Titel:
Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan, Koalitionsvertrag („Verantwortung für Deutschland“), Aussetzung der Erteilung von Aufnahmezusagen im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan, Justizfreier Handlungsraum der Bundesregierung, Politisches Gestaltungsermessen, Vertrauensschutz (verneint)
Normenkette:
AufenthG § 23 Abs. 2
Schlagworte:
Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan, Koalitionsvertrag („Verantwortung für Deutschland“), Aussetzung der Erteilung von Aufnahmezusagen im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan, Justizfreier Handlungsraum der Bundesregierung, Politisches Gestaltungsermessen, Vertrauensschutz (verneint)
Vorinstanz:
VG Ansbach, Entscheidung vom 05.06.2025 – AN 5 E 25.771
Fundstelle:
BeckRS 2025, 22483
Tenor
I. Die Verfahren 19 CE 25.1178 und 19 C 25.1179 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
II. Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
III. Die Antragstellerin hat die Kosten der Beschwerdeverfahren zu tragen.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 19 CE 25.1178 wird auf 2.500 € festgesetzt.
Gründe
1
Die aus Afghanistan stammende Antragstellerin begehrt im Wege einstweiliger Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr eine Aufnahmezusage gemäß der Anordnung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gemäß § 23 Abs. 2, Abs. 3 i.V.m. § 24 AufenthG zur Aufnahme von besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan vom 19. Dezember 2022 (Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan, im Folgenden: BAP AFG) zu erteilen, hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, über den Antrag der Antragstellerin zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.
2
Mit dem vorgenannten BAP AFG ordnete das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) an, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) besonders gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen aus Afghanistan unter näher bestimmten Kautelen zunächst eine Aufnahmezusage erteilt, die in der Folge (nach Sicherheitsprüfung und Visumerteilung) zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigt und einen Anspruch auf Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels vermittelt.
3
In der Folge wurden bis zum 17. Juli 2024 insgesamt 3.055 Aufnahmezusagen erteilt; davon entfielen 914 auf Hauptpersonen und 2.141 auf Begleitpersonen (vgl. BT-Drs. 20/13859 S. 3).
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Mit E-Mail vom 17. Juli 2024 (15:22 Uhr) teilte die Leiterin der Projektgruppe Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan, BMI, dem BAMF mit, dass keine Haushaltmittel mehr für das BAP AFG zur Verfügung stünden. Die Weiterfinanzierung sei daher derzeit nicht gesichert. In der E-Mail wird anschließend wörtlich ausgeführt:
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„Bis auf weiteres sind keine neuen Aufnahmezusagen im BAP AFG zu erklären.“
Hervorhebung im Original.
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Die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD („Verantwortung für Deutschland“), unterzeichnet am 5. Mai 2025, unter den Zeilen 2972 ff. geregelt:
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„Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden (zum Beispiel Afghanistan) und keine neuen Programme auflegen.“
8
(siehe https://www.koalitionsvertrag2025.de/sites/www.koalitionsvertrag2025.de/files/koav_2025.pdf)
9
Auf der Homepage des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (Auswärtiges Amt) findet sich unter „Fragen und Antworten zum Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan“ mit Datum vom 29. Juli 2025 die folgende Information zu der Frage „Kann ich mich für eine Aufnahme in das Programm bewerben?“:
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„Mit Blick auf die Entscheidung der Bundesregierung, freiwillige Aufnahmeprogramme soweit wie möglich zu beenden, wird aktuell geprüft, wie dies für Aufnahmeverfahren aus Afghanistan umgesetzt wird. Bis zum Abschluss dieser Prüfung sind die Einreisen ausgesetzt. Die letzten Aufnahmezusagen wurden im Juli 2024 erklärt. Neue Aufnahmezusagen werden nicht vergeben.“
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(siehe www.bundesaufnahmeprogrammafghanistan.de/bundesaufnahme-de/bundesaufnahmeprogramm-faq/2544646-2544646, zuletzt besucht am 27.8.2025).
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Der Senat geht aufgrund dieser Äußerung des BMI bzw. der Bundesregierung davon aus, dass die Neuerteilung von Aufnahmezusagen im Rahmen des BAP AFG seit dem 17. Juli 2024 und auch derzeit ausgesetzt ist.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten beider Instanzen.
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Die Verfahren 19 CE 25.1178 und 19 C 25.1179 werden gemäß § 93 Satz 1 VwGO aus Gründen der Zweckmäßigkeit zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
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1. Die Beschwerden der Antragstellerin haben keinen Erfolg.
