Titel:
Erfolgloser Eilantrag auf Aussetzung einer Abschiebung
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 1
AEUV Art. 20
Leitsätze:
1. Ist das Hauptsacheverfahren entschieden fehlt bzw. entfällt für einen Antrag auf eine diesbezügliche Sicherungsanordnung das Rechtsschutzbedürfnis. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. In einem auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung gerichteten Verfahren sind die Gerichte insbesondere verpflichtet, seit dem Beurteilungszeitpunkt im Klageverfahren eingetretene Änderungen des Sachverhalts, die für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erheblich sind, in einer dem Gewicht der behaupteten Grundrechtsverletzung angemessenen Intensität zu würdigen (Anschluss an VGH Mannheim BeckRS 2025, 4499). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ist einem Antrag auf Erteilung einer Duldung ein Klageverfahren über eine Ausweisung vorangegangen ist die grundrechtliche Abwägung hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung unter Einbeziehung dieses neuen Umstandes vornehmen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Gegen eine für das entstehen eines für einen Drittstaatsangehörigen aus Art. 20 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrechts relevante rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger im Unionsgebiet mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der entweder deutscher Staatsangehöriger ist oder als Ausländer über ein freizügigkeits- oder aufenthaltsrechtlich begründetes Daueraufenthaltsrecht verfügt sowie berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (Anschluss an VGH Mannheim BeckRS 2025, 4682). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aussetzung der Abschiebung (Duldung), Rechtskräftige Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung, Rechtliche Unmöglichkeit, Familiäre Lebensgemeinschaft mit zwei deutschen Kindern, Affektive Abhängigkeit, Entgegenstehende öffentliche Interessen, Ausweisungsinteresse, Verbindungen zum IS bzw. zur jihadistisch-salafistischen Szene, Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten wegen Betrugs in acht Fällen, versuchten Betrugs in zwanzig Fällen, vorsätzlichen Subventionsbetrugs in acht Fällen, rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung, familiäre Bindung, tatsächliche Verbundenheit und Anteilnahme, Ausweisungsentscheidung, Unionsbürgerschaft, abgeleitetes Aufenthaltsrecht, rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit
Vorinstanz:
VG Ansbach, Entscheidung vom 10.04.2025 – AN 11 E 24.2923
Fundstelle:
BeckRS 2025, 22497
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250 € festgesetzt.
Gründe
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1. Der 1987 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist nach Aktenlage verlobt mit einer deutschen Staatsangehörigen, mit der er zwei gemeinsame Töchter deutscher Staatsangehörigkeit (geb. 2016 bzw. 2018) hat.
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Er wurde mit Bescheid vom 27. November 2023 sofort vollziehbar aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen; es wurde ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. angedroht. Der Ausweisung lag zugrunde, dass der Antragsteller wegen Betrugs in acht Fällen, versuchten Betrugs in zwanzig Fällen, vorsätzlichen Subventionsbetrugs in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt worden war und Anhaltspunkte dafür bestanden, dass er Verbindungen zum IS bzw. zur jihadistisch-salafistischen Szene pflegte und sich hiervon nicht distanziert hat.
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Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos (VG Ansbach, U.v. 26.8.2024 – AN 11 K 23.2612 – n.v.). Der Senat wies den Antrag auf Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 20. Februar 2025 (19 ZB 24.1825) zurück.
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Noch vor der Entscheidung des Senats beantragte der Antragsteller unter dem 19. November 2024, die Antragsgegnerin zu verpflichten, seine Abschiebung bis zu einer abschließenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren auszusetzen, nachdem ihn die Antragsgegnerin nach seiner Haftentlassung am 5. November 2024 mit Bescheid vom 7. November 2024 u.a. zur Vorlage seines türkischen Reisepasses zur Durchführung einer Abschiebung aufgefordert hatte und die Abschiebung unmittelbar bevorstand.
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Mit Beschluss vom 10. April 2025 lehnte das Verwaltungsgericht diesen Antrag (als unbegründet) ab. Dieser Beschluss ist Gegenstand des Beschwerdeverfahrens.
