Titel:
Versagung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels, Titelerteilungssperre, Sofortige Vollziehbarkeit, Ausweisungsinteresse
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3
AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 7
Schlagworte:
Versagung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels, Titelerteilungssperre, Sofortige Vollziehbarkeit, Ausweisungsinteresse
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 04.06.2025 – AN 11 S 25.918
Fundstelle:
BeckRS 2025, 22493
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein in erster Instanz erfolgloses Begehren weiter, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis sowie gegen die damit verbundene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. März 2025 anzuordnen.
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Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 3. März 2025 hat die Antragsgegnerin den Antragsteller aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziff. 1), den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 6. Juni 2024 abgelehnt (Ziff. 2), den Antragsteller zur Ausreise aus dem Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids aufgefordert und ihm die Abschiebung insbesondere in die Sozialistische Republik Vietnam angedroht (Ziff. 3) sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und auf die Dauer von sechs Jahren, beginnend mit dem Tag der Ausreise, befristet (Ziff. 4). Unter der Ziffer 5.1 wurden dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens auferlegt und unter der Ziffer 5.2 eine Gebühr in Höhe von 93,00 € erhoben.
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1. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die dargelegten Gründe, auf deren Nachprüfung das Beschwerdegericht im Grundsatz beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung. Es ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO zu Unrecht abgelehnt hätte.
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1.1 Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung als unbegründet abgelehnt und dies in erster Linie damit begründet, dass der begehrten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. deren Neuerteilung die Titelerteilungssperre nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG infolge des unter Ziff. 4 des verfahrensgegenständlichen Bescheides verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots entgegenstehe. Infolge der Ergänzung des § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (vom 21.2.2024, BGBl. I Nr. 24, Rückführungsverbesserungsgesetz – RFVG) entfalle die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG. Dies habe zur Folge, dass vorläufiger Rechtsschutz auf der Grundlage von § 80 Abs. 5 VwGO erwirkt werden müsse. Der Gesetzgeber habe sicherstellen wollen, dass die Wiedereinreisesperre nicht durch Widerspruch und Klage unterlaufen werden könne. Zwar werde eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG im Hinblick auf das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG anzunehmen und die Rechtswidrigkeit der Ausweisung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO summarisch zu überprüfen sein, wenn diese geltend gemacht werde. Jedenfalls seit der Änderung des § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG sei jedoch nunmehr stets zwingend auch ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO in Hinblick auf die Anfechtung der behördlichen Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu stellen, um die sofortige Vollziehbarkeit des Verbots, und damit auch der hieraus resultierenden Titelerteilungssperre, zu verhindern. Der Antragsteller habe durch seinen Bevollmächtigten ausdrücklich beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage (nur) gegen die in Ziffer 2 und 3 des streitgegenständlichen Bescheides enthaltene Ablehnung des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis sowie Abschiebungsandrohung anzuordnen. Eine Umdeutung eines durch einen Rechtsanwalt gestellten Antrags erscheine nicht angezeigt.