16
1.1 Im Hinblick auf die Beschwerde in dem Verfahren 19 CE 25.1178 rechtfertigen die von der Antragstellerseite in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Gründe, die der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern. Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch im Sinne von § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht hat.
17
Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Prüfung, ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist, ist grundsätzlich – und so auch hier – der Zeitpunkt der Eilentscheidung; im Beschwerdeverfahren demnach der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Aug. 2024, § 123 VwGO Rn. 165). Der Senat hat damit insbesondere die aktuelle Entwicklung zum BAP AFG, die bereits im Juli 2024 eingeleitet worden ist, zu berücksichtigen und den „anderen, konsequenteren Kurs in der Migrationspolitik“ (vgl. Zeile 2962 des Koalitionsvertrages; Berlit in ZAR 2025, 203/205) zur Kenntnis zu nehmen und seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
18
Der Antrag der Antragstellerin ist in der Sache auf die Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet, was nur ausnahmsweise dann geboten ist, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Rechtsschutzsuchenden schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, B.v. 25.10.1988 – 2 BvR 745/88 – juris Rn. 17 f.; BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 9.12 – juris Rn. 22).
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Gemessen daran hat die Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren einen Anordnungsanspruch zur Erteilung einer Aufnahmezusage (sei es im Sinne einer Vornahme, sei es im Sinne einer Bescheidung) nicht glaubhaft gemacht.
20
Eine Anordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG ist keine Rechtsnorm, sondern eine Regelung, die wie eine Verwaltungsvorschrift wirkt und auszulegen ist (BVerwG, U.v. 19.9.2000 – 1 C 19.99 – juris Rn. 20 zu § 32 AuslG; vgl. dazu auch Kluth/Bohley in BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.4.2025, § 23 AufenthG Rn. 9) bzw. eine innerdienstliche Richtlinie, d.h. eine das Ermessen lenkende Willenserklärung des BMI gegenüber dem BAMF (BVerwG, U.v. 15.11.2011 – 1 C 21.10 – juris Rn. 14).
21
Durch die Anordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG werden dem BAMF die Kriterien zur Hand gegeben, die eine nachvollziehbare und objektive Entscheidung über die Aufnahme erst ermöglichen, d.h. eine Gleichbehandlung aller Aufnahmebewerber garantieren. Außenwirkung kommt der Anordnung nur mittelbar über die Verpflichtung der Behörden und Gerichte zur Beachtung des Art. 3 Abs. 1 GG zu, wenn und soweit sich eine der Richtlinie entsprechende Behördenpraxis tatsächlich herausgebildet hat (sog. Selbstbindung der Verwaltung). Weicht das Bundesamt im Einzelfall von der konkreten Handhabung der Anordnung ab, erwächst dem Ausländer aus Art. 3 Abs. 1 GG ein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Gleichbehandlung nach Maßgabe der tatsächlichen Anwendung der Anordnung. Denn der Sinn der Regelung besteht gerade darin, eine einheitliche Aufnahmepraxis zu erreichen. Die Gerichte haben daher nachzuprüfen, ob der Gleichheitssatz bei der Anwendung der Anordnung durch das Bundesamt gewahrt worden ist (BVerwG, U.v. 15.11.2011 – 1 C 21.10 – juris Rn. 15).
22
Die Wahrung des Gleichheitssatzes besteht jedoch nur gegenüber der anwendenden Behörde, hier also dem BAMF, nicht jedoch gegenüber der Bundesregierung bzw. dem BMI. § 23 AufenthG stellt Aufnahmezusagen nach § 23 Abs. 2 AufenthG in das (migrations-)politische Ermessen des Bundes (BMI). Dieser darf daher – wie jetzt im Koalitionsvertrag vereinbart – auch bestehende freiwillige Bundesprogramme beenden und auf die Auflage neuer Programme verzichten (vgl. Berlit in ZAR 2025, 203/206), da dies davon abhängig ist, wie sich die jeweilige Bundesregierung migrationspolitisch positioniert. Eine Anordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG setzt besonders gelagerte politische Interessen der Bundesregierung voraus, die einer Veränderung unterliegen können und grundsätzlich keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegen (BVerwG, U.v. 15.11.2011 – 1 C 21.10 – juris Rn. 12; vgl. auch Keßler in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 23 AufenthG Rn. 8: „justizfreier Handlungsspielraum“). Insoweit geht das Verwaltungsgericht Berlin (B.v. 7.7.2025 – 8 L 290/25 V – juris Rn. 39) zutreffend davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland bestimmen kann, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sie das Aufnahmeprogramm für afghanische Staatsangehörige beendet oder fortführen möchte, wobei sie während dieses Entscheidungsprozesses von der Erteilung neuer Aufnahmezusagen absehen kann.
