Inhalt

VG Regensburg, Urteil v. 21.08.2025 – RN 2 K 25.30147
Titel:

Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft einer Mutter mit minderjährigem Kind mangels Gefahr der Einziehung zum Nationaldienst., Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus für eine Eritreerin, die trotz Minderjährigkeit wegen Schulabbruchs zum Nationaldienst herangezogen wurde, aus dem sie geflohen ist. Gefahr der Bestrafung wegen illegaler Ausreise, Wehrdienstentziehung und Desertion., Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Rahmen der Haft in Eritrea.

Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Einer Eritreerin, die Eritrea im Alter von 14 Jahren verlassen hat, droht auch dann eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung bzw. Desertion und damit eine unmenschliche Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn sie infolge Schulabbruchs trotz ihrer Minderjährigkeit bereits zwangsweise rekrutiert worden ist.
Schlagworte:
Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft einer Mutter mit minderjährigem Kind mangels Gefahr der Einziehung zum Nationaldienst., Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus für eine Eritreerin, die trotz Minderjährigkeit wegen Schulabbruchs zum Nationaldienst herangezogen wurde, aus dem sie geflohen ist. Gefahr der Bestrafung wegen illegaler Ausreise, Wehrdienstentziehung und Desertion., Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Rahmen der Haft in Eritrea.
Fundstelle:
BeckRS 2025, 21865

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9.1.2025 (Az. …-224) wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin ein Drittel, die Beklagte zwei Drittel. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die vollständige Ablehnung ihres Asylantrags.
2
Die Klägerin ist am … in …, Eritrea, geboren. Sie ist eritreische Staatsangehörige von tigrinischer Volkszugehörigkeit und orthodox-christlichen Glaubens. Sie reiste im Mai 2023 über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17.7.2023 einen Asylantrag.
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Die persönliche Anhörung beim Bundesamt erfolgte am 7.9.2023. Dabei gab die Klägerin u.a. an, dass sie nie Personaldokumente besessen habe. Vor ihrer Ausreise aus Eritrea habe sie sich zuletzt in …, Subzone Senafe, Zoba Debub, aufgehalten. Dort sei sie geboren und aufgewachsen. Sie habe dort zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern gelebt. Ihr Vater sei bereits verstorben. Ihre Mutter und ihre Schwester lebten noch dort. Sie habe ihr Heimatland im September 2015 verlassen und sei im Mai 2023 nach Deutschland eingereist. Sie habe Eritrea im Alter von 14 Jahren verlassen und sei alleine nach Äthiopien ausgereist. Dort sei sie zunächst im Flüchtlingslager … gewesen. In Äthiopien habe sie siebeneinhalb Jahre verbracht. Im Jahr 2022 sei sie dann nach Libyen gegangen. Auf dem Seeweg sei sie nach Italien gereist und dann mit dem Zug nach Deutschland. In Eritrea lebten noch ihre Mutter, ein Bruder, eine Schwester und die Großfamilie. Die Klägerin habe die Schule in … bis zur siebten Klasse besucht. Die Schule habe … geheißen. Sie habe keinen Beruf und auch nie gearbeitet. Sie habe nie Wehr- oder Nationaldienst geleistet. Die Klägerin habe die Schule abbrechen müssen, weil ihr Vater sehr krank gewesen sei. Weil sie nicht zur Schule gegangen sei, sei sie vom Militär aufgegriffen und nach … gebracht worden. Dort habe man ihnen gesagt, dass sie zum Nationaldienst müssten. Deswegen sei sie von dort geflohen. Sie hätten nur eine Wache gehabt und als diese eingeschlafen sei, sei sie einfach weggelaufen. Sie sei dann geradlinig nach Äthiopien gelaufen. Dort sei sie in einem Flüchtlingslager untergekommen. An der Grenze seien äthiopische Wachleute gewesen, an die sie sich gewandt hätte. Diese hätten sie ins Flüchtlingslager gebracht. Würde sie nach Eritrea zurückkehren, müsste sie sicherlich ins Gefängnis. Sie glaube nicht, dass sie bei Erlangung eines Diaspora-Status legal zurückkehren könne. Sie sei nicht beschnitten worden. Sie habe einen Bruder und eine Schwester in Deutschland.
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Mit Bescheid vom 9.1.2025, der Klägerin zugestellt am 16.1.2025, erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
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Am 24.1.2025 erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg.
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Begründet wurde die Klage im Wesentlichen damit, dass der Klägerin zumindest der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sei. Entgegen der Ansicht der Beklagten drohe der Klägerin aufgrund ihrer illegalen Ausreise eine mehrjährige außergerichtliche und willkürliche Haftstrafe unter erniedrigenden Haftbedingungen und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden. Die Klägerin habe im Alter von 14 Jahren die Schule aufgrund der schweren Krankheit ihres Vaters abgebrochen. Daraufhin sei sie vom Militär aufgegriffen und nach … gebracht worden. Man habe ihr gesagt, dass sie Nationaldienst leisten müsse. Als die Wache dort eingeschlafen sei, sei die Klägerin geflohen und habe die Grenze Eritreas in Richtung Äthiopien überquert, wo sie sodann in einem Flüchtlingslager untergekommen sei.
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Die Klägerin beantragt,
1.
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.01.2025, Az. 10194659-224, aufzuheben.
2.
die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise, bei der Klägerin Abschiebungsverbote festzustellen.
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Das Bundesamt beantragt für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Das Bundesamt bezieht sich zur Klagebegründung auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Schreiben vom 17.3.2025 äußerte sich die Klägerseite zur familiären Situation der Klägerin wie folgt: Die Klägerin habe nach ihrer Flucht aus Eritrea, im Jahr 2019, in Äthiopien geheiratet. Die Ehe sei sowohl traditionell als auch standesamtlich geschlossen worden. Diese Ehe sei inzwischen geschieden. Die Tochter der Klägerin sei am 13.8.2025 geboren worden und damit zeitlich nach den Anhörungen der Klägerin. Der Vater der Tochter der Klägerin sei nicht der (geschiedene) Ehemann der Klägerin, sondern ein neuer Lebensgefährte. Derzeit sei ein Vaterschaftsanerkennungsverfahren beim Familiengericht Amtsgericht … anhängig.
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Mit Beschluss vom 2.6.2025 wurde der Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
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Mit Schreiben vom 15.7.2025 wies das Gericht die Beteiligten darauf hin, dass sich nach vorläufiger Einschätzung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters aus der Aktenlage die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung der Klägerin im Rahmen einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung ergebe. Da aus Sicht des zuständigen Einzelrichters der Sachverhalt im Rahmen der Anhörung insoweit hinreichend geklärt sei und nur noch Rechtsfragen offen seien, ziehe der Einzelrichter eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in Betracht. Den Beteiligten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15.8.2025 gegeben.
13
Mit Schreiben vom 15.7.2025 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 77 Abs. 2 Satz 1 AsylG, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang erfolgreich. Der angegriffene Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht (§ 77 Abs. 1 Satz 1, Halbs. 2 AsylG) hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als rechtmäßig und verletzt die Klagepartei nicht in ihren Rechten. Der Klagepartei stehen die geltend gemachten Ansprüche insoweit nicht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Demgegenüber hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Soweit der angegriffene Bescheid dem entgegensteht, war er aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG.
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a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner „Rasse“, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es aber regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris). Eine Verfolgung i.S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 11.8.2016 – Au 1 K 16.30744 – juris). Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 RL 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in sein Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris m.w.N.).
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Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Handlungen oder Bedrohungen eine Beweiskraft für die Wiederholung in der Zukunft bei, wenn sie eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 m.w.N. – juris).
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Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris; BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VG Ansbach, U.v. 24.10.2016 – AN 3 K 16.30452 – juris m.w.N.).