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2. Die Beschwerde mit dem Antrag,
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die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 10. April 2025 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, „bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im einstweiligen Rechtsschutz von der Abschiebung des Antragstellers abzusehen“,
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ist (ungeachtet der Sinnhaftigkeit dieser Antragstellung) zulässig, aber unbegründet, da das Verwaltungsgericht – jedenfalls im Ergebnis – den Antrag zutreffend abgelehnt hat. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der ursprüngliche Antrag auf einstweilige Anordnung bereits unzulässig, da mit dem Beschluss des Senats vom 25. Februar 2025 die Hauptsache – auf die der einstweilige Rechtsschutz rekurriert – abschließend entschieden worden ist, sodass dem Antragsteller ab diesem Zeitpunkt das Rechtsschutzbedürfnis für die beanspruchte Sicherungsanordnung fehlte. Das Verwaltungsgericht hätte den Antrag daher als unzulässig ablehnen müssen.
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Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war im erstinstanzlichen Verfahren ersichtlich darauf gerichtet, die Abschiebung des Antragstellers vor einer Entscheidung des Senats im Verfahren über die Ausweisungsverfügung bzw. Abschiebungsandrohung (Bescheid vom 27.11.2023) durch Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu verhindern. Das ergibt sich zum einen aus dem zeitlichen Ablauf, zum anderen aus dem Antrag, gerichtet auf das Abwarten der zu diesem Zeitpunkt allein anhängigen Hauptsache beim VGH, und die Antragsbegründung, in der ausdrücklich auf das noch anhängige Verfahren auf Zulassung der Berufung als maßgebliches Hauptsacheverfahren hingewiesen wird und schließlich aus den Einwendungen gegen die zum Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht rechtskräftigen Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung.
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Der Antragsteller wurde unter dem 18. Juni 2025 auf das fehlende Rechtsschutzbedürfnis bereits für das erstinstanzliche Verfahren hingewiesen. Er teilte daraufhin mit Schreiben vom 25. Juni 2025 dem Senat mit, die einstweilige Anordnung sei auf eine vorübergehende Aussetzung seiner Abschiebung bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren über die Aussetzung der Abschiebung und gerade nicht im Verfahren der Berufungszulassung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach bezüglich der Ausweisungsentscheidung gerichtet. „Beim VG Ansbach [sei] nämlich ein Klageverfahren, Hauptsache, gerichtet auf Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers anhängig.“
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Tatsächlich hat der Antragsteller, was eine Nachfrage beim Verwaltungsgericht Ansbach ergeben hat, unter dem 25. Juni 2025 Klage auf Erteilung einer Duldung erhoben (Az.: 11 K 25.1733). Diese „neue“ Hauptsacheklage wirkt aber nicht auf den Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung zurück, sodass sich daraus keine andere Bewertung der Rechtslage ergibt.
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3. Die Beschwerde wäre aber auch unbegründet, da es an der nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO erforderlichen Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs für die erstrebte einstweilige Anordnung fehlt. Es ist davon auszugehen, dass die allgemeinen rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Abschiebung des Antragstellers vorliegen und ihm mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Anspruch auf Aussetzung seiner Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zusteht.
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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Umstände, die auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung hindeuten, wurden vom Antragsteller nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich. Die Abschiebung des Antragstellers ist auch nicht rechtlich unmöglich. Solches ergibt sich auch nicht mit Blick auf seine 2016 und 2018 geborenen deutschen Töchter und die mit ihnen und der ebenfalls deutschen Mutter gelebte familiäre Lebensgemeinschaft.
