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VerfGH München, Entscheidung v. 02.07.2025 – Vf. 25-VII-20
Titel:

Unzulässige Popularklage gegen außer Kraft getretenes Recht (Corona-Verordnungen)

Normenkette:
BV Art. 98 S. 4
Leitsätze:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen Vorschriften in mehreren außer Kraft getretenen Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, weil kein objektives Interesse mehr an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. (Rn. 10 – 20)
In Bestands- bzw. Rechtskraft erwachsene Rechtsanwendungsakte bleiben von einer positiven Entscheidung über die Popularklage unberührt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Popularklage, außer Kraft getretenes Recht, Feststellungsinteresse
Fundstelle:
BeckRS 2025, 21096

Tenor

Der Antrag wird abgewiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen einzelne Vorschriften zu Corona-Schutzmaßnahmen, die das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege im März und April 2020 sowie im Oktober 2020 jeweils durch Rechtsverordnung auf Grundlage des § 32 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) in der jeweiligen damals geltenden Fassung erlassen hatte.
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Im Einzelnen greift der Antragsteller folgende Vorschriften an:
- § 1 Abs. 1, §§ 2, 4 und 5 Nrn. 1 bis 6 und 9 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – BayIfSMV) vom 27. März 2020 (BayMBl Nr. 158, BayRS 2126-1-4-G, 2126-1-5-G), die durch Verordnung vom 31. März 2020 (GVBl S. 194, BayMBl Nr. 162) geändert worden ist,
- § 1 Abs. 1 und § 5 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) vom 16. April 2020 (GVBl S. 214, BayMBl Nr. 205, BayRS 2126-1-5-G), die zuletzt durch Verordnung vom 28. April 2020 (GVBl S. 254, BayMBl Nr. 225) geändert worden ist,
- § 3 Abs. 1 und 2, §§ 5, 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und 4, § 11 Abs. 1, § 13 Abs. 1, § 14 Abs. 1 und § 23 der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (8. BayIfSMV) vom 30. Oktober 2020 (BayMBl Nr. 616, BayRS 2126-1-12-G).
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Die beanstandeten Vorschriften der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 und der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16. April 2020 galten vom 31. März/1. April 2020 bis zum 19. April 2020 bzw. vom 20. April bis zum 3. Mai 2020. Die angegriffenen Regelungen betrafen die Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen einschließlich der Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie der Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften (§ 1 Abs. 1 BayIfSMV, § 1 Abs. 1 2. BayIfSMV), Betriebsuntersagungen für Freizeiteinrichtungen, Gastronomiebetriebe, Hotels und Beherbergungsbetriebe, Ladengeschäfte des Einzelhandels sowie Einschränkungen für Dienstleistungsbetriebe (§ 2 BayIfSMV) und Abstandsregelungen sowie Ausgangsbeschränkungen (§ 4 BayIfSMV, § 5 2. BayIfSMV). Zudem werden Ordnungswidrigkeitentatbestände, soweit sie sich auf die genannten Regelungen der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 bezogen, angegriffen (§ 5 Nrn. 1 bis 6 und 9 BayIfSMV).
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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 4. Oktober 2021 (BayVBl 2022, 158, GVBl 2022 S. 755, bestätigt durch BVerwG vom 22.11.2022 BVerwGE 177, 92) festgestellt, dass § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV (vorläufige Ausgangsbeschränkung) wegen Verstoßes gegen das im Grundgesetz verankerte Übermaßverbot unwirksam waren. Weiter hat er mit Urteil vom 6. Oktober 2022 (20 N 20.783 – juris, GVBl 2024 S. 48, bestätigt durch BVerwG vom 15.2.2024 BVerwGE 181, 319) festgestellt, dass § 2 Abs. 1 BayIfSMV (Betriebsuntersagung für Freizeiteinrichtungen) wegen Verstoßes gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot unwirksam war.
