Inhalt

VGH München, Beschluss v. 02.09.2025 – 20 CE 25.1549
Titel:

Nachweispflicht für Masernimpfung, Kindertagesstätte, Religiöse Vorbehalte gegen die verfügbaren Impfstoffe

Normenketten:
VwGO § 146
IfSG § 20 Abs. 9 bis 12
GG Art. 4 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2
Schlagworte:
Nachweispflicht für Masernimpfung, Kindertagesstätte, Religiöse Vorbehalte gegen die verfügbaren Impfstoffe
Vorinstanz:
VG Augsburg, Entscheidung vom 24.07.2025 – Au 9 E 25.1547
Fundstelle:
BeckRS 2025, 22508

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

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1. Die Beschwerde (§ 146 VwGO) ist unbegründet, weil sich der für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht ausdrücklich verfolgte Antrag, dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aufzugeben, die Klägerin und Antragstellerin zu 3. ab dem Schul- und Kindergartenjahr 2025/2026 zur Betreuung in die Kindertagesstätte aufzunehmen, gegen den falschen Beklagten richtet. Der Freistaat Bayern ist rechtlich nicht in der Lage und damit nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO nicht passivlegitimiert, der Antragstellerin den begehrten Anordnungsanspruch zu gewähren, da zwischen ihm und der Antragstellerin zu 3. kein Betreuungsvertrag abgeschlossen wurde, aus dem die begehrte Aufnahme in die konkrete Einrichtung abgeleitet werden könnte und weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass der Freistaat hinsichtlich der Kindertagesstätte eine Entscheidungsbefugnis besitzt.
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2. Das Verwaltungsgericht hat in Folge der von ihm vorgenommenen Auslegung des ausdrücklich auf Aufnahme in die Einrichtung gerichteten Antrags über einen Streitgegenstand entschieden, der durch die Antragsteller nicht anhängig gemacht worden ist. Mit der Auslegung, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei so zu verstehen, dass vorbeugend festgestellt werden solle, dass für die Antragstellerin zu 3. ab dem Schul- und Kindergartenjahr 2025/2026 (Beginn am 1. September 2025) auf der Grundlage des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG, § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG kein Betretungsverbot für den von den Antragstellern zu 1. und 2. ausgewählten Kindergarten ausgesprochen wird, hat das Verwaltungsgericht die Grenzen des § 88 VwGO überschritten. Zwar ist eine am Rechtsschutzziel (Art. 19 Abs. 4 GG) orientierte Auslegung des Antrags durch die Gerichte im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich nach § 88 VwGO möglich. Dabei dürfen an die Formulierung von Anträgen auch anwaltlich vertretener Antragsteller keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Februar 2025, § 123 VwGO Rn. 4a). Der ausdrücklich nur auf Aufnahme in die Einrichtung gerichtete Antrag konnte jedoch nicht nur in dem vom Verwaltungsgericht verstandenen Sinn gemeint sein (vgl. Klageantrag Ziffer 3. und Hilfsantrag Ziffer 4. im Hauptsacheverfahren, Schriftsatz der Antragsteller vom 13. Juni 2025). Die Rechtsschutzmöglichkeiten in Fallkonstellationen, die sich in Zusammenhang mit der Nachweispflicht einer Masernimpfung nach § 20 IfSG stellen können, sind sowohl im Hinblick auf die Beteiligten eines Rechtsstreits als auch im Hinblick auf mögliche behördliche Maßnahmen und unmittelbar geltende gesetzliche Regelungen vielfältig, so dass der Dispositionsbefugnis der Beteiligten ein hohes Gewicht zukommt. Da sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit demselben Wortlaut gegen drei verschiedene Antragsgegner richtete, steht eine Auslegung, die sich an dem jeweiligen Antragsgegner orientiert, nicht mehr in Einklang mit § 88 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr über einen Streitgegenstand entschieden, der nicht Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens war.