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Einem (rechtskräftig) ausgewiesenen Ausländer ist es zwar nicht verwehrt, sich unter Bezugnahme auf seine grund- und konventionsrechtlichen Belange und die seiner Angehörigen auf eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung zu berufen. Allerdings sind die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG unter Berücksichtigung der seither eingetretenen Veränderungen des Sachverhalts zu prüfen. In einem auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung gerichteten Verfahren sind die Gerichte insbesondere verpflichtet, seit dem Beurteilungszeitpunkt im Klageverfahren eingetretene Änderungen des Sachverhalts, die für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Aufenthaltsbeendigung mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG erheblich sind, in einer dem Gewicht der behaupteten Grundrechtsverletzung angemessenen Intensität zu würdigen (VGH BW, B.v. 17.3.2025 – 12 S 479/25 – juris Rn. 26 unter Bezugnahme auf BVerfG, B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 33 ff.; vgl. aber auch Hailbronner in ders. Ausländerrecht, Stand 1.5.2024, § 60a AufenthG Rn. 47, wonach bei einer bestands- oder rechtskräftigen Ausweisung wegen gravierender Straftaten der Verweis auf eine familiäre Lebensgemeinschaft des Ausländers mit einem Kleinkind oder der Schutz der Privatsphäre grundsätzlich nicht geeignet ist, eine Duldung zu begründen.).
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Dies zugrunde gelegt, ist mithin nur zu prüfen, ob sich nach der Entscheidung des Senats im Berufungszulassungsverfahren (20.2.2025) für den Antragsteller günstige Änderungen des Sachverhalts ergeben haben, die für die Beurteilung der Vereinbarkeit mit der Aufenthaltsbeendigung nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 20 AEUV (auf diese Vorschriften stellt die Beschwerde maßgeblich ab) von Bedeutung sind.
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Das ist hier nicht der Fall. Abgesehen davon, dass die Beschwerdebegründung erst ab Seite 13 den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt, weil zuvor die Rechtsansichten des Antragstellers referiert werden, ohne einen Bezug zur angefochtenen Entscheidung herzustellen, berücksichtigt der Antragsteller nicht, dass die Ausweisungsverfügung vom 27. November 2023 in Rechtskraft erwachsen ist (§ 121 Nr. 1 VwGO) und daher der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung ohne weitere Prüfung zugrunde zu legen ist. Soweit also die Verhältnismäßigkeit bzw. Richtigkeit der Ausweisung thematisiert wird, bleiben diese Ausführungen nachfolgend unberücksichtigt. Es bleibt dem Antragsteller unbenommen, insoweit das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Art. 51 BayVwVfG zu beantragen, wenn er meint, die Voraussetzungen hierfür seien erfüllt.
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Hinsichtlich der familiären Lebensgemeinschaft mit seinen beiden deutschen Töchtern und deren Mutter hat der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung (ohne diese näher zu bezeichnen) auf „die vom Jugendamt, den Schulen und der Kindsmutter dokumentierte emotionale Abhängigkeit der Kinder“ von ihm hingewiesen, die im Urteil (gemeint ist wohl der angefochtene Beschluss) nicht angemessen berücksichtigt worden sein sollen. Gemeint sind wohl die Stellungnahmen der Stadt N. – Jugendamt – vom 30. Juni 2023, 18. November 2024 und 17. Februar 2025, die Stellungnahmen der Klassenleiterinnen der Töchter des Antragstellers jeweils vom 18. November 2024 und die eidesstattliche Versicherung der Kindsmutter ebenfalls vom 18. November 2024. Sämtliche Dokumente liegen zeitlich vor dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt des Senats im Zulassungsverfahren (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 5.3.2025 – 19 ZB 23.1081 – juris Rn. 12) und können mithin keine (hinsichtlich der Stellungnahme vom 30.6.2023 nochmalige) Berücksichtigung finden. Der Antragsteller hat die Unterlagen, mit denen eine bestehende familiäre Lebensgemeinschaft und eine emotionale Bindung zu seinen Töchtern belegt wird, im Klageverfahren (Ausweisungsverfahren) schlicht nicht vorgelegt, obwohl sich das geradezu aufgedrängt hätte.