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Von den angegriffenen Vorschriften der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 30. Oktober 2020 galten § 10 Abs. 3 und 4 in der beanstandeten Fassung nur bis zu einer Änderung u. a. dieser Regelungen durch Verordnung vom 12. November 2020 (BayMBl Nr. 639), also vom 2. bis zum 12. November 2020, die weiteren Regelungen vom 2. November 2020 bis zum Außerkrafttreten der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung insgesamt mit Ablauf des 30. November 2020. Die Vorschriften betrafen Kontaktbeschränkungen (§ 3 Abs. 1 und 2 8. BayIfSMV), die Untersagung von Veranstaltungen (§ 5 8. BayIfSMV), Beschränkungen der Ausübung von Freizeitsport, des Betriebs von Sportstätten und die Untersagung des Betriebs von Fitnessstudios (§ 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und 4 8. BayIfSMV), die Untersagung von Freizeiteinrichtungen (§ 11 Abs. 1 8. BayIfSMV) und Gastronomiebetrieben (§ 13 Abs. 1 8. BayIfSMV), Beherbergungsverbote, insbesondere die Untersagung von Übernachtungsangeboten zu touristischen Zwecken (§ 14 Abs. 1 8. BayIfSMV), sowie die Schließung von Kulturstätten (§ 23 8. BayIfSMV, der unter diesem Begriff etwa Museen, Ausstellungen, Theater, Opern, Kinos, zoologische und botanische Gärten erfasste).
II.
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1. Zur Begründung der ursprünglich gegen Vorschriften der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung gerichteten und mit Schriftsätzen vom 3. Mai und 24. November 2020 erweiterten Popularklage vom 16. April 2020 trägt der Antragsteller zunächst zu den im März und April 2020 in der Anfangszeit der CoronaPandemie erlassenen Rechtsverordnungen vor, dass die damaligen Regelungen gegen Grundrechte der Bayerischen Verfassung verstoßen hätten: Die Regelungen zur Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen in § 1 Abs. 1 BayIfSMV und § 1 Abs. 1 2. BayIfSMV hätten gegen die Versammlungsfreiheit (Art. 113 BV), die Religionsfreiheit (Art. 107 BV), die Kunstfreiheit (Art. 108 BV), die Vereinigungsfreiheit (Art. 114 BV) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) verstoßen. Die Vorschriften zu Betriebsuntersagungen in § 2 BayIfSMV hätten die Eigentumsfreiheit (Art. 103 BV), die Berufsfreiheit (Art. 101 BV) und die Kunstfreiheit (Art. 108 BV) verletzt. Die Abstandsregelungen und Ausgangsbeschränkungen gemäß § 4 BayIfSMV und § 5 2. BayIfSMV hätten unzulässige Eingriffe in das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 102 Abs. 1 BV), die Freizügigkeit (Art. 109 BV), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV), den Schutz von Ehe und Familie (Art. 124 Abs. 1 BV), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 100 i. V. m. Art. 101 BV) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) dargestellt. Zudem hätten alle angegriffenen Vorschriften gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) verstoßen, weil es für sie keine ausreichende gesetzliche Ermächtigung gegeben habe und die Regelungen teilweise zu unbestimmt gewesen seien. Sämtliche Bestimmungen hätten in unverhältnismäßiger Weise in die Freiheitsrechte der Bürger eingegriffen; es seien jedenfalls mildere Mittel (z. B. Auflagen anstatt Verbote) denkbar gewesen. § 5 BayIfSMV, der vorgesehen habe, dass Verstöße gegen §§ 1 bis 4 BayIfSMV Ordnungswidrigkeiten darstellten, habe die gleichen Grundrechte verletzt wie die Regelungen, auf die er sich bezogen habe.