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b) Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG. Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, dass sie bei einer Rückkehr eine Bestrafung wegen ihrer illegalen Ausreise und ihrer Wehrdienstentziehung befürchte.
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(1) Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich zunächst nicht aus der Gefahr einer Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes, insbesondere einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Die Klägerin ist Mutter eines Kindes, so dass eine Einberufung in den militärischen Bereich des Nationaldienstes nach der Praxis der eritreischen Behörden bereits nicht als beachtlich wahrscheinlich angesehen werden kann.
25
Gemäß der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 sind in Eritrea Männer und Frauen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr nationaldienstpflichtig („active national service“) und gehören bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Reservearmee („reserve military service“) an (Bundesamt für Fremdenwesen (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 4). Nach abweichenden Angaben soll sich das Höchstalter für den Wehr- und Nationaldienst seit 2009 für Männer auf 57 und für Frauen auf 27 bzw. 47 Jahre belaufen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 18; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14; Amnesty International (AI) an VG Magdeburg vom 2.8.2018). In der Praxis kommt es vor, dass Eritreer bereits ab dem Alter von etwa 16 Jahren als dienstpflichtig behandelt werden, wobei teilweise auch noch jüngere Eritreer rekrutiert werden. Maßgeblich für die Rekrutierung ist nicht das tatsächliche Alter, sondern häufig eine Alterseinschätzung aufgrund des Aussehens der Person (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 32 f.; EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 36 f.; SFH, Eritrea: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH Länderanalyse, 6.12.2021, S. 1 ff.). Alle Dienstpflichtigen absolvieren gem. Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995 zuerst eine sechsmonatige militärische Ausbildung und werden dann entweder dem militärischen Teil unter dem Verteidigungsministerium zugeteilt oder einer zivilen Aufgabe, die von einem anderen Ministerium verwaltet wird. Angehörige des militärischen Teils leisten Dienst im eritreischen Militär (Armee, Marine oder Luftwaffe). Teilweise leisten sie auch Arbeitseinsätze im Aufbau von Infrastruktur und in der Landwirtschaft. Sie leben auf militärischen Stützpunkten und sind in Einheiten eingeteilt. Angehörige des zivilen Teils leisten ihren Dienst in zivilen Projekten. Zu diesem Zweck teilt sie die Regierung verschiedenen Ministerien zu. Meist handelt es sich um Personen mit guter Ausbildung oder speziellen Fähigkeiten. Typisch sind Einsätze an Schulen, Gerichten oder in der medizinischen Versorgung. Ihren zugeteilten Aufgaben gehen die Dienstleistenden wie einer normalen Arbeit nach. Sie leben mit ihren Eltern, Familien oder in privaten Wohnungen am Arbeitsort (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise (Stand: 22.6.2016), S. 11 f.). Zuständig für die Einteilung der Wehrpflichtigen in den militärischen bzw. zivilen Teil ist das Verteidigungsministerium (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 25.). Ausgenommen vom Nationaldienst sind lediglich Personen, die ihre Dienstpflicht bereits vor Inkrafttreten der Proklamation Nr. 82/1995 erfüllt haben, sowie ehemalige Unabhängigkeitskämpfer (Art. 12 der Proklamation Nr. 82/1995). Gesundheitliche Beeinträchtigungen führen in der Regel nur dazu, dass die militärische Ausbildung erlassen wird (Art. 13 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995), nicht jedoch die Dienstverpflichtung als solche. Faktisch werden verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter in der Regel jedenfalls von der Dienstleistung im militärischen Teil des Nationaldiensts ausgenommen (vgl. Danish Immigration Service (DIS), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 29; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 34, vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online). Ein Einsatz im zivilen Bereich des Nationaldienstes bleibt aber auch für verheiratete oder schwangere Frauen sowie Mütter möglich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19 AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 14). Nach Art. 21 der Proklamation Nr. 82/1995 kann die Dienstpflicht im Falle eines Kriegs oder einer allgemeinen Mobilmachung über die Dauer von 18 Monaten hinaus verlängert werden, sofern die zuständige Behörde den Dienstpflichtigen nicht offiziell entlassen hat. Seit dem Grenzkrieg mit Äthiopien rechtfertigt die eritreische Regierung die unbeschränkte Dauer des Nationaldiensts mit der Bedrohung durch Äthiopien. Der 1998 verhängte faktische Ausnahmezustand wurde seither nicht aufgehoben. Auf dieser Grundlage zieht der Staat Eritrea seine Staatsangehörigen regelmäßig zu einer die 18-Monats-Grenze überschreitenden, langjährigen Dienstleistung heran (Human Rights Council, Situation of human rights in Eritrea 5/2024, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 2.1.2024, S. 19; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 13 f.; Danish Refugee Council (DRC), Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 17 ff.; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33 f. EASO, Bericht über Herkunftsländer-Informationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 32 ff.; EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 f.; SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 4 f.; AI; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 22.8.2023 – 4 LB 68/22 – beck-online).
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Ausgehend hiervon ist die Klägerin zwar formal dienstpflichtig. Insbesondere bestehen auch auf Grundlage der Akten keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass sie aus dem Dienst förmlich entlassen worden wäre. Eine Einberufung der 24-jährigen Klägerin, die Mutter eines Kindes ist, in den militärischen Teil des Nationaldienstes ist jedoch nach den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht beachtlich wahrscheinlich. Eine Einberufung ist allenfalls – allein – in den zivilen Bereich wahrscheinlich (so auch VG Hamburg, U.v. 6.2.2020 – 19 A 641/19 – juris; OVG Hamburg, U.v. 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A – juris). Zwar existiert keine gesetzliche Regelung, dass Mütter nicht in den militärischen Bereich einberufen werden. Die Quellenlage spricht jedoch von einer üblichen tatsächlichen Praxis, so dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit verneint werden kann. Auch spricht gegen eine Einziehung der Klägerin in den militärischen Bereich des Nationaldienstes, dass aufgrund der Abhängigkeit des Wirtschaftssystems Eritreas vom Nationaldienst davon auszugehen ist, dass die überwiegende Anzahl der dienstpflichtigen Personen im zivilen Bereich eingesetzt ist. So bestätigte der eritreische Informationsminister in einem Interview 2018, dass weniger als ein Fünftel der Nationaldienstleistenden eine militärische Funktion ausübe (BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Eritrea Gesamtaktualisierung am 19.5.2021, S. 12). Zwar ist davon auszugehen, dass weiblichen Rekrutinnen im militärischen Bereich des Nationaldienstes eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht (vgl. VG Regensburg, U.v. 21.5.2024 – RN 2 K 23.31459 – juris; VG Bremen, U.v. 11.12.2024 – 7 K 1600/24 – juris). Für den zivilen Bereich des Nationaldienstes nimmt das Gericht dies nach den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen jedoch nicht an. Dass Frauen bei einem Einsatz im zivilen Teil des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt zu befürchten haben, ist nicht erkennbar (so auch VG Hamburg, U.v. 6.2.2020 – 19 A 641/19 – juris). Die Berichte über verbreitete sexuelle Gewalt im eritreischen Nationaldienst beziehen sich auf den militärischen Bereich, insbesondere auf Missbrauch durch militärische Vorgesetzte (vgl. SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 30.6.2017, S. 13 f.; vgl. auch OVG Hamburg, U.v. 21.9.2018 – 4 Bf 186/18.A m.w.N. – juris).
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Für den zivilen Bereich des Nationaldienstes bestehen keine Anhaltspunkte für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung. Es ergeben sich wohl bereits keine Erkenntnisse für flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlungen.
