldrechtlichen Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien, die deren Verhältnis näher regeln.
71
Alleine aus dieser Unterscheidung lässt sich eine grundsätzliche Unzulässigkeit eines Arbeitskampfes, gerichtet auf eine schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien, nicht ableiten, LAG Nürnberg, Urteil vom 13.07.2023 – 3 SaGa 6/23 –, Rn. 44, LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.08.2012 – 22 SaGa 1131/12 –, Rn. 79, LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.02.2019 – 4 Sa 40/18 –, Rn. 148. Dies gilt auch für das hier verfolgte Streikziel der gemeinsamen Initiative als denknotwendig schuldrechtliche Vereinbarung zwischen dem Verband und der Beklagten.
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Die Berufung macht im Zusammenhang mit § 1 TVG geltend, der „gemeinsame Antrag“ sei nicht erstreikbar, weil es sich dabei nicht um eine Arbeits- und Wirtschaftsbedingung iSd Art. 9 Abs. 3 GG handele. Der „gemeinsame Antrag“ regele nur Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Die Berufung hebt damit auch nicht darauf ab, dass eine schuldrechtliche Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien nicht Ziel eines Arbeitskampfes sein könnte. Sie meint nur, dass mit diesem Ziel der Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen iSd Art. 9 Abs. 3 GG verlassen werde. Dies ist nicht der Fall, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde.
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Nach § 5 Abs. 1 Satz TVG ist der gemeinsame Antrag zwingende Voraussetzung für die Einleitung des Verfahrens auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
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Die Berufung macht hier geltend, aus Wortlaut und Gesetzeshistorie des § 5 TVG ergebe sich zwingend, dass die dort geforderte gemeinsame Erklärung nicht erstreikbar sei. Das Gesetz verlange mit der gemeinsamen Erklärung auch entsprechende übereinstimmende Willenserklärungen. Dies beinhalte, dass jede Partei für sich und autonom und ohne Zwang zu der Erkenntnis gelange, dass sie diese Erklärung abgeben wolle. Davon könne bei einer erstreikten Erklärung nicht die Rede sein.
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Dies ist unzutreffend. Für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers durch die Gerichte dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen, in jüngerer Zeit BAG, Urteil vom 25.01.2024 – 8 AZR 318/22 –, Rn. 15. Danach enthält § 5 Abs. 1 Satz TVG schon dem Wortlaut nach keine ausdrückliche positive oder negative Regelung zum Arbeitskampf bzw. die Unzulässigkeit des Arbeitskampfes um den gemeinsamen Antrag. Eine solche ausdrückliche Regelung möglicher Verhaltensweisen im Arbeitskampf enthält beispielsweise § 11 Abs. 5 AÜG. Der Gesetzeswortlaut verlangt auch nur einen „gemeinsamen Antrag“, er verlangt aber nicht einen beiderseits „freiwilligen gemeinsamen Antrag“. Aus den weiteren Auslegungskriterien ergibt sich kein anderes Ergebnis.