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Durch die im Oktober 2020 erlassene Achte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, mit der der Verordnungsgeber auf die damalige erhebliche Zunahme an Infektionen im Zuge des Pandemiegeschehens reagiert habe, seien erneut intensive und nicht gerechtfertigte Eingriffe in Grundrechte der Bayerischen Verfassung erfolgt. Die Kontaktbeschränkungen nach § 3 Abs. 1 und 2  BayIfSMV hätten unzulässig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 100 i. V. m. Art. 101 BV) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) eingegriffen, die Regelungen zur Untersagung von Veranstaltungen gemäß § 5  BayIfSMV in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV), die Kunstfreiheit (Art. 108 BV) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 114 BV). Die Vorschriften hätten jeweils gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) verstoßen, da sie zu unbestimmt und unverhältnismäßig gewesen seien. Die Vorschriften zu Beschränkungen des Freizeitsports in § 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und 4 8. BayIfSMV hätten in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 100 i. V. m. Art. 101 BV), die Berufsfreiheit (Art. 101 BV), das Eigentumsrecht (Art. 103 BV) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) eingegriffen. Auch diese Grundrechtseingriffe seien unverhältnismäßig und damit nicht gerechtfertigt gewesen. Zudem habe die Ungleichbehandlung von Fitnessstudios gegenüber sonstigen Sportstätten gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 118 Abs. 1 BV) verstoßen. Die Freizeiteinrichtungen (§ 11 Abs. 1 8. BayIfSMV), Gastronomiebetriebe (§ 13 Abs. 1 8. BayIfSMV), Beherbergungsverbote (§ 14 Abs. 1 8. BayIfSMV) und Kulturstätten (§ 23 8. BayIfSMV) betreffenden Regelungen hätten in die Berufsfreiheit (Art. 101 BV), das Eigentumsrecht (Art. 103 BV), die Kunstfreiheit (Art. 108 BV) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) eingegriffen und diese Grundrechte verletzt, da sie wiederum unverhältnismäßig gewesen seien. Zudem habe ein Verstoß gegen das Gleichheitsgrundrecht (Art. 118 Abs. 1 BV) durch die Ungleichbehandlung der betroffenen Unternehmen und Einrichtungen gegenüber Groß- und Einzelhandelsbetrieben sowie Friseuren vorgelegen. Auch insgesamt fehle es den Regelungen an Konsistenz.
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2. Die Bayerische Staatsregierung hält die Popularklage in ihrer Stellungnahme vom 26. Juni 2020 für unbegründet.
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Der Bayerische Landtag hat sich nicht am Verfahren beteiligt.
III.
10
Die Popularklage, die sich ausschließlich gegen nicht mehr geltendes Recht richtet, ist insgesamt unzulässig geworden, weil es inzwischen mangels objektiven Feststellungsinteresses an einem zulässigen Antragsgegenstand fehlt.
11
1. Bei den angegriffenen Corona-Schutzmaßnahmen handelt es sich um Rechtsvorschriften des bayerischen Landesrechts, deren Verfassungswidrigkeit jedermann durch Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (Popularklage) geltend machen kann (Art. 98 Satz 4 BV und Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Dem steht nicht entgegen, dass sie auf einer bundesrechtlichen Ermächtigung beruhten. Denn der bayerische Normgeber, der aufgrund einer bundesrechtlichen Ermächtigung tätig wird, setzt Landesrecht und bleibt in den Bereichen, in denen das Bundesrecht ihm Entscheidungsfreiheit belässt, an die Bayerische Verfassung gebunden (vgl. VerfGH vom 27.9.2023 BayVBl 2024, 78 Rn. 34 zur 4. BayIfSMV). Die angegriffenen Verordnungsregelungen sind jedoch kein zulässiger Prüfungsgegenstand im Popularklageverfahren mehr.
12
Der Verfassungsgerichtshof hat bei der Prüfung, ob eine Rechtsvorschrift verfassungswidrig ist, seiner Beurteilung grundsätzlich den Rechtszustand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Außer Kraft getretene Rechtsvorschriften unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur dann, wenn noch ein objektives Interesse an der Feststellung besteht, ob sie mit der Bayerischen Verfassung vereinbar waren. Der Verfassungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein solches Interesse insbesondere dann bestehen kann, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Rechtsnorm noch rechtliche Wirkungen entfalten kann, weil sie für künftige (z. B. gerichtliche) Entscheidungen noch rechtlich relevant ist (vgl. VerfGH vom 30.8.2017 VerfGHE 70, 162 Rn. 75; vom 20.8.2019 VerfGHE 72, 157 Rn. 18; vom 7.12.2021 VerfGHE 74, 265 Rn. 41; vom 14.6.2023 - Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 51; BayVBl 2024, 78 Rn. 36, jeweils m. w. N.; Müller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 98 Satz 4 Rn. 14; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 23). Ein objektives Interesse wird hingegen nicht allein dadurch begründet, dass die außer Kraft getretenen Vorschriften schwerwiegende Grundrechtseingriffe bewirkt haben oder ihre Geltungsdauer zu kurz war, um ein Popularklageverfahren in der Hauptsache durchzuführen (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 36; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vom 28.1.2025 – Vf. 2-VII-19 – juris Rn. 9).