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Hiergegen wendet der Antragsteller ein, die gesetzliche Rechtsfolge des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sei – auch unter Berücksichtigung der jüngsten Verschärfung durch das Rückführungsverbesserungsgesetz – nicht absolut, sondern müsse sich an Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 8 EMRK messen lassen. Die Sperrwirkung setze nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass die der Vorschrift vorgelagerte Maßnahme (die Ausweisung) ihrerseits rechtmäßig sei. Da der Antragsteller gegen den streitgegenständlichen Bescheid Klage erhoben habe, sei die Rechtmäßigkeit der Ausweisung nach wie vor streitig. Die Titelerteilungssperre könne daher nicht ohne vorherige Feststellung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung zum Tragen kommen. Das Verwaltungsgericht übersehe diesen grundsätzlichen Prüfungszusammenhang, wenn es die Titelerteilungssperre als durch die Klage nicht suspendiert ansehe. Der Wegfall der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG ersetze nicht die materiell-rechtliche Prüfungspflicht der Ausweisung im Rahmen des Eilrechtsschutzes. Dies ergebe sich im Umkehrschluss aus Art. 19 Abs. 4 GG. Dieser verlange, dass Verwaltungsakte mit erheblichen Grundrechtseingriffen (wie eine Ausweisung mit Einreiseverbot) der gerichtlichen Kontrolle auch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zugänglich sein müssten. Das Verwaltungsgericht gebe zwar diesen Rechtssatz zutreffend wieder, verkenne aber dessen Konsequenz, dass ohne summarische Prüfung der Ausweisung die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht eingreifen dürfe. Das Verwaltungsgericht hätte folglich zunächst prüfen müssen, ob die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG im Lichte von § 53 Abs. 1 AufenthG und Art. 8 EMRK tatsächlich vorlägen, dies sei jedoch unterblieben oder sei im Rahmen der Interessenabwägung mit falscher Gewichtung vorgenommen worden (was näher ausgeführt wurde). Das Bundesverfassungsgericht habe mehrfach betont, dass Sperrklauseln, die den Zugang zu einem Aufenthaltstitel vollständig ausschlössen, einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG unterlägen. Auch bei objektiv bestehender Titelerteilungssperre müsse es in besonderen Konstellationen möglich sein, dem Betroffenen zumindest vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, namentlich dann, wenn die Sperre – wie hier – auf einer nicht rechtskräftig geprüften Ausweisung beruhe, die auf einer besonders weitgehenden generalpräventiven Konstruktion fuße und in ihren Wirkungen existenzielle Folgen für den Beschwerdeführer zeitige. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe im Kontext des Art. 8 EMRK stets betont, dass Eingriffe in das Privat- und Familienleben nicht allein formelhaft auf Straftaten gestützt, sondern immer unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls begründet werden müssten. Ein pauschaler Ausschluss der Aufenthaltserlaubnis infolge einer Titelerteilungssperre wäre mit diesen Grundsätzen nur dann vereinbar, wenn das zugrundeliegende Einreiseverbot seinerseits im Lichte von Art. 8 EMRK geprüft und gerechtfertigt worden sei. Hinzu trete, dass auch die befristete Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots vom Verwaltungsgericht nicht kritisch geprüft worden sei (was näher ausgeführt wurde).
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Dieser Argumentation vermag der Senat nicht zu folgen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers steht die infolge der sofortigen Vollziehbarkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots kraft Gesetzes ihre Wirkung entfaltende Titelerteilungssperre gem. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG der Erteilung bzw. Verlängerung des Aufenthaltstitels entgegen. Diese Rechtswirkung kann – sofern nicht die Ausländerbehörde gem. § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung aussetzt – nur durch die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO vorläufig ausgesetzt werden. Folglich muss gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot ein Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO gestellt werden (vgl. Lehner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Okt. 2024, § 11 Rn. 26, 214; Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.4.2025, § 11 AufenthG Rn. 69).
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Da ein solcher Antrag indes nicht gestellt worden ist, bedurfte es keiner inzidenten Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots einschließlich der Sperrwirkung und der zugrundeliegenden Ausweisung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen die Titelversagung (vgl. Hailbronner a.a.O.). Es handelt sich bei der Versagung des Aufenthaltstitels und der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit der Rechtsfolge der Titelerteilungssperre nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG um jeweils eigenständige Verwaltungsakte, die jeweils selbständige belastende Regelungen enthalten. Daraus ergibt sich für den Rechtsschutzsuchenden, dass er gegen beide Maßnahmen vorgehen muss, will er ihre gerichtliche Überprüfung erreichen. Diese Rechtslage ist infolge der gesetzlichen Neuregelung in § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG derart klar, dass es einem (zumal, wie hier, anwaltlich vertretenen) Antragsteller ohne Weiteres zugemutet werden kann, auch gegen die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen.