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(2) Ein Anspruch der Klägerin auf Flüchtlingsanerkennung ergibt sich auch nicht aus der Gefahr einer Bestrafung wegen illegaler Ausreise und Wehrdienstentziehung bzw. Desertion, da auch diese jedenfalls nicht an einen in § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 genannten Verfolgungsgrund, insbesondere nicht an eine – auch nur unterstellte – politische Überzeugung, anknüpft (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 7/18 – juris; VG Regensburg, U.v. 26.10.2023 – RN 2 K 23.30938 – beck-online).
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen an eine Wehrdienstentziehung geknüpfte Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine Verfolgung dar, wenn diese nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen flüchtlingsrechtlich erheblichen Merkmals treffen sollen. Eine Verfolgung wird verneint, wenn Sanktionen an eine alle Staatsbürger gleichermaßen treffende Pflicht anknüpfen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 – 1 B 22/17, m.w.N – juris; vgl. auch BayVGH, U.v. 24.3.2000 – 9 B 96.35177 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung dienen regelmäßig nicht der politischen oder religiösen Verfolgung, sondern werden ungeachtet solcher Merkmale im Regelfall allgemein und unterschiedslos gegenüber allen Deserteuren/Verweigerern aus Gründen der Aufrechterhaltung der Disziplin verhängt (vgl. auch VG Osnabrück, U.v. 18.5.2015 – 5 A 465/14 – juris). In eine flüchtlingsrelevante Verfolgung schlägt eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung erst dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber Personen eingesetzt wird, die durch diese Maßnahme gerade wegen eines in § 3 Abs. 1 Nr. 1 genannten Merkmals getroffen werden soll (vgl. auch VG Osnabrück, U.v. 18.5.2015 – 5 A 465/14 – juris), bzw. wenn die zuständigen Behörden aus der Verwirklichung der Tat auf eine Regimegegnerschaft der betroffenen Person schließen und die strafrechtliche Sanktion nicht nur der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern auch der Bekämpfung von politischen Gegnern dient (vgl. BVerwG, U.v. 25.6.1991 – 9 C 131.90 – juris).
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Es kann jedoch nach Ansicht des zuständigen Einzelrichters derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die illegale Ausreise, um sich dem Nationaldienst zu entziehen oder die Desertion, vom eritreischen Staat allgemein als Regimegegnerschaft gesehen wird und der Bestrafung damit ein politischer Sanktionscharakter zukommt. Explizite Erkenntnisse, dass die eritreische Regierung Personen, die sich dem Nationaldienst entziehen und illegal ausreisen oder desertieren, generell als Regimegegner einstuft und politisch verfolgt, ergeben sich für das Gericht auf Grund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen nicht (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 19; Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016).
31
Nach Art. 37 Abs. 1 der Proklamation Nr. 82/1995 werden alle Verstöße gegen die Bestimmungen dieser Proklamation mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren und/oder Geldstrafe in Höhe von 3.000 Birr (etwa 180 Euro) geahndet, sofern sich aus dem eritreischen Strafgesetzbuch von 1991 keine härteren Strafen ergeben. Wer sich seiner Dienstpflicht in deren Kenntnis durch Flucht ins Ausland entzieht und nicht bis zum Alter von 40 Jahren zur Ableistung des Dienstes zurückkehrt, unterliegt nach Art. 37 Abs. 3 der Proklamation Nr. 82/1995 bis zum Alter von 50 Jahren einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Nach Art. 300 des Strafgesetzbuches von 1991 kann Dienstverweigerung und Desertion in Friedenszeiten mit bis zu fünf Jahren, in Kriegszeiten mit Haft von fünf Jahren bis lebenslänglich und in besonderen Fällen mit der Todesstrafe bestraft werden. Im Jahr 2015 wurde ein neues Strafgesetzbuch bekanntgegeben, das in Art. 119 für Desertion in Friedenszeiten Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren, in Kriegszeiten zwischen sieben und zehn Jahren vorsieht. Die Todesstrafe in Fällen der Desertion ist hiernach abgeschafft, jedoch soll das neue Strafgesetz noch keine Anwendung finden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 13, 17 f.; EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-​Informationsbericht, September 2019, S. 43). Nach Art. 29 Abs. 2 der Proklamation Nr. 24/1992 ist die – auch nur versuchte – illegale Ausreise ebenfalls mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe in Höhe von bis 10.000 Birr (etwa 600 Euro) bedroht (vgl. hierzu EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 56 f.). Allerdings ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen, dass in der Praxis Strafen nicht den gesetzlichen Regelungen entsprechend, sondern außergerichtlich und willkürlich verhängt werden (EASO, Eritrea: Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 10, 40 f., 43 f., 57 f.).
32
Die Erkenntnislage zeigt derzeit eine große Bandbreite möglicher Folgen bei der Rückkehr von Personen, die illegal ausgereist sind, um sich dem Nationalen Dienst zu entziehen, nämlich von einer Belehrung und Ableistung des Nationalen Dienstes bis zu Haft (Monaten oder Jahre). Diese Bandbreite spricht nach Ansicht des Gerichts dafür, dass diese Personen nicht automatisch als Regimegegner eingestuft werden und damit nicht generell einer politischen Verfolgung unterliegen (vgl. auch BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris). Gegen eine generelle Einstufung als politischer Gegner spricht ferner bereits die hohe Zahl der aus Eritrea Flüchtenden. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Staat hinter jedem dieser zahlreichen Flüchtenden eine missliebige politische Überzeugung sieht (vgl. ausführlich VG Düsseldorf, U.v. 23.3.2017 – 6 K 7338/16.A. – juris). Dem eritreischen Staat ist vielmehr bekannt, dass die übergroße Anzahl der Flüchtenden wegen der prekären und unfreien Lebensbedingungen im Nationaldienst und nicht aufgrund einer regimefeindlichen Gesinnung flieht (vgl. auch VG Potsdam, U.v. 10.10.2017 – VG 3 K 2609/16.A, m.w.N. – juris). Vor allem aber spricht gegen eine generelle politische Verfolgung aller Personen, die sich dem Nationalen Dienst entziehen, der derzeitige Umgang der eritreischen Regierung mit freiwilligen – zumindest vorübergehenden – Rückkehrern. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage des Gerichts werden die gesetzlichen Bestimmungen für Desertion, Dienstverweigerung und illegale Ausreise derzeit für diese Personen unter bestimmten Voraussetzungen nicht angewandt. Sofern sie sich mindestens drei Jahre im Ausland aufgehalten haben, besteht für die Rückkehrer die Möglichkeit, einen sog. „Diaspora Status“ zu erhalten. Dieser setzt voraus, dass eine Diasporasteuer (2% Steuer) bezahlt wurde und, sofern die nationale Dienstpflicht noch nicht erfüllt wurde, ein sog. „Reueformular“ unterzeichnet wurde. Dieses umfasst auch ein Schuldeingeständnis mit der Erklärung, die dafür vorgesehene Bestrafung anzunehmen. Zumindest in der Mehrheit kommt es nach den Erkenntnisquellen des Gerichts zu keiner tatsächlichen Bestrafung (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016). Mit diesem „Diaspora Status“ ist es jedenfalls vorübergehend möglich in Eritrea zu bleiben, ohne den Nationalen Dienst ableisten zu müssen. Auch eine Ausreise ist mit diesem Status möglich, so dass es temporäre Reisen zu Urlaubs- und Besuchszwecken gibt (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), Staatssekretariat für Migration (SEM), Sektion Analysen: Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22.6.2016; S. 33). Diese Optionen, die gerade auch für Personen gelten, die sich dem Nationalen Dienst durch die illegale Ausreise entzogen haben, sprechen gegen eine generelle Einstufung als politischer Gegner (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.9.2022 – 4 B 14/21 – beck-online; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 7/18 – juris). Für diese Würdigung ist unerheblich, ob diese Rückkehrmöglichkeit dem einzelnen eritreischen Staatsangehörigen im konkreten Fall einen hinreichend dauerhaften Schutz vor Bestrafung bietet und ihm zumutbar ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg U. v. 29.9.2022 – 4 B 14/21 – beck-online m.w.N.).