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Die Berufung weist zu Recht darauf hin, dass nach der Gesetzesbegründung nicht mehr nur auf den Antrag einer Tarifvertragspartei, sondern auf den gemeinsamen Antrag beider Tarifvertragsparteien abzustellen ist, weil damit nach den Gesetzesmaterialien gewährleistet sei, „dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrages erforderlich erscheint“, BT-Drucksache 18/1558. Dahinter verbirgt sich die Erwartung einer gemeinsamen Einsicht der Tarifvertragsparteien. Dies steht jedoch im Widerspruch zum Ziel der Gesetzesänderung, der schon im Namen des Gesetzes zum Ausdruck kommt. Die Änderung des § 5 Abs. 1 TVG erfolgte im Rahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Es ging also darum, die Tarifautonomie zu stärken, also im Ergebnis den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit zu geben, in stärkerem Maße für Tarifbindung zu sorgen als nach altem Recht. Nach altem Recht war es abgesehen von der Situation eines sozialen Notstandes nur möglich, die Allgemeinverbindlichkeit anzustreben, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber wenigstens 50% der unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer beschäftigten. Dies wurde in Zeiten abnehmender Tarifbindung auf beiden Seiten eine zunehmend hohe Hürde für die Einleitung des Verfahrens auf Allgemeinverbindlicherklärung. Das Quorum ist nach der gesetzlichen Neuregelung nicht mehr die Voraussetzung der staatlichen Prüfung, ob eine Allgemeinverbindlichkeit in Betracht kommt. Sie ist nunmehr im Rahmen des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG nur noch ein erhebliches Abwägungskriterium. Dies zeigt ebenfalls die Gesetzesbegründung, wenn dort ausgeführt wird, dass in die Abwägungsentscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum öffentlichen Interesse an der Allgemeinverbindlichkeit insbesondere einzubeziehen ist, ob die Tarifvertragsparteien darlegen können, dass der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat und sich die überwiegende Bedeutung in erster Linie aus der mitgliedschaftlichen Tarifbindung ergibt. Die fehlende überwiegende Bedeutung steht nach der Gesetzesbegründung der Allgemeinverbindlichkeit nur dann nicht im Wege, wenn die Tarifvertragsparteien darlegen können, dass die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG die Absicherung der Wirksamkeit tarifvertraglicher Normsetzung durch deren Allgemeinverbindlicherklärung verlangt. Der Prüfprozess des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sollte also in Gang gesetzt werden können anstelle des Quorums durch eine gemeinsame Antragstellung. Es ist nun aus der Gesetzesbegründung wie auch dem Zweck des Gesetzes, den Tarifverträgen in der Arbeitswelt wieder zu einem höheren Geltungsbereich zu verhelfen, nichts dafür ersichtlich, die Zustimmung des Tarifpartners auf der Arbeitgeberseite der Möglichkeit des Arbeitskampfes zu entziehen.
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Dies ergibt noch ein weiterer Vergleich mit der Situation vor der Änderung des § 5 TVG. In der Vergangenheit hatte die Gewerkschaft die Möglichkeit, durch entsprechende Arbeitskämpfe gegen tarifungebundene Arbeitgeber die Quote der unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer zu erhöhen, um die Voraussetzungen für die Eröffnung des Verfahrens auf Allgemeinverbindlichkeit herzustellen. Diese Möglichkeit, durch möglicherweise langwierige Arbeitskampf die Voraussetzung des Quorums für das Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung herzustellen, ist der Gewerkschaft durch die gesetzliche Neuregelung genommen. Entzöge man der Gewerkschaft die Möglichkeit, das Einvernehmen des Arbeitgebers zum Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung zu erkämpfen, wäre kein Arbeitskampf der Gewerkschaft mit dem Ziel der Allgemeinverbindlicherklärung mehr möglich.
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Die Berufung macht wiederholt geltend, es müsse sich bei der Zustimmung zum gemeinsamen Antrag um eine autonome Entscheidung des Tarifpartners auf der Arbeitgeberseite handeln. Die Berufung erhebt damit wohl die Entscheidung über die Zustimmung zum gemeinsamen Antrag zu einem Kernelement der unternehmerischen Betätigungsfreiheit, die grundsätzlich durch Art. 12 GG geschützt ist. Diesen Kernbereich hat das BAG andeutungsweise umschrieben und fasst unter die „eigentliche“ Unternehmerfreiheit Betriebsschließungen oder wesentliche Betriebseinschränkungen, die durch tarifvertragliche Regelungen verzögert werden können, BAG, Urteil vom 21.06.2000 – 4 AZR 379/99 –, Rn. 27. Dies ist hier offensichtlich nicht der Fall. Die Berufung weist selbst darauf hin, dass die Tarifforderung sich aus ihrer Sicht nicht auf eine Änderung der Situation bei der Klägerin bezieht, sondern bei Dritten.
