Titel:
Keine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig von in Griechenland anerkannten vulnerablen Schutzberechtigten
Normenketten:
AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
1. Für anerkannt Schutzberechtigte besteht, soweit es sich nicht um vulnerable Personen handelt, bei einer Rückkehr nach Griechenland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Verelendung. (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einem durch einen Schlaganfall beeinträchtigten und körperlich stark geschwächten Schutzberechtigten mittleren Alters ist von einem erhöhten Schutzbedarf auszugehen, dem in Griechenland jedenfalls in den ersten sechs Monaten seines Aufenthalts nicht genügend Rechnung getragen werden kann. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung von anerkannt Schutzberechtigten jungen, gesunden und arbeitsfähigen Männern in Griechenland, Ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung einer vulnerablen Person (hier: mittleres Alter, Schlaganfall, halbseitige Lähmung) als anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland, international Schutzberechtigter, Rückkehr nach Griechenland, vulnerable Person, Schlaganfall, beeinträchtigte Leistungsfähigkeit, Existenzminimum, Obdachlosigkeit, Unterstützungsleistungen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 21741
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. August 2024 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt mit seiner Klage Rechtsschutz gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und eine Abschiebungsandrohung nach Griechenland.
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Der am … 1972 in … (Syrien) geborene staatenlose Kläger ist palästinensischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Bekenntnisses. Er reiste nach eigenen Angaben am 22. Mai 2024 erstmalig in die Bundesrepublik ein, wurde am 27. Mai 2024 hier aufgegriffen und stellte am 5. Juni 2024 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
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Eine EURODAC-Abfrage vom 27. Mai 2024 brachte für den Kläger Treffer der Kategorien 1 (10. November 2023) und 2 (30. Oktober 2023) für Griechenland.
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Bei einer Anhörung vor dem Bundesamt zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates am 5. Juni 2024 gab der Kläger an, er stamme aus Syrien, habe sein Land erstmalig am 29. August 2023 verlassen und sei über die Türkei, Griechenland und Belgien am 25. Mai 2024 nach Deutschland eingereist. Die europäische Union habe er erstmals am 29. Oktober 2032 in Griechenland betreten, wo er sich circa sechs bis sieben Monate, davon zwei Monate in einem Camp auf der Insel … und danach in der Natur aufgehalten habe. In Griechenland habe er auch internationalen Schutz beantragt und zuerkannt bekommen. Nach Familienangehörigen gefragt, gab er an, er habe eine Schwester in Deutschland.
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Mit Schreiben vom 8. Juli 2024 richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO an den griechischen Staat und fragte nach dem Ausgang des Asylverfahrens des Klägers in Griechenland.
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Mit Schreiben vom 15. Juli 2024 lehnte das griechische Ministerium für Migration und Asyl dieses Gesuch ab und teilte mit, dass der Kläger am 22. Dezember 2023 in Griechenland den Flüchtlingsstatus und eine Aufenthaltserlaubnis mit Gültigkeit bis 21. Dezember 2026 erhalten habe. Daher sei die Dublin III-Verordnung in seinem Fall nicht anwendbar.
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Bei einer weiteren Anhörung vor dem Bundesamt am 5. August 2024 trug der Kläger vor, er leide an Bluthochdruck, aber es gehe ihm soweit gut. Er habe von Anfang an nach Deutschland kommen wollen, Griechenland sei für ihn nur ein Durchreiseland gewesen. Er habe sich dort nur vom 30. Oktober 2032 bis zum 22. Mai 2024 aufgehalten. Nach dem Erhalt des Flüchtlingsstatus habe er nicht mehr im Camp bleiben dürfen. Er habe dann in einem Park geschlafen und das Essen von Bewohnern des Camps bekommen. Auf der Insel … habe er ganz lange erfolglos nach einem Job gesucht. Man habe ihm gesagt, dass er ein alter Mann sei und ihn beleidigt. Nach vier Monaten habe er aufgegeben. Seine Dokumente aus Griechenland habe er weggeworfen, in Griechenland sei die Situation sehr schwierig. Der Aufenthalt sei ein Albtraum gewesen. Seine Ehre sei in Griechenland verletzt worden, er sei dort diskriminiert worden. Er habe nach einem Job gesucht, sei aber dennoch wie ein Insekt behandelt worden. Nach konkreter Diskriminierung befragt, gab er an, er habe arabisch geredet und gesagt, dass er einen Job wolle, woraufhin man ihm nur mit Handzeichen angedeutet habe, dass er gehen solle. Er sei von allen unfreundlich behandelt worden, was er darauf zurückführe, dass er typisch arabisch aussehe. Im Camp habe er gegen seinen Bluthochdruck Medikamente erhalten.