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3. Soweit die Antragsteller mit ihrer Beschwerde (auch) den Antrag auf vorbeugende Feststellung der Unzulässigkeit der Verhängung eines Betretungsverbots nach § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG (weiter) verfolgen, handelt es sich um eine unzulässige Antragsänderung. Im Beschwerdeverfahren gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts nach §§ 80, 80a, 123 VwGO ist gem. § 146 Abs. 4 VwGO für eine Klage- bzw. Antragsänderung regelmäßig kein Raum, weil die Beschwerde der Intention des Gesetzgebers zufolge nach § 146 Abs. 4 Satz 3 und Satz 6 VwGO nur zulässig ist, soweit sie der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung dient. Ggf. muss erneut erstinstanzlicher Eilrechtsschutz in Anspruch genommen werden (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 20 CE 20.960 – juris; B. v. 7.05.2018 – 10 CE 18.464 -- juris Rn. 5; VGH BW, B.v. 21.07.2020 – 12 S 1545/20 – juris Rn. 23; OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 21.5.2019 – 2 M 49/19 – juris Rn. 8; NdsOVG, B.v. 23.11.2018 – 10 ME 372/18 – juris Rn. 5; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl., § 146 Rn. 25; Riese in Schoch/Schneider, VerwaltungsR, Stand Februar 2025, § 91 VwGO Rn. 92).
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Zudem liegen hier die Voraussetzungen einer Antragsumstellung analog § 91 VwGO nicht vor. Die Antragsänderung ist nicht sachdienlich, weil der geänderte Antrag bereits unzulässig ist (vgl. Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 91 Rn 31 m.w.N.). Sollte dem Antrag in der Sache stattgegeben und die begehrte Feststellung ausgesprochen werden, stünde einer Aufnahme der Antragstellerin zu 3. in die Kindertagesstätte bereits das gesetzliche Betreuungsverbot des § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG entgegen, weil die Antragstellerin zu 3. den nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG für die Aufnahme der Betreuung in der Einrichtung nach § 33 Nr. 1 IfSG erforderlichen Nachweis bislang nicht vorgelegt hat (und auch die Voraussetzungen nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Nrn. 2 und 3 IfSG nicht vorliegen). Da der Inhalt der mit dem im Beschwerdeverfahren gestellten Antrag, vorbeugend festzustellen, dass gegenüber der Antragstellerin zu 3. kein Betretungsverbot nach § 20 Abs. 12 Satz 4 ausgesprochen werden darf, nicht geeignet ist, die Rechtsstellung der Antragsteller zu verbessern, nützt der Erlass einer entsprechenden Regelungsanordnung den Antragstellern nichts. Die Anrufung des Gerichts ist in diesem Fall überflüssig (vgl. BVerwG, B.v. 31.3.2023 – 1 W-VR 2.23 – BeckRS 2023, 8914; BVerfG, B.v. 10.6.2020 – 1 BvR 297/20 – BeckRS 2020,13383; Dombert in Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 8. Aufl. 2025, § 12 Rn. 13 m.w.N.; Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, Stand 2018, § 123 Rn. 70). Auch greift die Möglichkeit der Behörde, ein Betretungsverbot nach § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG gegenüber dem Kind auszusprechen erst ein, nachdem das Kind in die Einrichtung aufgenommen wurde (BR-Drs. 358/19 S. 28 und BT-Drs. 19/13452 S. 29). Bereits aus diesem Grund ist dieser Antrag unzulässig. Deswegen kann auch dahinstehen, ob einem Antragsteller tatsächlich ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse für eine vorbeugende Untersagung zugesprochen werden kann. Dies ist angesichts der besonderen Verfahrensgestaltung in § 20 Abs. 12 IfSG durchaus zweifelhaft.
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4. Ohne dass es für die Entscheidung noch darauf ankäme, weist der Senat darauf hin, dass ein Antrag auf Feststellung, dass kein Betreuungsverbot nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG besteht, voraussichtlich keinen Erfolg hätte:
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a. Mit der Beschwerde wird ausschließlich geltend gemacht, die Antragsteller, im besonderen Maße die Antragstellerin zu 1., sähen sich aus religiösen Gründen (Art. 4 GG) daran gehindert, den geforderten Nachweis vorzulegen, weil eine Impfung mit dem zugelassenen Masernimpfstoff gegen den Schutz ungeborenen Lebens verstoße und dies mit ihren wesentlichen Glaubensgrundsätzen, insbesondere mit denen der Antragstellerin zu 1., unvereinbar sei. Grund hierfür sei, dass bei der Herstellung des Impfstoffs gegen Röteln die Impfseren in abgetriebenen Föten gezüchtet würden. Eine Abtreibung sei mit dem Schutz ungeborenen Lebens und mit einem fundamentalen Grundsatz der römisch-katholischen Kirche nicht vereinbar. Dies gelte auch für Folgehandlungen, also etwa die Verwendung von Föten zur Herstellung von Impfstoffen.
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b. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 21. Juli 2022 (Az.: 1 BvR 469/20 u.a. – NJW 2022, 2904) keinen Verstoß des § 20 IfSG gegen das Grundgesetz festgestellt.
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Vielmehr hat es auf Folgendes hingewiesen (Rn. 136):
„Bei den hier zu beurteilenden Regelungen ist das Gewicht des die Gesundheitssorge treffenden Eingriffs in das Elternrecht dadurch reduziert, dass die Impfung nach medizinischen Standards gerade auch dem Gesundheitsschutz der auf- und nachweisverpflichteten Kinder selbst dient. Nach fachgerichtlicher Einschätzung bilden die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission den medizinischen Standard ab und der Nutzen der jeweils empfohlenen „Routineimpfung“ überwiegt das Impfrisiko (vgl. BGHZ 144, 1 (9) = NJW 2000, 1784; BGH NJW 2017, 2826 Rn. 25). Regelmäßig ist damit die Vornahme empfohlener Impfungen dem Kindeswohl dienlich. Davon geht auch die fachgerichtliche Rechtsprechung für Sorgerechtsentscheidungen bei Streitigkeiten über empfohlene Schutzimpfungen zwischen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern aus (vgl. OLG Frankfurt a. M. NJW-RR 2021, 1301 Rn. 21; OLG München 18.10.2021 – 26 UF 928/2 Rn. 25)“.
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Anhaltspunkte dafür, dass individuelle religiöse Überzeugungen, die – jedenfalls was die Folgen einer möglicherweise ethisch problematischen Impfstoffherstellung betrifft – nicht mit der Haltung der Amtskirche, der die Antragsteller zu 1. und 2. angehören, in Einklang stehen, zu einer Einschränkung der Nachweispflicht nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG führen könnten, finden sich in der genannten Entscheidung des BVerfG nicht (vgl. zur Vereinbarkeit einer Impfpflicht für Kinder mit Art. 9 der EMRK: EGMR, U.v. 8.4.2021 – 47621/13 u.a (Vavřička ua/Tschechien) – NJW 2021, 1657 Rn. 330 ff.). Insoweit hat sich auch die Impfentscheidung am Kindeswohl zu orientieren und nicht vorrangig an der religiösen Überzeugung der Eltern.
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Das Gewicht des Eingriffs in das Recht der Antragstellerin zu 3. aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird zudem dadurch abgemildert, dass die angegriffenen Maßnahmen die Freiwilligkeit der Impfentscheidung der Eltern als solche nicht aufheben und diesen damit die Ausübung der Gesundheitssorge für ihr Kind im Grundsatz belassen. Sie ordnen keine mit Zwang durchsetzbare Impfpflicht an (vgl. auch § 28 Abs. 1 Satz 3 IfSG). Vielmehr verbleibt den für die Ausübung der Gesundheitssorge zuständigen Eltern im Ergebnis ein relevanter Freiheitsraum (vgl. zum verbleibenden Freiheitsraum auch BVerfG, B. v. 27.4.2022 – 1 BvR 2649/21 –, Rn. 209, 221, 232). Sorgeberechtigte Eltern können auf eine Schutzimpfung des Kindes verzichten. Dann müssen sie allerdings den Nachteil in Kauf nehmen, dass sie eine andere Form der Kinderbetreuung (bspw. in der nicht erlaubnispflichtigen Tagespflege) finden müssen (BVerfG, B. v. 21.7.2022 – 1 BvR 469/20 – BVerfGE 162, 378-454, juris Rn. 143).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2025.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.