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d.) Dem Streikziel der „gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ stehen auch nicht die von der Berufung ins Feld geführten Bedenken im Hinblick auf eine Unverhältnismäßigkeit entgegen, gemessen an den Kriterien der Rechtsprechung zum Unterstützungsstreik.
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(1) Nach der Rechtsprechung des BAG ist der Unterstützungsstreik schon deswegen zulässig, weil der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, mithin auch den Streik erstreckt und als koalitionsmäßige Betätigung auch Arbeitskampfmaßnahmen umfasst, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Dazu zählt nach Auffassung des BAG auch der Unterstützungsstreik, mit dem eine andere Gewerkschaft in ihrem Arbeitskampf um einen Tarifabschluss unterstützt wird, BAG, Urteil vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06 –, Rn. 12. Im Übrigen richtet sich die Zulässigkeit des Unterstützungsstreiks nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
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(2) Nach diesen Maßstäben ist der Arbeitskampf mit dem Ziel der gemeinsamen Erklärung nicht unverhältnismäßig.
82
Die Berufung weist zu Recht darauf hin, dass das hier verfolgte Streikziel Ähnlichkeiten aufweist mit dem Unterstützungsstreik. Hier wie dort geht es nicht darum, für die eigenen Mitglieder bestimmte Ziele zu verfolgen, sondern für andere Arbeitnehmer. Das Gericht teilt jedoch nicht die Auffassung der Berufung, dass sich aus einer deshalb gebotenen entsprechenden Anwendung der Prüfungsmaßstäbe des BAG für Unterstützungsstreiks ergäbe, dass das Streikziel unverhältnismäßig und deshalb rechtswidrig wäre. Denn mit der Überlegung, dass es in beiden Fällen um die Arbeitsbedingungen Dritter und nicht der eigenen Mitglieder im vom Arbeitskampf betroffenen Bereich geht, enden die Ähnlichkeiten schon. Die Beklagte kämpft mit dem Streikziel der gemeinsamen Erklärung nicht um ein Streikziel in einem anderen Tarifbereich, sondern um ein eigenes Ziel. Dieses eigene Ziel ist die Erstreckung der von ihr ausgehandelten Tarifbedingungen auf einen weiteren Adressatenkreis. Von daher ist kein Raum für die Prüfung der Nähebeziehung, die das BAG im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Unterstützungsstreikes durchführt.
83
Ferner wird in ständiger Rechtsprechung des BAG darauf hingewiesen, dass die Frage der Unverhältnismäßigkeit nur im konkreten Einzelfall unter Abwägung aller Umstände dieses Einzelfalles beurteilt werden kann und sich in diesem Zusammenhang eine generelle Grenzziehung verbietet für die Rechtmäßigkeit von Streiks. Von daher kann mit den Überlegungen der Berufung die Rechtswidrigkeit des Arbeitskampfzieles der gemeinsamen Erklärung nicht generell beantwortet werden, wie es für die noch zur Entscheidung stehende und in die Zukunft gerichtete Unterlassungsklage erforderlich wäre.
84
e.) Damit kommt es auf die Problematik einer Wiederholungsgefahr nicht mehr an. Aus Sicht des Gerichtes ist eine solche gegeben. Die Beklagte hat unstreitig schon wiederholt dieses Streikziel in verschiedenen Arbeitskämpfen verfolgt. Sie hat auch in den verschiedenen einstweiligen Verfügungsverfahren zwischen den Parteien während des laufenden Streiks an diesem Streikziel festgehalten.
85
f.) Auch auf die weiteren Streitpunkte zwischen den Parteien kommt es ebenfalls nicht mehr an.
86
Die Berufung war unbegründet.
III.
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1. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.
88
2. Die Revision war zuzulassen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit, § 72 Abs. 1 ArbGG.