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Bei einer weiteren Anhörung am selben Tag machte der Kläger Angaben zu seinem Herkunftsland Syrien.
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Mit Bescheid vom 27. August 2024 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2) und forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, da er andernfalls nach Griechenland abgeschoben werde. Er könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Übernahme verpflichtet sei, nicht jedoch in sein Herkunftsland (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
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Dieser Bescheid wurde am Kläger ausweislich der Empfangsbestätigung der ANKER-Dependance … am 30. August 2024 zugestellt. Zur Niederschrift der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle erhob er gegen den Bescheid am 2. September 2024 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach mit den Anträgen:
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. August 2024 wird aufgehoben.
2. Hilfsweise wird beantragt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen
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Die Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
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Ein gleichzeitig gestellter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wurde vom Gericht mit Beschluss vom 19. September 2024 abgelehnt (AN 17 S 24.50629). Ein Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO blieb ebenfalls erfolglos (B.v. 6.3.2025 – AN 17 S 24.50737). In der mündlichen Verhandlung am 15. Mai 2025 wurde der Kläger ergänzend befragt und legte ärztliche Atteste vor, aus denen unter anderem hervorging, dass er in der Zwischenzeit einen Schlaganfall erlitten hat. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogene Bundesamtsakte, auf die Gerichtsakten in den Eilverfahren und im vorliegenden Hauptsacheverfahren und auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, und begründet. Sie hat daher Erfolg.
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Der angefochtene Bescheid ist zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Da der Hauptantrag erfolgreich ist, war über den hilfsweise gestellten Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
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1. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist rechtswidrig. Ein Asylantrag ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist hier nach den vom Bundesamt eingeholten und vom Kläger bestätigten Auskünften der Fall. Ihm wurde in Griechenland internationaler Schutz gewährt.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dem die nationale Rechtsprechung folgt, darf der Asylantrag jedoch nicht als unzulässig abgelehnt werden, wenn eine Prognose ergibt, dass die Lebensverhältnisse, die den Schutzberechtigten in dem Land, in das er abgeschoben werden soll, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu erfahren (vgl. BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376, mit Verweisen auf: EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – Rn. 30; EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 – Rn. 35; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – Rn. 86/101). In einem solchen Fall ist bereits die Unzulässigkeitsentscheidung und nicht erst (aber auch) die Abschiebungsandrohung rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 17; U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 15).
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Innerhalb des Asylsystems gilt zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens dahingehend, dass jeder Mitgliedstaat das Unionsrecht und insbesondere die gemeinsamen Grundrechte einhält und gewährleistet. Als Regelfall ist zu vermuten, dass die Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die bereits durch einen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten haben, in jedem Mitgliedstaat den Erfordernissen der EU-Grundrechtscharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht (vgl. BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 20 mit Verweis auf EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – Rn. 28 f. u.a.). Aufgrund der fundamentalen Bedeutung dieses Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten (noch einmal betonend: HessVGH, U.v. 6.8.2024 – 2 A 1131/24.A; bezugnehmend auf: EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/1, C-318/17, C-319/17, C-438/17 „Ibrahim“ – juris Rn. 84) ist die Schwelle für eine entsprechende Gefahrenprognose für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, bzw. die Annahme einer in einem Mitgliedstaat gegebenenfalls existierenden Funktionsstörung nach der Rechtsprechung sehr streng. Sie ist erst erreicht, wenn eine solche Funktionsstörung erstens systemischer oder allgemeiner Art ist oder aber bestimmte Personengruppen trifft, sie zweitens eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht und drittens anzunehmen ist, dass die Gefahr, dieser unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, für den Drittstaatsangehörigen beachtlich wahrscheinlich ist (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – Rn. 31 m.w.N.). Auch ist zu beachten, dass Art. 3 EMRK weder eine Verpflichtung der Vertragsstaaten enthält, jeden mit einer Wohnung zu versorgen, noch eine allgemeine Verpflichtung begründet, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – NVwZ 2011, 413). Die Schwelle für derartige systemische Mängel ist erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem eigenen Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, ein Mindestmaß an körperlicher Hygiene zu erfahren und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot und Seife“, vgl. VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rn. 91 f. m.w.N.; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – Rn. 18). Die Erheblichkeitsschwelle wird nicht schon dann erreicht, wenn den Betroffenen eine Situation erwartet, die durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse bei stark reduziertem Umfang von existenzsichernden Leistungen gekennzeichnet ist. Auch die Tatsache, dass die betroffene Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, dabei aber nicht anders behandelt wird als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats, begründet in der Regel nicht das Erreichen dieser Erheblichkeitsschwelle. Zu einer anderen Bewertung könnte man nur bei einer schwerwiegenden Situation extremer materieller Not kommen, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – Rn. 18; BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 22 f.).
