Inhalt

VG München, Urteil v. 30.04.2025 – M 9 K 23.2944
Titel:

Nachbarklage, Baugenehmigung, Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung (kein Nachbarschutz), Rücksichtnahmegebot (nicht verletzt), Befreiungen

Normenketten:
BauGB § 30 Abs. 1
BauGB § 31 Abs. 2
Schlagworte:
Nachbarklage, Baugenehmigung, Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung (kein Nachbarschutz), Rücksichtnahmegebot (nicht verletzt), Befreiungen
Fundstelle:
BeckRS 2025, 20564

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit vier Wohneinheiten und Tiefgarage auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung … (im Folgenden: Baugrundstück).
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Der Kläger ist Miteigentümer des nördlich an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücks FlNr. …, Gemarkung … (im Folgenden: Nachbargrundstück). Dieses ist wie das Grundstück des Beigeladenen mit einem Wohnhaus bebaut.
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Das Bau- und das Nachbargrundstück liegen im Bereich eines qualifizierten Bebauungsplans vom 5. April 1972. Im Bebauungsplan ist für das Baugrundstück ein reines Wohngebiet festgesetzt. In der Begründung zum maßgeblichen Bebauungsplan Nr. … „F* … – Mitte“ heißt es, durch die Festsetzung von Wohnbau- und Gemeinbedarfsflächen soll den Wohnbauwünschen für ca. 700 Einwohner und den öffentlichen Baubedürfnissen in der Gemeinde Rechnung getragen werden.
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Mit Bescheid vom 15. Mai 2023 wurde dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung erteilt. Zugleich wurden unter anderem folgende Befreiungen erteilt:
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1. Überbaubare Grundstücksflächen
- Überschreitung der südlichen Baugrenze um 1,9 m
- Überschreitung der östlichen Baugrenze um 2,4 m
- Überschreitung der nördlichen Baugrenze um 0,6 m
- Baulinie im Westen (festgesetzt im Bebauungsplan: 8,00 m Abstand zur westlichen Grundstücksgrenze; geplant: Abrücken von der Baulinie um 0,26 m, die Entfernung der westlichen Gebäudeaußenwand zur westlichen Grundstücksgrenze beträgt 8,26 m)
2. Geschoßflächenzahl (festgesetzt im Bebauungsplan: 0,5; geplant: 0,61)
3. Anzahl der Wohneinheiten (festgesetzt im Bebauungsplan: 2; geplant: 4)
4. Kniestockhöhe (festgesetzt im Bebauungsplan: Kniestöcke sind unzulässig; geplant: 1,00 m)
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Das genehmigte Bauvorhaben hält die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück ein.
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Gegen den Bescheid ließ der Kläger mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 14. Juni 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tag, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und beantragen,
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die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Beklagten für das Vorhaben Neubau eines Mehrfamilienhauses mit 4 WE und Tiefgarage, T* …straße 4, Gemarkung …, FlNr. …, vom 15. Mai 2023, AZ. …, aufzuheben.
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Zur Begründung wird mit Schriftsatz vom 10. Juli 2023, eingegangen am 11. Juli 2023, im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorhaben das Gebot der Rücksichtnahme zu Lasten des Klägers verletze. Durch das Vorhaben erfolge eine Verschattung des klägerischen Grundstücks, der Baukörper habe eine erdrückende Wirkung und die Umsetzung des Vorhabens ermögliche erstmals einen Einblick in den Außenwohnbereich des Klägers. Die Gesamtschau der Befreiungen bewirke die Unzulässigkeit. Durch sie werde das zugrundeliegende Plankonzept berührt, ebenso wie durch die erhöhte Anzahl an Wohneinheiten, die zu einer dem planerischen Grundkonzept widersprechenden Nachverdichtung führten. Durch die Befreiung werde der Bebauungsplan obsolet. Im Übrigen wird auf den Schriftsatz Bezug genommen.