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Soweit mit dem 28. April 2025 eine im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigende Stellungnahme der Stadt N. – Jugendamt – vorgelegt worden ist, in der u.a. berichtet wird, dass zwischen dem Antragsteller und seinen Töchtern eine enge, positive Beziehung sowie eine stabile Bindung bestehe, die Kinder für ihre weitere positive Entwicklung auf die Beziehung und täglichen Kontakt mit ihrem Vater angewiesen seien und eine Trennung der Kinder von ihrem Vater aus sozialpädagogischer Sicht zu erheblichen emotionalen Belastungen führen und das Kindeswohl nachhaltig gefährden könne, geht der Senat – wie auch zuvor das Verwaltungsgericht – davon aus, dass zwischen dem Antragsteller und seinen Töchtern eine tatsächliche Verbundenheit und Anteilnahme (Röder in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.5.2025, § 60a AufenthG Rn. 62) besteht, die für sich genommen eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründen kann.
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Ist jedoch einem Antrag auf Erteilung einer Duldung ein Klageverfahren über eine Ausweisung vorangegangen (vgl. BVerfG, B.v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 33, 35) ist nunmehr die grundrechtliche Abwägung hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung unter Einbeziehung des neuen Umstandes vornehmen. Obwohl der Abschiebung des Antragstellers damit derzeit ein zwingender Duldungsgrund im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegensteht, weil sie ihn hindern würde, sich um seine Kinder zu kümmern, welche deutsche Staatsangehörige sind, überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des in der Vergangenheit erheblich straffällig gewordenen Antragstellers, der zudem (rechtskräftig festgestellt) Verbindungen zum IS bzw. zur jihadistisch-salafistischen Szene pflegte und bislang nicht erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Verhalten Abstand genommen hat. Auch im Beschwerdeverfahren wird zu letzterem nichts ausgeführt, die Verbindung zum IS bzw. zur jihadistisch-salafistischen Szene wird nach wie vor unsubstantiiert bestritten bzw. unter Hinweis auf die Aktualität der diesbezüglichen Erkenntnisse heruntergespielt. Auch zur (spezialpräventiven) Wiederholungsgefahr trägt die Beschwerde nichts Neues vor, sondern beschränkt sich darauf, auf den Führungsbericht der JVA Bayreuth von Juni 2023, der bereits im Klageverfahren Berücksichtigung gefunden hat, und auf nicht näher bezeichnete „glaubhafte Darstellungen der sozialen Resozialisierung“ zu verweisen. Die in der Beschwerde genannten positiven Resozialisierungstendenzen (Teilnahme an Vater-Kind-Gruppen, das unauffällige Verhalten in der JVA, die umfangreichen familiären Unterstützungsleistungen sowie die geplante berufliche Integration nach der Haft) rechtfertigen ebenfalls keine Abänderung des angefochtenen Beschlusses. Der Umstand, dass die Kinder die Vater-Kind-Gruppe der JVA Bayreuth besuchten (vgl. Stellungnahme der Stadt N. – Jugendamt – vom 30.6.2023) hat bereits im Klageverfahren Berücksichtigung gefunden und ist daher nicht als neue Tatsache zu Gunsten des Antragstellers zu würdigen. Mit den nicht näher bezeichneten „Unterstützungsleistungen“ wird auf die (wohl vom Antragsteller vorformulierten) Stellungnahme der Klassenleiterin der Tochter A.S. vom 18. November 2024 zur vom Antragsteller generell angebotenen Unterstützung „z.B. um Schulausflüge zu begleiten“ abgestellt, was für sich genommen allenfalls eine auch so vom Antragsteller bezeichnete Resozialisierungstendenz darlegen mag, nicht aber eine (vollständige) Resozialisierung des Antragstellers. Zur geplanten beruflichen Integration fehlt es an einem substantiierten Sachvortrag. Was das angeblich unauffällige Verhalten in der JVA betrifft, hat der Senat bereits im Zulassungsverfahren ausgeführt, dass der Antragsteller während der Untersuchungshaft in der JVA N. ab Dezember 2021 wegen seines stark ausgeprägten religiösen Verhaltens negativ aufgefallen war.
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Das Verwaltungsgericht hat auch eine Verletzung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft der Kinder des Antragstellers nach Art. 20 AEUV verneint.