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Bei der Bewertung der Lebensumstände, die den Betroffenen bei seiner Rückkehr in dem Mitgliedstaat erwarten, ist zunächst zu prüfen, inwieweit er die Möglichkeit hat, seinen Lebensunterhalt auf einem Mindestniveau durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Ihm ist grundsätzlich auch zumutbar, wenig attraktive und nicht seiner Vorbildung entsprechende Tätigkeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen oder die nur zeitweise (etwa während der Touristensaison) ausgeübt werden können. Auch eine – wenigstens vorübergehende – Betätigung in der „Schatten“- oder „Nischenwirtschaft“ mutet ihm die Rechtsprechung zu (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – Rn. 29; BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – Rn. 29). Als zumutbar wird überdies angesehen, in dem Land übliche und geduldete „krumme“ Wege anzuwenden, wie zum Beispiel den Erwerb und die Angabe von (Schein-)Meldeadressen, um die bürokratischen Voraussetzungen für ein Fortkommen in Sachen Arbeit oder Wohnung zu schaffen. Vor dem Hintergrund des sehr strengen Maßstabs des Art. 4 GRCh erscheinen derartige Herausforderungen noch als vertretbar (vgl. zuletzt BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – Rn. 39). Zu beachten sind auch Unterstützungsleistungen von nichtstaatlichen Organisationen, Kirchen oder Privatpersonen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – Rn. 22 ff.; B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – Rn. 14; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 20). Zu beachten ist auch, dass es keine Beweislastumkehr dahingehend gibt, dass bei jedem Asylantragsteller die Unzulässigkeitsentscheidung im Dublin-Verfahren rechtswidrig wäre, wenn nicht das Bundesamt darlegt und nötigenfalls beweist, dass im Einzelfall Obdach und Existenzminimum gesichert sind (vgl. VG Bremen, U.v. 23.2.2023 – 5 K 1434/22; VG Bayreuth, B.v. 27.9.2023 – B 7 S 23.30770 – Rn. 25; VG Würzburg, U.v. 19.7.2023 – W 1 K 23.30227). Es bleibt Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verelendung schlüssig darzulegen, was insbesondere für in seine eigene Sphäre fallende Ereignisse und Umstände zutrifft (vgl. VGH BW, U.v. 22.2.2023 – A 11 S 1329/20 – juris Rn. 200; vgl. auch BayVGH, U.v. 28.3.2024-24B22.31136 – juris Rn. 23).
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2. Gemessen an den oben genannten Anforderungen geht das Gericht auf Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht davon aus, dass anerkannt Schutzberechtigten – jedenfalls nicht vulnerablen Personen – im Fall einer Rückkehr nach Griechenland dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verelendung droht. Für die Einschätzung der derzeitigen Situation in Griechenland für anerkannt Schutzberechtigte wird auf die Rechtsprechung der Kammer verwiesen (vgl. zuletzt VG Ansbach, B.v. 11.4.2024 – AN 17 S 24.50251; B.v. 7.8.2024 – AN 17 S 24.50438; B.v. 8.8.2024 – AN 17 S 24.50474; B.v. 6.5.2025 – AN 17 S 25.50118).
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Diese stellt sich nach Überzeugung des Gerichts zwar als durchaus hart und die Eigeninitiative des Einzelnen fordernd dar und ist auch geprägt von großen bürokratischen Hürden, überschreitet aber nicht die dargestellte Schwelle, sodass sie pauschal für jeden Personenkreis von Schutzberechtigten als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh angesehen werden könnte. Das Gericht hält insofern unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel an seiner bisherigen Rechtsprechung fest und teilt nicht die Auffassung, die mehrere Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe anderer Bundesländer vertreten bzw. vertraten (vgl. OVG Saarl., U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22; OVG Sachsen, U.v. 27.4.2022 – 5 A 492.21 A; VGH BW, U.v. 27.1.2022 – A 4 S 2443/21; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.11.2021 – OVG 3 B 53.19; OVG Bremen, U.v. 5.4.2022 – 11 A 314/22.A; NdsOVG, U.v. 19.4.2021 – 10 LB 244/20; OVG NRW, U.v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A), nämlich dass anerkannten Schutzberechtigten im Falle ihrer Rückkehr in Griechenland unmenschliche Lebensverhältnisse drohen. Die zitierte obergerichtliche Rechtsprechung beruht auf mittlerweile älteren Erkenntnismitteln und berücksichtigt nach Auffassung des Gerichts nicht die in der vorliegenden Entscheidung zugrunde gelegten Erkenntnisse über die aktuelle Lage in Griechenland, unter anderem die in letzter Zeit stark gewachsene Wirtschaft. Demgegenüber hält der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Lebensverhältnisse in Griechenland für nicht vulnerable Männer nicht für allgemein unzumutbar (vgl. HessVGH, U.v. 6.8.2024 – 2 A 1131/24.A; U.v. 6.8.2024 – 2 A 1132/24.A – beide juris). Aktuell wurde diese Rechtsprechung durch das Bundesverwaltungsgericht auf die Zulassung der Revision durch den Hessischen Verwaltungsgerichtshof bestätigt (vgl. Presseerklärung Nr. 30/2025 des BVerwG vom 16.4.2025 – 1 C 18.24 und 19.24).