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Die Beklagte beantragt
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Klageabweisung
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und führt zur Begründung mit Schriftsatz vom 1. August 2023, eingegangen am 2. August 2023, im Wesentlichen aus, dass keine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme gegeben sei. Eine Veränderung des Gebietscharakters durch das Vorhaben scheide aus. Auch wenn in Ausnahmefällen „Quantität in Qualität“ umschlagen könne, sei das vorliegend mit nur vier Wohneinheiten nicht der Fall. Eine unzumutbare Verschattung oder erdrückende Wirkung liege nicht vor. Sofern wie hier von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplanes Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilt würden, habe der Nachbar über die das Rücksichtnahmegebot konkretisierende „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung oder gar auf Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB. Im Übrigen könne unabhängig vom zugrundeliegenden städtebaulichen Plankonzept des Bebauungsplans Nr. 165 II gemäß § 31 Abs. 3 BauGB in Gebieten mit einem angespannten Wohnungsmarkt, zu welchen auch die Stadt Ingolstadt gehöre, von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden. Im Übrigen wird auf den Schriftsatz sowie die Begründung des Ausgangsbescheids Bezug genommen.
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Der Beigeladene stellt keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll von Augenschein und mündlicher Verhandlung vom 30. April 2025, auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegte Behördenakte samt genehmigter Bauvorlagen und auf den Bescheid vom 15. Mai 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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A. Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt keine im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden, zugunsten des Klägers drittschützenden Vorschriften, § 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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In der hier vorliegenden Konstellation der Anfechtung einer Baugenehmigung durch einen Nachbarn verspricht die Klage nur dann Erfolg, wenn durch die streitgegenständliche Baugenehmigung öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt werden, welche gerade auch dem Schutz des Klägers dienen und Gegenstand des hier einschlägigen vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens gemäß Art. 59 Satz 1 BayBO sind (vgl. VG München, Urteil vom 14. Oktober 2009 – M 9 K 09.1738 – juris Rn. 20, 22).
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Eine Verletzung drittschützender Vorschriften liegt nicht vor. Die Baugenehmigung weist keine materiellen Fehler auf, die den Kläger in seinen Rechten verletzen könnten. Eine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots zulasten des Klägers ist nicht gegeben. Eine Würdigung der klägerischen Interessen als Nachbar, insbesondere im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB, ist in ausreichendem Maße erfolgt bzw. sind Nachbarrechte des Klägers nicht verletzt.
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Das Vorhaben beurteilt sich bauplanungsrechtlich nach § 30 Abs. 1 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB, da das Grundstück innerhalb des Geltungsbereichs eines qualifizierten Bebauungsplans liegt, von dessen Festsetzungen teilweise befreit worden ist.
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Hinsichtlich des Nachbarschutzes im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob von drittschützenden oder von nicht drittschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit wird. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist (VG München, B.v. 19.3.2025 – M 9 SN 25.573 – juris Rn. 23). Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (vgl. auch § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung objektiv rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH B.v. 23.5.2017 1 CS 17.693 – juris, Rn 3; BayVGH B.v. 26.2.2014 2 ZB 14.101 – juris Rn 3; jeweils m.w.N).
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Eine auf das Plangebiet bezogene nachbarschützende und damit drittschützende Wirkung von Festsetzungen eines Bebauungsplans ist regelmäßig nur bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung anzunehmen (vgl. statt aller BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 = juris Rn. 12 ff.; B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – ZfBR 2013, 783 = juris Rn. 3 m.w.N.). Denn nur durch diese Festsetzungen wird ein auf jeweils wechselseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen beruhendes Gegenseitigkeits- oder Austauschverhältnis zwischen den Eigentümern der Grundstücke im Plangebiet begründet. Festsetzungen im Bebauungsplan über das Maß der baulichen Nutzung haben grundsätzlich nicht „automatisch“ nachbarschützende Funktion. Solche Festsetzungen vermitteln ausnahmsweise Drittschutz nur dann, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen (vgl. BVerwG, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.95 – NVwZ 1996, 888 = juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris Rn. 24; B.v. 1.8.2016 – 15 CS 16.1106 – juris Rn. 17). Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im Bebauungsplan im konkreten Einzelfall zu ermitteln. Ein entsprechender Wille muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan selbst, aus seiner Begründung oder auch aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben. Maßgebend ist, ob die Festsetzung auf Basis einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (BayVGH B.v. 28.3.2017 – 15 ZB 16.1306 BeckRS 2017, 107830 Rn. 7).
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Im vorliegenden Fall wurden nur Befreiungen von nicht drittschützenden Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung der Anzahl der Wohneinheiten und von gestalterischen Festsetzungen erteilt, die nicht zum Schutz der Rechte des Klägers bestimmt sind. Das betrifft sowohl die Befreiung hinsichtlich der Baugrenzen und Baulinien als auch die Befreiung von der festgesetzten Geschossflächenanzahl, der Anzahl der festgesetzten Wohneinheiten sowie die Zulassung eines Kniestocks.