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Der Verweis des Antragstellers auf Art. 19 Abs. 4 GG führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn damit blendet der Antragsteller aus, dass ihm vorläufiger Rechtsschutz im Wege des Antrags gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen das kraft Gesetzes sofort vollziehbare Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) offen gestanden hätte. Die bisherige Rechtsprechung, welche sich unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes für eine inzidente Überprüfung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und in dessen Rahmen der Ausweisung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Versagung des Aufenthaltstitels aussprach (vgl. BayVGH, B.v. 18.1.2022 – 19 CS 21.2314 – n.v., Rn. 16; B.v. 24.7.2017 – 19 CS 16.2376 – juris Rn. 4; B.v. 19.1.2015 – 10 CS 14.2656 – juris Rn. 22; VGH BW, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – juris Rn. 34; OVG Sachsen, B.v. 14.08.2018 – 3 B 159/18 – juris Rn. 14), ist durch die gesetzgeberische Klarstellung der sofortigen Vollziehbarkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots kraft Gesetzes durch das Rückführungsverbesserungsgesetz obsolet geworden (Hailbronner a.a.O., Rn. 26; vgl. auch zur Auslegung der vorherigen Fassung der Norm: BVerwG, B.v. 17.5.2023 – 1 VR 1.23 – juris Rn. 17 m.w.N.).
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1.2 Das Verwaltungsgericht hat die angegriffene Entscheidung des Weiteren selbständig tragend („im Übrigen“, „auch deshalb“) darauf gestützt, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht gegeben sei, weil nach vorläufiger Auffassung jedenfalls ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (aufgrund der Verurteilung des Antragstellers durch Urteil des Amtsgerichts vom 27. Juni 2024, abgeändert im Rechtsfolgenausspruch durch Urteil des Landgerichts vom 27. November 2024 – rechtskräftig seit 5.12.2024 – wegen sexuellen Übergriffs und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Besitzes jugendpornografischer Inhalte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren) vorliege. Hierbei sei keine hypothetische Ausweisungsprüfung in der Weise vorzunehmen, dass geklärt würde, ob eine Ausweisung des Antragstellers rechtmäßig wäre.
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Dies ist nicht zu beanstanden. Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt, d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen, vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist (BVerwG, U.v. 12.6.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 15 m.w.N.; BayVGH, U.v. 31.3.2025 – 10 B 24.1124 – juris Rn. 36). Das hat das Verwaltungsgericht hier schon deshalb zu Recht angenommen, weil der Antragsteller durch die rechtskräftige Verurteilung wegen sexuellen Übergriffs und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Besitzes jugendpornografischer Inhalte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht hat. Ein Ausweisungsinteresse kann sich sowohl aus spezialpräventiven Gründen (soweit von dem Ausländer noch eine Wiederholungsgefahr ausgeht) als auch – wie hier – aus rein generalpräventiven Gründen ergeben, sofern es im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch hinreichend aktuell ist (BVerwG a.a.O., Rn. 22; U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17 ff.; BayVGH a.a.O., Rn. 44). Unerheblich ist insoweit, ob die Strafvollstreckung gem. § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzt wurde (BayVGH, B.v. 24.8.2023 – 19 ZB 22.2204 – juris Rn. 21). Die Annahme eines (generalpräventiven) Ausweisungsinteresses gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG greift der Antragsteller mit seiner Beschwerde nicht an. Er wendet sich vielmehr dagegen, dass das Verwaltungsgericht – der Antragsgegnerin folgend – daneben ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a) AufenthG angenommen hat. Darauf kommt es jedoch nicht an.
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Eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen erfolgt erst im Rahmen der (gerichtlich voll überprüfbaren) Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt bzw. im Rahmen einer – wie hier nicht – spezialgesetzlich vorgesehenen Ermessensentscheidung (BVerwG, U.v. 12.6.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 15 m.w.N.). Insoweit legt der Antragsteller nicht dar, dass und warum das Verwaltungsgericht eine Abweichung vom Regelfall hätte annehmen müssen.
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2. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
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3. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nrn. 8.1.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs 2025.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).