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Nach der Ankunft in Griechenland haben rückkehrende Schutzberechtigte möglicherweise über einen längeren Zeitraum keinen effektiv gesicherten Zugang insbesondere zu Obdach und sanitären Einrichtungen. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass sich der Erhalt der erforderlichen Dokumente stark verzögern kann. Das ist namentlich die Aufenthaltserlaubnis, die Voraussetzung für den Erhalt der Steueridentifikationsnummer und der Sozialversicherungsnummer ist, was wiederum Voraussetzung für die Möglichkeit, eine Unterkunft anzumieten, ist. Die genannten Dokumente sind auch Voraussetzung für den Erhalt des Mindesteinkommens. Für dieses muss zudem ein Konto bei einer griechischen Bank (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationen der Staatendokumentation: Griechenland, 31.1.2024, S. 30) und ein Wohnsitznachweis vorgelegt werden (vgl. HessVGH, U.v. 6.8.2024 – 2 A 1132/24.A – juris Rn. 129). Weitergehende Sozialleistungen setzen einen legalen und durchgehenden Voraufenthalt in Griechenland von mindestens fünf Jahren voraus (vgl. AIDA, Country Report Greece Update 2023, 1.6.2024, S. 276). Insofern dürfte es anfangs für einen nicht unerheblichen Zeitraum von mehreren Monaten bis zu einem halben Jahr praktisch unmöglich sein, die verwaltungsmäßigen Voraussetzungen für den Erhalt des garantierten Mindesteinkommens zu erfüllen (vgl. hierzu auch HessVGH, U.v. 6.8.2024 – 2 A 1132/24.A – juris Rn. 180, wo von einem halben Jahr ausgegangen wird). Bei dieser Sachlage ist der Betroffene nach Überzeugung des Gerichts zur Abdeckung der Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ für diese Übergangszeit nach der Rückkehr nach Griechenland auf das eigenverantwortliche Handeln und auch die Hilfestellung von NGOs angewiesen. Diese Situation trifft in gleicher Weise auf mittel-, obdach- und arbeitslose Einheimische zu. Zu betonen ist auch, dass es nicht unzumutbar, sondern vielmehr selbstverständlich ist, für das eigene Fortkommen zu allererst auf sich selbst angewiesen zu sein. Vor diesem Hintergrund muss der jeweilige Schutzberechtigte, damit ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei seiner Rückkehr droht, nach Überzeugung des Gerichts grundsätzlich in der Lage sein, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative und unter Inanspruchnahme von Hilfsangeboten selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ist davon auszugehen, dass er diese Schwierigkeiten bewältigen kann und trägt er nicht plausibel Gegenteiliges vor, fehlt es an der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Griechenland.