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Aus den Festsetzungen im Bebauungsplan an sich oder begleitenden sonstigen Umständen ergibt sich keine Absicht der Stadt …, den jeweiligen Festsetzungen ausnahmsweise drittschützende Wirkung zukommen lassen zu wollen. Über die konkreten Festsetzungen hinaus ist im Bebauungsplan „F* … – Mitte“ nichts geregelt. Auch die Begründung des Bebauungsplans lässt keine anderen Schlüsse zu. Maßgeblicher Zweck des gegenständlichen Bebauungsplans ist ausweislich der Begründung vielmehr, den Wohnbauwünschen für damals 700 Einwohner Rechnung zu tragen. Es wird hier nicht von drittschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans abgewichen.
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Mit Blick auf die Begründung des Bebauungsplans verfängt auch nicht die Behauptung des Klägers, dass die Befreiung von der festgesetzten Anzahl an Wohneinheiten zu einer Nachverdichtung von Wohnraum führt, die dem planerischen Grundkonzept und dem Gebietscharakter widerspricht jedenfalls nicht in einem Ausmaß, das subjektive Rechte des Klägers verletzen würde. Zwar ist in der Rechtsprechung teilweise anerkannt, dass im Hinblick auf eine überschießende Anzahl an Wohneinheiten „Quantität in Qualität“ umschlagen kann. Dennoch weist das streitige Bauvorhaben im vorliegenden Einzelfall mit lediglich vier Wohneinheiten keine Dimension auf, die gegenüber den bestehenden Einzel- und Doppelhäusern als eine qualitativ andersartige Nutzungsart einzustufen wäre (vgl. BayVGH München, B. v. 8.1.2019 – 9 CS 17.2482; – in diesem Beschluss wurde u. a. festgestellt, dass auch ein Wohngebäude mit fünf Wohneinheiten keine gegenüber Ein- oder Zweifamilienhäusern andere Nutzungsart aufweist.). Der Gebietscharakter wird durch die Genehmigung von vier Wohneinheiten damit vorliegend nicht gefährdet. Dass es hierdurch zudem zu einem unzumutbaren, über den Grenzwerten liegenden erhöhten Verkehrsaufkommen kommt, wurde nicht weiter stichhaltig vorgetragen geschweige denn mit Nachweisen belegt und ist auch sonst nicht ersichtlich.
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Es bleibt daher dabei, dass die Befreiung von der festgesetzten Zahl an Wohneinheiten keinen Drittschutz vermittelt.
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Gleiches gilt für die Befreiung betreffend den Kniestock und die Geschossflächenzahl sowie die Abweichung von den Baugrenzen. Soweit der Kläger behauptet, durch die Befreiungen von den Baugrenzen entstünde ein derart massiver Baukörper, der für das Baugebiet völlig untypisch sei, so kann dem mit Blick auf das konkrete Vorhaben, den Augenschein im Ortstermin sowie den Planvorlagen nicht gefolgt werden.
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Anerkannt ist, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots insbesondere dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens aufgrund seiner Höhe bzw. seines Volumens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ würde (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 38; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 28; B.v. 10.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 27). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „erdrückenden“ bzw. „abriegelnden“ Wirkung sind die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris Rn. 9; B.v. 10.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 27). Damit ist eine „erdrückende“ oder „abriegelnde“ Wirkung nur anzunehmen, wenn eine bauliche Anlage wegen ihrer Ausmaße, ihrer Baumasse oder ihrer massiven Gestaltung ein benachbartes Grundstück unangemessen benachteiligt, in dem es diesem förmlich „die Luft nimmt“, wenn für den Nachbarn das Gefühl des „Eingemauertseins“ entsteht oder wenn die Größe des „erdrückenden“ Gebäudes aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls derart übermächtig ist, dass das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden Gebäude“ dominierte Fläche ohne eigene Charakteristik wahrgenommen wird (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 2.10.2018 – 2 ZB 16.2168 – juris Rn. 4). Eine erdrückende Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Bauvolumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu (sehr viel niedrigeren) benachbarten Wohngebäuden in Betracht (VG München Beschluss vom 12.12.2023 – M 9 SN 23.4031, BeckRS 2023, 42017 Rn. 21); beides liegt hier nicht vor.