33
Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht daraus, dass die erfolgten Verhaftungen oft willkürlich und ohne Angaben von Gründen erfolgen. Anhaltspunkte für eine politisch motivierte Bestrafung der Wehrdienstentziehung bestehen damit nicht (vgl. AA an VG Schwerin vom 10.10.2017). Selbstverständlich ist es vorstellbar, dass gerade aus der Willkür der Bestrafungen eine politisch motivierte Systematik bzw. Konnotation gefolgert werden könnte. Jedoch fehlt es auch insoweit an tatsächlichen Anhaltspunkten. Auch die Tatsache, dass es während der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierungen zu Folter und Misshandlungen kommen kann, rechtfertigt keine abweichende Wertung (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris m.w.N; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Auch wenn der Einsatz von Folter ein Indiz für den politischen Charakter einer Maßnahme darstellen kann, bleibt er ein Indiz und ermöglicht für sich noch keinen zwingenden Rückschluss auf eine tatsächlich dahingehende subjektive Verfolgungsmotivation, wenn wie hier in der zu treffenden Abwägung der Erkenntnismittel diejenigen überwiegen, die dagegensprechen. Es bedarf daher insoweit regelmäßig der Heranziehung weiterer objektiver Kriterien zur Beurteilung der tatsächlichen Verfolgungsmotivation. Derartige objektive Kriterien können vor allem die tatsächlichen und rechtsstaatlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Betroffenen, insbesondere die Eigenart des Staates, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu seiner Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des Einzelnen und die Behandlung von Minderheiten sein. Maßgeblich ist, ob der Staat seine Bürger in den genannten persönlichen Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Fall zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechterhalten will und dabei die Überzeugung seiner Staatsbürger unbeachtet lässt. Auch die Lasten und Beschränkungen, die ein autoritäres System seiner Bevölkerung auferlegt, vermögen für sich allein eine politische motivierte Verfolgung nicht zu begründen. Ausgehend hiervon bestehen – ungeachtet der Umstände, dass der Nationaldienst in Eritrea auch als politisches Projekt u. a. zur Vermittlung einer nationalen Identität verstanden wird und Verstöße in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch mit harten Sanktionen belegt werden – keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür, dass die im Fall der Nationaldienstentziehung bzw. Desertion in Eritrea gegebenenfalls drohende Haftstrafe in Verbindung mit den prekären Haftbedingungen eine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale aufweist (vgl. BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
34
Für diese Einschätzung spricht, dass die faktisch unbegrenzte Verpflichtung zur Ableistung des staatlichen National- bzw. Militärdienstes – der im Nachgang zu der Grundausbildung oftmals auch einen Einsatz in der staatlichen Verwaltung umfasst – zuvörderst der Aufrechterhaltung und Sicherung der staatlichen Funktionsfähigkeit dient. Angehörige des Nationaldienstes leisten ihren Dienst nicht allein im eritreischen Militär, sondern auch beim Aufbau von Infrastruktur, etwa beim Straßen- und Dammbau, beim Bau von Wohnungen und öffentlichen Gebäuden sowie in der Landwirtschaft. Angehörige des zivilen Dienstes des Nationaldienstes arbeiten zudem in allen Bereichen der staatlichen Verwaltung und der Wirtschaft (vgl. SFH, Eritrea: Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse vom 30.6.2017, S. 6 f.). Die gesamte Volkswirtschaft Eritreas und der eritreische Staatsapparat stützen sich auf die Nationaldienstverpflichtung, die in ihrer derzeitigen Ausgestaltung am ehesten als eine Form staatlichen Zwangsdienstes zur Aufrechterhaltung der staatlichen Strukturen zu charakterisieren ist. Von daher dient der Nationaldienst in Eritrea neben militärischen Verteidigungszwecken vor allem der Förderung der volkswirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Steigerung der Gewinne staatsnaher bzw. staatlich unterstützter Unternehmen und der Aufrechterhaltung der Kontrolle über die eritreische Bevölkerung. Dies wiederum rechtfertigt die Annahme, dass die durchaus empfindliche Bestrafung der Wehr- bzw. Nationaldienstentziehung oder der Desertion allein dazu dient, die bestehende Herrschaftsstruktur zu sichern und insbesondere das auf der Langzeitverpflichtung der eritreischen Staatsbürger beruhende staatliche System am Leben zu erhalten. Insofern dient die Sanktionierung der Wehr- bzw. Nationaldienstentziehung durch den eritreischen Staat auch nicht der Sanktionierung einer tatsächlichen oder unterstellten missliebigen politischen Überzeugung seiner Bürger, sondern der Durchsetzung der Dienstverpflichtungen im Interesse der Systemsicherung (vgl. BayVGH U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris; OVG Saarland, U.v. 21.3.2019 – 2 A 10/18 – juris; VGH Hessen, U.v. 30.7.2019 – 10 A 797/18.A – juris). Auch die bereits oben genannte vornehmlich auf die Generierung von Staatseinnahmen abzielende Möglichkeit der Diaspora-Steuer spricht für dieses Verständnis (vgl. hierzu auch BayVGH U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593 – juris).
35
Etwas anderes folgt auch nicht aus § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG. Nach dieser Vorschrift kann die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung sein, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG (Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU) fallen. Zum einen bestand zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Jahr 2015 noch kein Konflikt in der äthiopischen Tigray-Region. Zum anderen ist fraglich, ob derzeit noch ein Konflikt mit eritreischer Beteiligung besteht, da im November 2022 eine Waffenruhe vereinbart wurde. Jedenfalls geht der zur Entscheidung berufene Einzelrichter nicht davon aus, dass die Klägerin derzeit bei einer Heranziehung zum Nationaldienst „zwangsläufig oder zumindest sehr wahrscheinlich“ (vgl. zu diesem Maßstab EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19 – juris) überhaupt zu Kampfhandlungen nach Äthiopien geschickt würde, da er bereits nicht davon ausgeht, dass die Klägerin überhaupt in den militärischen Bereich des Nationaldienstes eingezogen wird (s.o.).
36
Die bloße Asylantragsstellung in Deutschland begründet ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr für die Klägerin in Eritrea (AA Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 3.1.2022, Stand: November 2021, S. 21).
37
Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung gem. § 3 AsylG hat. Aus den genannten Gründen liegt auch ein Anspruch der Klägerin auf Asylanerkennung nicht vor.
38
2. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, § 4 AsylG.
39
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
40
Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.
41
Insoweit gilt auch hier – wie bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft – der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (s.o.). Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor einem ernsthaften Schaden im Rechtssinne begründet ist, ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ist es Aufgabe des Gerichts, die zu berücksichtigenden Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Die Überzeugungsgewissheit gilt nicht nur in Bezug auf das Vorbringen des Schutzsuchenden zu den seiner persönlichen Sphäre zuzurechnenden Vorgängen, sondern auch hinsichtlich der in die Gefahrenprognose einzustellenden allgemeinen Erkenntnisse. Diese ergeben sich vor allem aus den zum Herkunftsland vorliegenden Erkenntnisquellen. Auch für diese Anknüpfungstatsachen gilt das Regelbeweismaß des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung gilt auch bei unsicherer Tatsachengrundlage. In diesen Fällen bedarf es in besonderem Maße einer umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland; hierauf aufbauend muss das Gericht bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen (OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online m.w.N.). Die beachtliche Wahrscheinlichkeit ist tatbestandliche Voraussetzung für eine Entscheidung zugunsten des Ausländers.