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Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Entstehung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis, das aus Art. 20 AEUV zugunsten des Drittstaatsangehörigen abgeleitet wird, voraus, dass ein Unionsbürger dergestalt in einem familiären Abhängigkeitsverhältnis zu dem betreffenden Drittstaatsangehörigen steht, dass er zwingend auf ihn angewiesen ist. Der vom Drittstaatsangehörigen abhängige Unionsbürger müsste also bei der Beendigung des Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen im Unionsgebiet faktisch gezwungen sein, diesen zu begleiten oder ihm nachzufolgen, also das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, mit der Folge, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde (EuGH, U.v. 22.6.2023 – X., C-459/20 – juris Rn. 26, v. 7.9.2022 – E.K., C-624/20 – juris Rn. 37, v. 27.2.2020 – Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real gegen RH, C-836/18 – juris Rn. 40 f., v. 10.5.2017 – Chavez-Vilchez, C-133/15 – juris Rn. 70 ff., v. 13.9.2016 – Marín, C-165/14 – juris Rn. 74, v. 8.5.2018 – K.A., C-82/16 – juris Rn. 63 ff.; U.v. 8.3.2011 – Zambrano, C-34/09 – juris Rn. 42 ff. und vom 19.10.2004 – Zhu und Chen, C 200/02 – Rn. 25 ff.; BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 34 und vom 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 33 ff. sowie B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 10).
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Die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts aus Art.20 AEUV kann jedoch nur ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte erfolgen, worauf auch das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hingewiesen hat (BA Bl. 24). Denn es geht schließlich darum, die oben angesprochene Extremsituation zu verhindern, in der der Unionsbürger in verständlicher Weise für sich keine andere Wahl sieht, als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen oder sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen (BVerwG, U.v. 12. 7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 35 und U.v. 30. 7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 34). Gegen eine in diesem Sinne relevante rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger im Unionsgebiet mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der entweder deutscher Staatsangehöriger ist oder als Ausländer über ein freizügigkeits- oder aufenthaltsrechtlich begründetes Daueraufenthaltsrecht verfügt sowie berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (VGH BW, B.v. 3.3.2025 – 11 S 1043/23 – juris Rn. 23 m.w.N.).
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Insoweit ist vorliegend zwar zu berücksichtigen, dass die Kinder des Antragstellers mit diesem jedenfalls vor seiner Inhaftierung und während der Haft regelmäßigen Umgang hatten, dieser gemeinsam mit der Mutter der Kinder personensorgeberechtigt ist, insbesondere die Töchter – wie vorgetragen – wohl affektiv besonders an ihrem Vater zu hängen scheinen und die zu erwartende Trennung (mindestens) auf die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots, mithin auf einen mehrjährigen Zeitraum (sechs Jahre) angelegt ist. Andererseits lebten und leben die Kinder bei der Mutter (mit deutscher Staatsangehörigkeit), der es nicht zumutbar ist, in das Herkunftsland des Antragstellers überzusiedeln. Auch sind die Kinder mit ihren gesamten sozialen Kontakten und Lebensumständen im Bundesgebiet verwurzelt. Es ist daher nicht anzunehmen, dass diese sich infolge der Ausweisung ihres Vaters gezwungen sähen, mit diesem – unter Inkaufnahme der Trennung von der Mutter – in dessen Herkunftsland (außerhalb der EU) zu ziehen und somit das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Vielmehr sprechen die Gesamtumstände deutlich dafür, dass die Kinder bei ihrer Mutter im Bundesgebiet bleiben werden.
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Soweit der Antragsteller schließlich eine Vielzahl von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zitiert, können diese nicht auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation mit einer rechtskräftigen Ausweisungsverfügung und einem nach wie vor bestehenden schwerwiegenden Ausweisungsinteresse übertragen werden, weil es sich stets um Einzelfallentscheidungen handelt, die keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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5. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 sowie § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nrn. 8.2.3 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 21. Februar 2025 beschlossenen Änderungen.
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6. Diese Entscheidung ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.