22
Im vorliegenden Fall geht das Gericht – insbesondere nach dem in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewonnenen Eindruck – nicht davon aus, dass der Kläger dem gewachsen ist, sondern dass er einen erhöhten Schutzbedarf hat, dem in Griechenland jedenfalls in den ersten sechs Monaten seines Aufenthalts nicht genügend Rechnung getragen wird. Nach Überzeugung des Gerichts ist nicht ausreichend wahrscheinlich, dass er nach seiner Rückkehr nach Griechenland in der Lage sein wird, seine grundlegenden Bedürfnisse nach „Bett, Brot und Seife“ zu befriedigen. Maßgebend sind folgende Erwägungen: Der Kläger ist mit 53 Jahren zwar als Mann mittleren Alters anzusehen. Im Verfahren trug er indes diverse körperliche Gebrechen vor und belegte diese zuletzt auch durch fachärztliches Attest. Hieraus geht hervor, dass er an Bluthochdruck leidet und – für die Entscheidung ausschlaggebend – in der Zeit zwischen der Entscheidung über sein Eilverfahren und der mündlichen Verhandlung einen Schlaganfall erlitten hat, der eine halbseitige körperliche Lähmung zur Folge hatte. Auch wenn diese Lähmung ausweislich des vorgelegten Arztbriefs und nach Angabe des Klägers rückläufig ist und von einer Wiederherstellung auszugehen sein mag, konnte sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung dennoch einen guten Eindruck davon verschaffen, dass der Kläger körperlich stark geschwächt und eingeschränkt und daher nicht mehr leistungsfähig ist. Er befindet sich in einer deutlich schlechteren Allgemeinverfassung, als es bei einem Mann dieses Alters üblicherweise anzutreffen ist. Aufgrund seiner körperlichen Konstitution kann nicht realistisch davon ausgegangen werden, dass er zeitnah in Griechenland eine Arbeit findet, zumal in den Branchen, in denen Arbeitskräfte gesucht werden, nämlich im Tourismus, dem Baugewerbe und in der Landwirtschaft, vor allem körperlich anstrengende Arbeiten zu verrichten sind, zu denen der Kläger offensichtlich nicht mehr in der Lage ist. Gleichzeitig dürften aufgrund fehlender Griechischkenntnisse, die nicht zeitnah nachzuholen sind, seine Chancen, eine körperlich nicht fordernde Tätigkeit zu finden, stark eingeschränkt sein. Demnach wäre er auf dem Arbeitsmarkt für einen längeren Zeitraum gleichsam chancenlos und auf soziale Unterstützung angewiesen. Vom Bezug der einzigen beitragsfreien Sozialleistung – dem garantierten Mindesteinkommen – wäre er – wie dargestellt – im ersten halben Jahr in Griechenland jedoch faktisch ausgeschlossen, da nicht realistisch davon ausgegangen werden kann, dass er die erforderlichen Dokumente zeitnah beschaffen kann, um alle rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen. Mangels eigenen Einkommens und mangels legaler Beschäftigung wäre er auch nicht in der Lage, eine Wohnung oder ein Zimmer anzumieten. Auch das Hilfsprogramm HELIOS+ bietet lediglich Zuschüsse zur Miete, übernimmt diese aber nicht vollständig. Der Zugang zu Unterkünften für anerkannte Schutzberechtigte gestaltet sich schwierig und es sind nur wenige Plätze vorhanden (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Griechenland, 21.6.2024, S. 29 f.) Der Kläger wäre daher auf die Verteilung von Lebensmitteln durch Hilfsorganisationen und die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft angewiesen. Der Zugang zu diesen wird noch dadurch erschwert, dass viele – wenn auch nicht alle – Obdachlosenunterkünfte die Vorlage einer Sozialversicherungsnummer verlangen. Nach Überzeugung des Gerichts ist es ihm nach den dargestellten Erwägungen in seiner Verfassung nicht zumutbar, diese schwierigen Verhältnisse auf sich zu nehmen und für diesen Zeitraum vollständig auf sich selbst und auf die Angebote von Hilfsorganisationen angewiesen zu sein, bis er die bürokratischen Hürden für staatliche Hilfe überwunden hat. Insbesondere erscheint es ihm nicht zumutbar, sich im schlimmsten Fall täglich nach neuen Schlafgelegenheiten umzusehen und gegebenenfalls im Freien zu übernachten. Es ist daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers bei einer Rückkehr nach Griechenland auszugehen.
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3. Angesichts der Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids entfallen auch die Rechtsgrundlagen für die Entscheidungen in den Ziffern 2 bis 4 dieses Bescheids, da diese sämtlich eine (rechtmäßige) Ablehnung des Asylantrags als unzulässig voraussetzen. So ist nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei einer Entscheidung über einen unzulässigen Asylantrag die Feststellung über das Bestehen von Abschiebungsverboten zu treffen, nach § 35 AsylG im Falle eines unzulässigen Asylantrags (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) die Abschiebung in den Staat anzudrohen, in dem der Ausländer sicher ist, und nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG über das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu entscheiden. Da der Asylantrag des Klägers im vorliegenden Fall nicht als unzulässig abgelehnt werden durfte, sind im Urteil auch die Entscheidungen in den Ziffern 2 bis 4 des angefochtenen Bescheids aufzuheben.
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4. Wegen Stattgabe der Klage im Hauptantrag war über die hilfsweise beantragte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.