42
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist (wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK) aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online m.w.N.). Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR kann eine Abschiebung durch einen Konventionsstaat Fragen nach Art. 3 EMRK aufwerfen, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden (EGMR, U.v. 17.1.2012 – Nr. 8139/09 – NVwZ 2013, 487, 488; OVG Bautzen U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online).
43
Folter ist die absichtliche unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die sehr ernstes und grausames Leiden hervorruft (EGMR, U.v. 13.12.2012 – Nr. 39630/09 – NVwZ 2013, 631). Für die Entscheidung, ob eine bestimmte Form der Misshandlung als Folter einzustufen ist, muss die Unterscheidung berücksichtigt werden, die Art. 3 EMRK zwischen Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung macht, um Fälle vorsätzlicher Misshandlung, die sehr starke und grausame Leiden verursacht, als besonders schändlich, nämlich als Folter, zu brandmarken (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330).
44
Eine unmenschliche Behandlung liegt vor, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie eine Person – nicht zwingend vorsätzlich – demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt und geeignet ist, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1. 2011 -Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413). Eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung setzt voraus, dass die zugefügten Leiden oder Erniedrigungen jedenfalls über das Maß hinausgehen, welches unvermeidbar mit einer bestimmten Form berechtigter Behandlung oder Strafe verbunden ist (EGMR, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 133). Das Mindestmaß ist relativ und hängt von den gesamten Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen (EGMR, U.v. 28.2.2008 a. a. O.).
45
Es bestehen stichhaltige Gründe für die Annahme, dass der Klägerin bei Rückkehr nach Eritrea im Zusammenhang mit einer Bestrafung wegen illegaler Ausreise, Desertion und Wehrdienstentziehung ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
46
a) Die nun 24-jährige Klägerin ist im Jahr 2015, also im Alter von 14 Jahren, aus Eritrea ausgereist. Zwar war sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht formell dienstpflichtig nach den oben dargestellten Bestimmungen zum eritreischen Nationaldienstes. Allerdings konnte die Klägerin glaubhaft schildern, dass sie trotz ihres jungen Alters bereits zwangsweise zum Dienst herangezogen wurde. Denn ihre Darstellungen decken sich insoweit mit den Erkenntnissen des Gerichts aus vergleichbaren Fällen.
47
Wie ausgeführt erfasst die Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationaldienst (Proclamation on National Service No. 82/1995) vom 23. Oktober 1995 nur Personen vom achtzehnten bis zum vierzigsten Lebensjahr. Allerdings gibt es zahlreiche Berichte, die belegen, dass die eritreische Regierung bzw. lokale für die Rekrutierung verantwortliche Verwaltungsbehörden, Soldaten und Offiziere auch Minderjährige zum Nationaldienst und auch dessen militärischen Teil einziehen (vgl. UN, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 7.5.2024, S. 10, 18; Human Rights Watch (HRW), Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 5; SFH, Eritera: Rekrutierung von Minderjährigen, Auskunft der SFH-Länderanalyse, 6.12.2021, S. 4; US Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1).
48
So nennen einige Quellen ausdrücklich die Verpflichtung von 16-Jährigen zu militärischem Training, einschließlich Drills zu Disziplin, Waffentraining, Überlebensübungen und einer zwei- bis vierwöchigen Kriegssimulation (US Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1; SFH, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 15.6.2023, S. 7; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 35). Dies betrifft zunächst Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse ungeachtet ihres Alters, die in das Militärcamp Sawa versetzt wurden (United States Department of State, 2024 Trafficking in Persons Report: Eritrea, S. 3; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 5; UN, HRC, Situation of human rights in Eritrea Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6.5.2022, S. 6; EASO, Eritrea, National service, exit and return, Country of Origin Information Report, September 2019, S. 32 f.; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 34). Darüber hinaus gibt es aber zahlreiche Berichte, wonach Kinder, die die Schule vorzeitig abgebrochen haben, zwangsweise zum militärischen Teil des Nationaldienstes herangezogen wurden, und dies teilweise schon ab einem Alter von nur 14 Jahren (vgl. United States Department of State, 2024 Trafficking in Persons Report: Eritrea, S. 4; United States Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1; HRW, Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 15.6.2023, S. 7; HRW, Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 7 f., 11). Ähnliches hat sich Berichten zufolge im Rahmen von „giffas“ ereignet, bei denen Personen, darunter auch minderjährige Kinder, wahllos und ohne Überprüfung ihrer Dienstpflichtigkeit aufgegriffen und zwangsweise rekrutiert worden sind (UN, Situation of human rights in Eritrea, Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, Mohamed Abdelsalam Babiker, 7.5.2024, S. 10; US Department of Labor, 2023 Findings on the Worst Forms of Child Labor, S. 1; HRW, Eritrea, Events of 2023; SFH, Eritrea: Intensivierung der Zwangsrekrutierung in den Nationaldienst, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 15.6.2023, S. 10 f.; SFH, Eritrea: Situation von Schulabbrecher*innen Auskunft der SFH-Länderanalyse, 16.2.2023, S. 7 f., 10; UN, HRC, Situation of human rights in Eritrea Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Eritrea, 6.5.2022, S. 6; EASO, Eritrea, National service, exit and return, Country of Origin Information Report, September 2019, S. 33), Eritrea, National service, exit and return, Country of Origin Information Report, September 2019, S. 33; HRW, „They Are Making Us into Slaves, Not Educating Us“, How Indefinite Conscription Restricts Young People’s Rights, Access to Education in Eritrea, 2019, S. 34).
49
Mithin erscheint es besonders wahrscheinlich, dass die Klägerin tatsächlich wie behauptet in Folge ihres Schulabbruchs gegen ihren Willen zum Nationaldienst herangezogen wurde, da sie sich dadurch der „regulären“ Rekrutierungsmethode im Schulsystem entzogen hat, indem sie die Schule noch vor der Versetzung in das Militärlager Sawa abgebrochen hat (vgl. auch VG Regensburg, U.v. 22.4.2025 – RN 2 K 24.30262 – juris Rn. 104).
50
Auch die Tatsache, dass die Klägerin Mutter eines Kindes ist, führt nicht dazu, dass eine Bestrafung der Klägerin unbeachtlich wahrscheinlich ist. Zwar werden verheiratete Frauen und Mütter in Eritrea nach der Erkenntnismittellage oftmals nicht zum Nationaldienst eingezogen bzw. aus diesem entlassen. Zum einen bezieht sich dies teilweise nur auf den militärischen Teil des Nationaldienstes, wohingegen eine Beschäftigung im zivilen Teil durchaus möglich ist (vgl. Kibreab, The Open-Ended Eritrean National Service: The Driver of Forced Migration, 2014, S. 10 f., AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2021) vom 3.1.2022, S. 15), zum anderen handelt es sich nicht um eine gesicherte Rechtslage und erst recht keine offizielle Demobilisierung oder Freistellung (vgl. EASO, Eritrea Nationaldienst Ausreise und Rückkehr Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 33). Vor allem aber hat eine vielleicht mögliche faktische Freistellung bei einer Rückkehr keine Aussagekraft im Hinblick auf eine Bestrafung wegen Desertion. Gerade im Hinblick auf die Willkür des eritreischen Staates ist vielmehr davon auszugehen, dass auch die Bestrafung in diesen Fällen nicht nur eine theoretische Möglichkeit darstellt, sondern ein „real risk“ angenommen werden kann. Auch im Lichte der wenigen Rückführungsfälle und der Tatsache, dass die Behandlung der Rückkehrer oftmals nicht bekannt wird und dennoch in verschiedenen Quellen von Inhaftierungen von Rückkehrern berichtet wird (vgl. auch EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65; Country Policy and Information Note, Eritrea: National service and illegal exit, September 2021, S. 45), scheint eine Inhaftierung der Klägerin durchaus beachtlich wahrscheinlich.