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Denn die Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV, die an die Antragsberechtigung geringe Anforderungen stellt (Art. 55 Abs. 1 Satz 1 VfGHG: „jedermann“) und keiner Fristbindung unterliegt, dient nicht in erster Linie dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen, der unter Umständen auch bei überholten Grundrechtseingriffen nachträglichen – subjektiven – gerichtlichen Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren beanspruchen kann (vgl. BVerfG vom 3.3.2004 BVerfGE 110, 77/85 ff.; zur nachträglichen gerichtlichen Klärung in einem Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO vgl. BVerwG vom 22.11.2022 BVerwGE 177, 60 Rn. 12 ff.). Die verfassungsgerichtliche Popularklage ist vielmehr – anders als die Verfassungsbeschwerde nach Art. 120 BV zum Schutz der eigenen Grundrechte – ein objektives Verfahren (vgl. VerfGHE 74, 265 Rn. 42; VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 54 und 58; BayVBl 2024, 78 Rn. 36 m. w. N.; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 98 Rn. 8). Der Verfassungsgerichtshof soll im Popularklageverfahren über die Geltung der angegriffenen Norm entscheiden, nicht über konkrete Anwendungsfälle. Daher ist die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht in dem Sinn zu verstehen, dass jede mögliche noch andauernde Rechtswirkung zum Nachteil Einzelner automatisch ein objektives Interesse an der Kontrolle von außer Kraft getretenem Recht im Rahmen einer Popularklage begründet. Hinzukommen muss vielmehr, dass die Grundrechte als Institution betroffen sind, etwa weil es um eine Vielzahl nicht abgeschlossener Fälle und nicht nur um einzelne Verfahren geht, in denen die Betroffenen auf Individualrechtsschutz zu verweisen sind (vgl. VerfGH vom 14.6.2023 – Vf. 15-VII-18 – juris Rn. 58; vom 18.12.2024 – Vf. 15-VII-17 – juris Rn. 28; vgl. auch VerfGH vom 13.3.2025 – Vf. 5-VIII-18 u. a. – juris Rn. 71 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung).
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2. An diesen Maßstäben gemessen ist die Popularklage insgesamt unzulässig. An einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 sowie der Zweiten und Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung besteht kein objektives Interesse mehr.
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Für noch andauernde Rechtswirkungen im dargestellten Sinn ist nichts vorgetragen oder ersichtlich. Anders als bei der mit Entscheidung vom 27. September 2023 inhaltlich geprüften allgemeinen Maskenpflicht nach §§ 8 und 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 4. BayIfSMV (VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 37) können die hier beanstandeten Vorschriften insbesondere keine Rechtswirkungen mehr für eine Vielzahl noch nicht rechtskräftig abgeschlossener Ordnungswidrigkeitenverfahren entfalten.
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a) Soweit sich die Popularklage gegen § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV richtet, steht bereits aufgrund der rechtskräftigen Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Oktober 2021 und 6. Oktober 2022 (siehe oben unter I.) allgemein verbindlich fest (vgl. § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2, Satz 3 i. V. m. § 183 VwGO), dass die angegriffenen Vorschriften von Anfang an unwirksam waren und zu keinem Zeitpunkt Rechtswirkungen entfalten konnten. Daher scheidet hier ein objektives Feststellungsinteresse, wie in aller Regel in solchen Fällen, aus (vgl. VerfGHE 72, 157 Rn. 15 zur Verfahrenseinstellung nach Erledigterklärung; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 98 Rn. 23 m. w. N.).