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Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien ist hinsichtlich der geplanten Bebauung bereits aufgrund der Situierung des Vorhabens und des klägerischen Gebäudes und der Grundstücke zueinander eine einmauernde oder erdrückende Wirkung nicht zu befürchten.
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Vorliegend sind insbesondere auch die landesrechtlichen Vorschriften über die Abstandsflächen auf der an das klägerische Grundstück angrenzenden Seite des nördlichen Mehrfamilienhauses eingehalten. Sofern – wie hier – die Abstandsflächen eingehalten sind, kommt regelmäßig ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot in Form einer erdrückenden Wirkung aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht (vgl. BVerwG B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 18.2.2020 – 15 CS 20.57; BayVGH, B.v. 2.3.2018 – 9 CS 17.2597 – juris Rn. 21). Auf dieser Grundlage der eingehaltenen landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse vor Ort ist vorliegend keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots erkennbar.
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Selbige Indizwirkung gilt neben der erdrückenden Wirkung auch für die behauptete Verschattung (vgl. m.w.N. BayVGH Beschluss vom 24.11.2023 – 15 CS 23.1816, BeckRS 2023, 34270 Rn. 26). Im Fall eingehaltener Abstandsflächen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Landesgesetzgeber die diesbezüglichen nachbarlichen Belange und damit das diesbezügliche Konfliktpotenzial in einen vernünftigen und verträglichen Ausgleich gebracht hat.
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Zudem ergibt sich eine Indizwirkung durch die eingehaltenen Abstandsflächen auch hinsichtlich der behaupteten Möglichkeit von Einblicken vom Vorhaben in den Außenwohnbereich des Klägers. Es gilt zudem, dass weder das Bauplanungsrecht im Allgemeinen noch das Gebot der Rücksichtnahme im Speziellen einen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken vermitteln. Trifft eine Wohnnutzung auf eine vorhandene Wohnnutzung, dann kommt unter dem Gesichtspunkt der Nutzungsart ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen in Betracht. Dies auch vor dem Hintergrund, dass gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten im dicht bebauten Bereich ohnehin unvermeidlich sind und die Zumutbarkeitsschwelle hoch ist (VG München, B.v. 12.12.2023 – M 9 SN 23.4031, BeckRS 2023, 42017 Rn. 25).
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Es ist insbesondere nichts dahingehend vorgetragen oder ersichtlich, dass ein von dem genannten Indiz abweichender Sonderfall vorläge. Bei allen erteilten Befreiungen handelt es sich um nicht drittschützende Befreiungen von der Anzahl der Wohneinheiten, vom Maß der baulichen Nutzung bzw. beim Kniestock um gestalterische Aspekte.
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Auch eine Gesamtschau der Befreiungen von den – allesamt nicht drittschützenden – Festsetzungen des Bebauungsplans berührt das Plankonzept im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB jedenfalls nicht in einer Weise, die dem Kläger Drittschutz vermittelt, insbesondere nicht hinsichtlich des Gebietscharakters. Durch die erteilten Befreiungen und unter Berücksichtigung jeder einzelnen wird letztlich ermöglicht, ein Vorhaben mit vier Wohneinheiten zu realisieren. Daher kann auch in Anbetracht der Vielzahl von Befreiungen, die sich wiederum alle jedenfalls weitgehend in einem „kleineren“ Rahmen bewegen, nicht davon ausgegangen werden, dass die Grundzüge der Planung in einer Weise berührt wird, die dem Kläger Drittschutz vermitteln könnte. Das zugrundeliegende Konzept, die Schaffung von Wohnraum und die Festsetzungen eines reinen Wohngebiets, bleibt unberührt, so dass der Gebietscharakter auch nicht in Frage steht.
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Im Zuge der Genehmigung des Vorhabens wurden auch die Interessen der betroffenen Nachbarn im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB angemessen gewürdigt. Eine Würdigung der Interessen durch die Beklagte ist ausweislich der Begründung der Baugenehmigung erfolgt. Entscheidend ist, ob die durch die Befreiung eintretenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was einem Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – juris Rn. 18 a.E.) Wie festgestellt, bewegen sich alle erteilten und gerügten Befreiungen im zumutbaren Bereich.
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Damit ist der Kläger durch die angegriffene Baugenehmigung nicht in drittschützenden Rechten verletzt.
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B. Die Klage wird daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abgewiesen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst, weil er keinen Antrag gestellt und sich damit nicht dem Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 Hs. 1 VwGO ausgesetzt hat (§ 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO sowie § 167, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.