51
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass sich in Eritrea zahlreiche Dienstverweigerer aufhalten und das Regime nicht mehr die Kapazitäten zu haben scheint, diese systematisch zu suchen, zu bestrafen und dem Nationaldienst zuzuführen, da die Klägerin bei einer Rückkehr bereits im Visier der Behörden wäre (anders wohl VG Gießen, U.v. 6 K 8852/17. GI.A – juris).
52
b) Auch kann die Klägerin eine Haftstrafe nicht mit ausreichender Sicherheit durch die Erlangung des Diasporastatus abwenden.
53
(1) Der zuständige Einzelrichter geht nach realitätsnaher Betrachtung davon aus, dass die Klägerin nicht freiwillig nach Eritrea ausreist, sondern im Rahmen einer zwangsweisen Rückführung überstellt werden müsste. Die Annahme scheitert auch nicht daran, dass Eritrea grundsätzlich keine unfreiwilligen Rückkehrer akzeptiert, da es solche in der Vergangenheit dennoch gab (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 20 f.). Sie werden auf individuelle Verhandlungen hin akzeptiert (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 67). Die Erlangung des Diaspora-Status kommt im Falle der zwangsweisen Rückführung nach Eritrea wohl von vornherein nicht in Betracht.
54
Der Diaspora-Satus wird von der eritreischen Regierung den im Ausland lebenden Eritreern angeboten und gewährt freiwilligen Rückkehrern das Privileg, ohne Visaverfahren nach Eritrea ein- und auszureisen. Er entbindet insbesondere auch von der Verpflichtung, den Nationaldienst zu leisten (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 8; EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 ff.; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33). Die Möglichkeit der Erlangung des Diaspora-Statusrichtet sich jedoch nur an freiwillige Rückkehrer (vgl. auch AI, Stellungnahme zum Umgang mit Rückkehrern und Kriegsdienstverweigerern in Eritrea, 28.7.2017, S. 1 f.). Anders als freiwillige Rückkehrer haben zwangsrückgeführte Personen nicht die Möglichkeit, ihren Status gegenüber den Behörden entsprechend zu regeln und sich damit eine mildere Behandlung zu sichern (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 68; SEM, Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 44).
55
(2) Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Gefahr der Bestrafung durch freiwillige Ausreise und Rückkehr unter dem Diaspora-Status nach Eritrea abwenden zu können.
56
Nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht, die in gleicher Weise für das Asylanerkennungsverfahren wie für das Abschiebungsschutzverfahren gilt, bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden (sog. inländische Fluchtalternative, vgl. BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 u.a. – juris; BVerwG, U.v. 6.10.1987 – 9 C 13.87 – juris) oder – in entsprechender Anwendung dieses Grundgedankens – durch eigenes zumutbares Verhalten die Gefahr politischer Verfolgung abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehören (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris). Eine solche freiwillige Rückkehrmöglichkeit ist bei der Gefahrenprognose im Asyl- und Flüchtlingsrecht folglich mit in den Blick zu nehmen, insbesondere, wenn sich durch eine freiwillige Rückkehr Verfolgungsgefahren vermeiden lassen, die im Falle der zwangsweisen Rückkehr als Abgeschobener infolge der damit verbundenen Vorabinformation und Kontakte zwischen Abschiebestaat und Zielstaat entstehen können.
57
(aa) Allerdings ist nach der Überzeugung des zuständigen Einzelrichters zum einen bereits nicht gesichert, dass die Klägerin den Diaspora-Status überhaupt erlangen kann.
58
Um den Diaspora-Status zu erlangen, muss der Auslandseritreer sein Identitätsdokument, den Zahlungsnachweis für die sog. Diaspora-Steuer, d.h. einen Betrag i.H.v. 2% des Einkommens (Gehalt oder Sozialleistungen), das „Reueformular“ und ein Schreiben der zuständigen eritreischen Auslandsvertretung vorlegen, in dem diese ihm einen mehr als dreijährigen Auslandsaufenthalt bestätigt (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 61 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Eritrea, 19. Mai 2021, S. 29). Das „Reueformular“ enthält die Erklärung, dass der Unterzeichnende bedauere, durch die Nichterfüllung des Nationaldienstes ein Vergehen begangen zu haben und dass er bereit sei, zu gegebener Zeit eine angemessene Bestrafung zu akzeptieren. Faktisch gilt außerdem die weitere Bedingung, dass bei dem Antragsteller keine regierungskritischen Aktivitäten festgestellt werden (vgl. EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 64).
59
Zum einen ist anzumerken, dass man den Diaspora-Status nach manchen Quellen überhaupt nur erlangen kann, wenn ein gesicherter Aufenthalt im Ausland vorliegt (vgl. Pro Asyl, Neues Eritrea-Gutachten bestätigt: Verweigerung von Schutz verkennt Realität, 12.10.2022). Im Hinblick auf den auf Auslandseritreer zugeschnittenen Zweck des Diaspora-Status erscheint es durchaus nachvollziehbar, dass für die Erlangung eine gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland oder ein ausländischer Pass erforderlich sei, um die Möglichkeit, ins Ausland zurückzukehren, nachzuweisen (so auch OVG Bautzen, U.v. 19.7.2023 – 6 A 923/20.A – beck-online). Jedenfalls aber ist der Diaspora-Status in erster Linie für Auslandseritreer gedacht, die besuchsweise in ihre Heimat reisen und sich dort kurzzeitig aufhalten möchten. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage, dass von Diaspora-Eritreern erwartet wird, dass diese mindestens einmal jährlich ausreisen. Andernfalls könne ihnen der Status entzogen werden, so dass sie wieder als normale Einwohner gelten würden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 19). Auch das Schweizerische Staatssekretariat für Migration führt aus, dass die Erkenntnisse zum Diaspora-Status sich überwiegend auf temporäre Rückkehrer beziehen; über das Ergehen definitiver Rückkehrer gebe es nur wenige Erkenntnisse (EJPD, SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016, S. 32; zu diesen Vorbehalten auch ausführlich SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, 15.8.2016). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt außerdem aus, dass nach 2002 ausgereiste Personen den Diaspora-Status kaum erhielten, insbesondere gebe es keine Rechtssicherheit (SFH, Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 30.9.2018, Eritrea: Reflexverfolgung, Rückkehr und „Diaspora-Steuer“, S. 10). Auch das EASO kann für die Gruppe der „dauerhaft Einreisenden“ nur wenige, mit Vorsicht zu behandelnde Quellen nennen (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, September 2019, S. 65). Vor dem Hintergrund, dass der eritreische Staat den Diaspora-Status vor allem deshalb „anbietet“, um sich eine überlebenswichtige Finanzierungsquelle zu erhalten, kann angenommen werden, dass dieser Status für permanente Rückkehrer nicht oder nur unter eingeschränkten Bedingungen eröffnet wird, da diese Personen zukünftig nicht mehr als ausländische Finanzierungsquelle zur Verfügung stehen. Zu beachten ist schließlich, dass aufgrund der dargestellten Willkür des eritreischen Regimes schon keine Sicherheit besteht, selbst bei Erfüllen der genannten Voraussetzungen den Diaspora-Status zu erhalten. Auch die Behörden ändern ihre Praxis immer wieder willkürlich (vgl. VG Bremen, B.v. 13.12.2021 – 7 K 2745/20 – beck-online m.w.N; a.A OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online).