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b) Im Übrigen ist insgesamt weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass zu den angegriffenen Vorschriften noch immer in relevantem Ausmaß behördliche oder gerichtliche Verfahren anhängig wären, für die es auf die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Regelungen ankäme. Insbesondere kann mittlerweile ausgeschlossen werden, dass wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstöße gegen die genannten Vorschriften, die nach § 5 Nrn. 1 bis 6 und 9 BayIfSMV, § 7 Nrn. 1 und 9 2. BayIfSMV, § 27 Nrn. 1, 2, 4, 7, 8, 10, 11 und 17 8. BayIfSMV, jeweils i. V. m. § 73 Abs. 1 a Nr. 24, Abs. 2 IfSG, bußgeldbewehrt waren, heute noch belastende Entscheidungen ergehen könnten. Laut einem per Pressemitteilung veröffentlichten Beschluss der Bayerischen Staatsregierung vom 5. November 2024 werden laufende Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verstößen gegen Corona-Rechtsvorschriften nicht weiterverfolgt. Davon erfasst sind sämtliche bei den Kreisverwaltungsbehörden, den Staatsanwaltschaften und den Gerichten anhängigen Bußgeldverfahren und Vollstreckungsverfahren wegen Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit Verstößen gegen Corona-Rechtsvorschriften, insbesondere auch gegen die anlässlich der Corona-Pandemie erlassenen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen. Bei den zuständigen Verfolgungsbehörden anhängige Verfahren sollen eingestellt werden und die Staatsanwaltschaften bei den Gerichten die Einstellung dort noch anhängiger Verfahren anregen. Bei bereits rechtskräftigen Bußgeldbescheiden findet keine weitere Vollstreckung statt, noch ausstehende Geldbußen werden erlassen (https://www.bayern.de/bericht-aus-derkabinettssitzung-vom-5-november-2024/). Damit sind insoweit noch andauernde Rechtswirkungen für künftige Behörden- oder Gerichtsentscheidungen auszuschließen. Bereits bezahlte Bußgelder könnten auch dann nicht zurückgefordert werden, wenn die Popularklage Erfolg hätte, da in Bestands- bzw. Rechtskraft erwachsene Rechtsanwendungsakte von einer positiven Entscheidung über die Popularklage unberührt blieben (vgl. § 183 VwGO sowie zur entsprechenden Anwendung von § 79 BVerfGG VerfGH vom 29.4.1993 VerfGHE 46, 137/140; vom 27.8.2018 VerfGHE 71, 223 Rn. 25). Die nur theoretische Möglichkeit der Wiederaufnahme von Bußgeldverfahren entsprechend § 79 Abs. 1 BVerfGG (vgl. dazu Bethge in Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 79 Rn. 39 m. w. N.) reicht zur Begründung eines objektiven Feststellungsinteresses nicht aus (vgl. VerfGH vom 10.11.2021 BayVBl 2022, 116 Rn. 24). Die Popularklage dient dem objektivrechtlichen Schutz der Grundrechte gegenüber Rechtsvorschriften, von denen noch rechtliche Wirkungen ausgehen können, nicht dagegen der nachträglichen Beseitigung von Entscheidungen, die trotz der gegebenen Rechtsmittel des Individualrechtsschutzes einschließlich der damit inzident verbundenen Möglichkeiten der Normüberprüfung rechtskräftig geworden sind (vgl. VerfGHE 46, 137/140).
18
c) Für – sonstige – andauernde rechtliche Wirkungen nach dem Außerkrafttreten oder ein objektives Interesse aus anderen Gründen bestehen keine Anhaltspunkte. Das gilt umso mehr, als die beanstandeten Corona-Schutzmaßnahmen auf einer bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage beruhten und deshalb von vornherein nur einer eingeschränkten Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen (vgl. VerfGH BayVBl 2024, 78 Rn. 45 ff., 69).
19
Ein fortbestehendes Feststellungsinteresse kann auch nicht mit der allgemeinen Erwägung begründet werden, im Fall einer erneuten Pandemie müsse wiederum mit vergleichbaren Beschränkungen auf infektionsschutzrechtlicher Grundlage gerechnet werden. Wie die im Verlauf der Corona-Pandemie zu beobachtende Dynamik des Infektionsgeschehens zeigt, die in wiederholten Präzisierungen der bundesgesetzlichen Vorgaben und in zahlreichen Neufassungen der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen ihren Niederschlag gefunden hat, ließe sich das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Überprüfung von Grundrechtsbeschränkungen, die in einem länger zurückliegenden Zeitraum gegolten haben, nicht auf mögliche künftige Pandemielagen übertragen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Gefährlichkeit und zu den Verbreitungswegen eines bestimmten Virus wie auch zur Wirksamkeit von Schutzvorkehrungen fortlaufend weiterentwickelt, sodass die Prüfung der Vertretbarkeit und Verhältnismäßigkeit konkreter Vorsorgemaßnahmen immer nur mit Blick auf die jeweils aktuellen Umstände erfolgen kann.
20
Damit würde die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der hier angegriffenen Regelungen letztlich im Rahmen eines – für die Zulässigkeit der Popularklage nicht ausreichenden – theoretischen Feststellungsinteresses, nicht aber in einem die konkrete Rechtsanwendung betreffenden Zusammenhang erfolgen.
IV.
21
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).