23
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ist das BAP AFG jedenfalls bezogen auf die Neuerteilung von Aufnahmezusagen seit dem 17. Juli 2024 ausgesetzt (vgl. E-Mail vom 17. Juli 2024 der Leiterin der Projektgruppe BAP AFG im BMI an das BAMF; Antwort des BMI auf die FAQ zum BAP AFG im Internet: „Kann ich mich für eine Aufnahme in das Programm bewerben?“). Stand der Dinge ist, dass die schwarz-rote Bundesregierung das Aufnahmeprogramm für Afghanen nicht fortsetzen will und deshalb prüft, wie die Beendigung des Aufnahmeverfahrens für Afghanistan umgesetzt werden kann. Aufgrund des der Bundesregierung obliegenden politischen Gestaltungsermessens kann diese jederzeit eine etablierte Anwendungspraxis zu Lasten bisher potenziell Begünstigter beenden, solange diesen noch kein Aufenthaltstitel bzw. – wie hier – keine Aufnahmezusage erteilt wurde (vgl. Kluth/Bohley, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.4.2025, § 23 AufenthG Rn. 9 a.E.). Ein Anspruch auf Beibehaltung der ursprünglichen Praxis besteht nicht (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand Juli 2025, § 23 Rn. 25; Röcker in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 15. Aufl. 2025, § 23 AufenthG Rn. 9), sodass im Falle der Aussetzung bzw. Beendigung die Fortführung der Erteilung von Aufnahmezusagen im Rahmen des BAP AFG nicht über die Geltendmachung eines Anspruchs auf Gleichbehandlung mit bereits aufgenommenen Personen i.S.d. Anordnung erweitert werden kann. Auf die ursprünglich angeführte Haushaltslage kommt es daher nicht mehr entscheidend an; eine entsprechende Beweiserhebung war nicht veranlasst.
24
Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Antragstellerin derzeit keinen (materiellen) Anspruch auf Erteilung einer Aufnahmezusage oder einer Entscheidung darüber hat, weshalb ein Anordnungsanspruch zu verneinen ist. Daran ändert auch nichts, dass sich die Antragstellerin bereits im „Verfahren“ (sei es Amts- oder Antragsverfahren) befindet. Ihr Vertrauensschutz auf Beibehaltung des BAP AFG muss gegenüber dem politischen Gestaltungsermessen, das wie bereits ausgeführt, einer rechtlichen Überprüfung in Bezug auf dessen Aussetzung oder Beendigung nicht zugänglich ist, zurücktreten. Auch der hilfsweise gestellte Bescheidungsantrag (wohl in Hinblick auf die behördliche Untätigkeit) ist wegen des faktischen Aufnahmestopps und damit eines fehlenden Anordnungsanspruchs derzeit unbegründet.
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Es ist realistischer Weise aufgrund der im Koalitionsvertrag eingegangenen politischen Selbstbindung nicht mit einer Fortführung des BAP AFG und der Erteilung neuer Aufnahmezusagen zu rechnen; sollte diese Einschätzung mittelfristig nicht zutreffend sein, bleibt es der Antragstellerin unbenommen, einen neuen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu stellen.
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1.2 Die zulässige Beschwerde im Verfahren 19 C 25.1179 bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat aus den angeführten Gründen im Ergebnis den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung im Sinne von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO keine hinreichenden Erfolgsaussichten bietet. Folglich scheidet auch eine Beiordnung des Bevollmächtigten nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 ZPO aus.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. In Bezug auf die Beschwerde 19 C 25.1179 ist festzustellen, dass das Beschwerdeverfahren in Prozesskostenhilfesachen anders als das Prozesskostenhilfeverfahren erster Instanz kostenpflichtig ist.
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3. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren 19 CE 25.1178 beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 45 Abs. 1 Satz 3, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 1.1.4 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2025. Eine Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren 19 C 25.1179 ist entbehrlich, weil gemäß Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG eine Festgebühr anfällt. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nach § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet.
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4. Diese Entscheidung ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.