60
Vor diesem Hintergrund kann die Klägerin den Diaspora-Status bereits nicht mit ausreichender Sicherheit erlangen. Die Klägerin hat keinen Flüchtlings- oder subsidiären Schutzstatus in Deutschland. Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den Nachweis einer Rückkehrmöglichkeit ins Ausland erbringen könnte und ihre Rückkehr ist nicht nur vorübergehend.
61
(bb) Aber selbst wenn man annimmt, dass die Klägerin bei einer freiwilligen Rückkehr den Diaspora-Status jedenfalls zunächst erlangen könnte, wofür sprechen könnte, dass auf diesem Weg auch Knowhow nach Eritrea geholt werden kann, ist fraglich, ob ihr ein Nachsuchen des Diaspora-Status zumutbar ist.
62
Problematisch ist die Unterzeichnung der „Reueerklärung“, in der bedauert wird, seine Dienstpflicht nicht erfüllt zu haben und erklärt, eine dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die „Reueerklärung“ von allen Eritreern unterzeichnet werden muss, die das Land illegal verlassen haben und den Nationaldienst nicht geleistet oder abgeschlossen haben. EASO stellt im Hinblick auf den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung unmissverständlich klar, dass von dem Erfordernis der Unterzeichnung des „Reueformulars“ nur Personen befreit seien, die vom Nationaldienst ausgenommen sind oder die den Dienst bereits abgeschlossen haben (EASO, Eritrea, Nationaldienst, Ausreise und Rückkehr, Herkunftsländer-Informationsbericht, September 2019, S. 60 f.).
63
Nach Art. 10 Abs. 1 der Proklamation Nr. 24/1992 issued to regulate the issuing of travel documents, entry and exit visa from Eritrea, and to control residence permits of foreigners in Eritrea (im Folgenden: Proklamation Nr. 24/1992, abrufbar in englischer Sprache unter https://www.refworld.org/sites/default/files/attachments/54c0d9d44.pdf) kann keine Person Eritrea über andere Stellen verlassen als über die vom Sekretär für innere Angelegenheiten genehmigten. Nach Art. 11 der Proklamation Nr. 24/1992 kann niemand Eritrea verlassen, wenn er nicht im Besitz eines gültigen Reisedokuments, eines gültigen Ausreisevisums und eines gültigen internationalen Gesundheitszeugnisses ist. Die vorgenannten Voraussetzungen für eine legale Ausreise muss jede Person, unabhängig von ihrem Alter, erfüllen.
64
Die Klägerin war im Zeitpunkt ihrer Ausreise bereits zum Nationaldienst herangezogen worden. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass im Falle der Klägerin die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ verlangt wird.
65
Geht man davon aus, dass eine „Reueerklärung“ gefordert wird, wäre ein Verweis auf die freiwillige Ausreise unter Diasporastatus bereits unter diesem Aspekt wohl unzumutbar.
66
Das Bundesverwaltungsgericht hat im Kontext der Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 5 Abs. 1 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) entschieden, dass die Abgabe der „Reueerklärung“ unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, im Hinblick auf die darin enthaltene Selbstbezichtigung weder eine zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen seien dem Betroffenen gegen seinen Willen nur zuzumuten, wenn sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar seien. Dies sei bei der „Reueerklärung“ nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entferne sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Betroffene sich darauf gegen seinen Willen nicht verweisen lassen müsse. Es sei weder ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staats erkennbar noch sei ersichtlich, dass die von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im eritreischen Recht irgendeine formelle Grundlage hätte (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Mit der Erklärung sei eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt verbunden und werde ein Loyalitätsbekenntnis zu dem eritreischen Staat abgefordert, das dem Betroffenen gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zumutbar sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Das Bundesverwaltungsgericht führte weiter aus, dies gelte umso mehr, als es in Eritrea nach den erstinstanzlichen Feststellungen kein rechtsstaatliches Verfahren gebe (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Angesichts der dem eritreischen Staat attestierten gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgung könne ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr müsse der Betroffene unter den beschriebenen Umständen (willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis) kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und sei allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris). Dies gelte jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit sei (BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris).
67
Der in Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt für die hier unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität des Asylrechts anzustellenden Zumutbarkeitsprüfung im Hinblick auf die Abgabe der „Reueerklärung“ als ein dem Asylantragsteller zumutbares Verhalten zur Gefahrenabwehr (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris u. U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris) nach Ansicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters eine gewisse Aussagekraft zu. Denn sie betrifft im Kern die Frage, ob die Abgabe der „Reueerklärung“ wegen der darin enthaltenen Selbstbezichtigung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.10.2022 – 1 C 9.21 – juris; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23; a.A. OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG). Daran muss sich die Zumutbarkeit der Abgabe der „Reueerklärung“ auch im hier vorliegenden asylrechtlichen Kontext messen lassen.
68
Ausgehend hiervon spricht viel dafür, dass die Abgabe dieser „Reueerklärung“ unzumutbar ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Auswärtigen Amtes im aktuellen Lagebericht, wonach der Text als Ermahnung zu verstehen sei und keine Rechtsnachteile für den Unterzeichner mit sich bringe (AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 16.10.2024 (Stand: August 2024), S. 22 f.). Zwar scheint für eine Zumutbarkeit zu sprechen, dass viele Eritreer diese Erklärung unterschreiben und unter Ausnutzung des Status vorübergehend nach Eritrea reisen und dies in der Regel auch unbehelligt tun können. Allerdings lassen sich hieraus keine zwingenden Rückschlüsse auf eine permanente Rückkehrsituation treffen. Hier fehlen solche Erfahrungswerte gerade. Auch ist die Zumutbarkeit vor dem Hintergrund des willkürlichen Verhaltens und der fehlenden Rechtsstaatlichkeit Eritreas zu sehen. Der zuständige Einzelrichter geht von der Annahme einer Unzumutbarkeit im Regelfall aus, ohne dass die Klägerin ihre Weigerung plausibel darstellen muss. Im Hinblick auf dieses Erfordernis ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 11.10.2022 (Az.: 1 C 9.21) zwar ausführte, dass jedenfalls gegen den geäußerten Willen eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“ vom Ausländer nicht verlangt werden könne. Diese Entscheidung betraf jedoch eine Person mit zuerkanntem Schutzstatus im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Passbeschaffung, nicht die Frage der Zumutbarkeit der Unterzeichnung im Zusammenhang mit einer straffreien Rückkehr. Wird selbst in diesem Fall eine Unzumutbarkeit jedenfalls gegen den Willen angenommen, spricht einiges dafür, dass eine Unterzeichnung der „Reueerklärung“, um eine möglicherweise straffreie Rückkehr nach Eritrea zu erreichen vor dem Hintergrund der Willkürlichkeit des Vorgehens des eritreischen Staats nicht verlangt werden kann, unabhängig davon, ob dies von Klägerseite ausdrücklich abgelehnt wurde (abstellend auf eine ausdrückliche Ablehnung wohl OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online; für eine Zumutbarkeit OVG Greifswald, U.v. 17.8.2023 – 4 LB 145/20 OVG – beck-online). Im Übrigen wurde im angesprochenem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sogar ausdrücklich offen gelassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist. Auch dies spricht dafür, dass es, wenn es um die Frage einer möglichen Bestrafung durch den Staat oder die Einberufung in den Nationaldienst geht, jedenfalls im Falle eines oft willkürlich agierenden Staates wie Eritrea generell unzumutbar ist, gerade diese Straftat schriftlich anzuerkennen (vgl. für § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG VGH Mannheim, B.v. 5.6.2024 – 12 S 871/22 – beck-online).
69
(cc) Aber selbst wenn man unterstellt, dass die Möglichkeit des Diasporastatus zur Verfügung steht und die Unterzeichnung der „Reueerklärung“ von der Klägerin nicht verlangt wird oder der Klägerin zumutbar wäre, bietet der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor einer Bestrafung der Klägerin wegen Wehrdienstentziehung.
70
Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass permanente Rückkehrer – je nach „Arrangement“ zwischen dem Rückkehrer und der eritreischen Regierung vor der Rückkehr – jedenfalls nach einer „Probezeit“ von sechs bis zwölf Monaten zum Nationaldienst eingezogen werden können (EASO, Eritrea, September 2019, S. 65, SFH, Eritrea: Rückkehr, 19. September 2019, S. 4 f., DIS, Country Report, Januar 2020, S. 30). Sie können (wieder) in den Nationaldienst einberufen werden und werden unter Umständen für Desertion, Dienstverweigerung oder illegale Ausreise bestraft. Nach anderen Quellen liegt die Schutzwirkung bei einem bis drei Jahren (vgl. Mekonnen/Yohannes, Voraussetzungen und rechtliche Auswirkungen des eritreischen Diaspora-Status, Mai 2022, S. 9; SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 33) bzw. bis zu sieben Jahren (DIS, Eritrea – National service, exit and entry, Januar 2020, S. 36). Gegen diese zeitliche Begrenztheit einer Schutzwirkung sprechen auch nicht die Aussagen, dass die große Mehrheit der Personen, die ihr Verhältnis zu dem eritreischen Staat durch den Diaspora-Status „bereinigt“ haben, tatsächlich (zunächst) nicht strafrechtlich verfolgt bzw. in den Nationaldienst aufgeboten werden (vgl. SEM, Focus Eritrea, Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 22, 34; AA, Auskunft an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 14.4.2020), da diese Aussage sich ausreichend gesichert nur auf temporäre Rückkehrer bezieht. Denn nur für diese Gruppe gibt es bislang aussagekräftige Erfahrungswerte (s.o.).
71
Der zuständige Einzelrichter geht auch nicht davon aus, dass die Erlangung des genannten Status und der damit einhergehende zeitweise Schutz, dass die Gefahr der Bestrafung nicht mehr im erforderlichen, ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit der Rückkehr zu sehen ist (so auch VG Magdeburg, U.v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online, VG Köln, U.v. 20.4.2023 – 8 K 14995/17.A – beck-online in Bezug auf Einberufungsgefahr; a.A. OVG Hamburg, U.v. 27.10.2021 – 4 Bf 106/20 – beck-online). Zwar ist bei der erforderlichen Prognose ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Rückkehr und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erforderlich. Allerdings handelt es sich hier jedenfalls bei sechs und zwölf Monaten nicht um einen unüberschaubaren Zeitraum, der zu einer Unsicherheit bezüglich der Gefahr führt. Im Hinblick auf die lange bestehende Situation in Eritrea erscheint vielmehr eine Änderung der Situation im Nationaldienst und seiner Einberufungspraxis bzw. Bestrafungspraxis auch in diesem absehbaren Zeitraum derzeit als nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch, dass andere Quellen von einem längeren Schutz sprechen (s.o.) führt vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Willkür, die in Eritrea herrscht, nicht zu einer anderen Einschätzung, sondern spricht vielmehr gegen eine Verlässlichkeit des Schutzes. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer freiwilligen Rückkehr mit einem „Diaspora-Status“ jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in dem erkannt wird, dass keine Rückkehr ins Ausland erfolgt, die Klägerin damit rechnen muss, wie ein normaler Inländer behandelt zu werden, und damit auch wegen Wehrdienstentziehung bestraft zu werden. Im Hinblick darauf, dass grundsätzlich eine jährliche Ausreise gefordert wird, erscheint damit eine Bestrafung jedenfalls nach einem Jahr als beachtlich wahrscheinlich, auch wenn längere „Probezeiten“ möglich sind.
72
Zudem bezieht sich der allgemeine – nicht auf Abschiebungsverbote beschränkte Maßstab – der Verschlechterung in absehbarer Zeit vorliegend – anders als bei Fällen, in denen die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Fokus steht – nicht lediglich auf das enge zeitliche Umfeld nach einer hypothetischen Abschiebung nach Eritrea. Vielmehr sind bei der Ausfüllung des Maßstabs auch sonstige Rückkehrmodalitäten, die bereits zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung feststehen und voraussehbar sind, mithin nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt zu befürchten sind, in den Blick zu nehmen (vgl. VG Magdeburg Urt. v. 25.5.2023 – 6 A 219/21 MD – beck-online). Hierfür spricht auch, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – beck-online) auch im Zusammenhang mit einer Überstellung nach der Dublin-III-VO auch die Zustände für Anerkannte im Überstellungsstaat in den Blick zu nehmen sind. Die Situation scheint bei einem überschaubaren Zeitraum und grundsätzlich einschätzbarer Entwicklung auch für eine Überstellung in den Herkunftsstaat vergleichbar, so dass ein zeitlicher Aufschub des Nationaldienstes für nur sechs bis zwölf Monate, der möglicherweise durch einen Diaspora-Status erreicht werden kann, nicht geeignet ist, die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts auszuschließen. Es ist damit auch hier bereits die Situation in den Blick zu nehmen, in der der Rückkehrer wieder wie ein normaler Inländer betrachtet würde.
73
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Klägerin nicht auf eine freiwillige Ausreise unter dem Diaspora-Status verwiesen werden kann, da sie diesen nicht gesichert erlangen kann, ein Nachfragen wohl unzumutbar wäre und der Diaspora-Status keinen ausreichenden Schutz vor der beachtlichen Gefahr einer alsbaldigen Bestrafung bieten würde. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Mutterschaft bei einer freiwilligen Rückreise eine Bestrafung bereits nicht beachtlich wahrscheinlich ist, so dass die Klägerin auch nicht aus diesem Grund auf eine Abwendungsmöglichkeit der Bestrafung durch eine freiwillige Rückreise verwiesen werden kann.
74
c) Bei einer Haftstrafe droht der Klägerin ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
75
Zwar scheinen die Haftbedingungen in Eritrea nicht zwangsläufig unmenschlich zu sein (vgl. AA Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, (Stand: November 2021) vom 3.1.2022, S. 20). Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen sind die Haftbedingungen jedoch z.T. unmenschlich hart und lebensbedrohlich. Auch wird von Schlägen und Folterungen berichtet. Auch sollen die hygienischen Zustände und die medizinische Versorgung in den Gefängnissen und Straflagern völlig unzureichend sein (vgl. AA Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea, (Stand: November 2021) vom 3.1.2022, S. 19; vgl. auch OVG Lüneburg, U.v. 18.7.2023 – 4 LB 8/23 – beck-online). Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung bzw. menschenrechtswidrige Behandlung bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit (s.o.). Die Gesamtumstände des Falles und insbesondere die Berücksichtigung des willkürlichen Verhaltens des eritreischen Staates im Hinblick auf die Behandlung von Personen, die illegal ausreisen, um sich dem Nationaldienst zu entziehen, führen zur Überzeugung, dass auch ein verständiger Mensch in der Situation der Klägerin das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen würde (vgl. auch VG Schleswig Holstein, U.v. 13.6.2023 – 3 A 242/21; a.A. VG Gera, U.v. 25.2.2020 – 4 K 1599/19 Ge – n.v.; VG Schleswig, U.v. 22.10.2018 – 2 A 365/17 – juris; VG Hamburg, U.v. 6.2.2020 – 19 A 641/19 – juris; VG Gießen – U.v. 12.6.2020 – 6 K 8852/17.GI.A – juris). Ausgehend hiervon liegt bei der Klägerin auf Grund der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung unter menschenrechtswidrigen Haftbedingungen die Gefahr eines ernsthaften Schadens i.S.d. § 4 AsylG vor.
76
Die Klägerin hat damit einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.
77
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Asyl nicht erhoben. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
78
Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).