Titel:
Freizügigkeitsrecht, Verlustfeststellung, Rumänischer Staatsangehöriger, Verurteilung zu Einheitsjugendstrafe von drei Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung, Daueraufenthaltsrecht gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, Konkrete Wiederholungsgefahr (bejaht), Keine abgeschlossene Therapie
Normenketten:
FreizügG/EU § 6
FreizügG/EU § 7
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Schlagworte:
Freizügigkeitsrecht, Verlustfeststellung, Rumänischer Staatsangehöriger, Verurteilung zu Einheitsjugendstrafe von drei Jahren wegen gefährlicher Körperverletzung, Daueraufenthaltsrecht gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, Konkrete Wiederholungsgefahr (bejaht), Keine abgeschlossene Therapie
Fundstelle:
BeckRS 2025, 20514
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein rumänischer Staatsangehöriger, begehrt Rechtsschutz hinsichtlich der Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
2
Der Kläger wurde im Jahr 2003 in Rumänien geboren und reiste am … … … erstmals in das Bundesgebiet ein. Er schloss die Mittelschule mit der mittleren Reife ab und absolvierte vom 1. März 2023 bis zu seinem Haftantritt eine Ausbildung zum Kaufmann für Hotelmanagement.
3
Mit Urteil des Landgerichts Traunstein vom 28. März 2023 (2 H KLs 430 Js 40946/21 jug), rechtskräftig seit dem 6. September 2023, wurde der Kläger zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren wegen Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger am 28. Juli 2021 gemeinsam mit einem Mittäter eine Geschädigte auf einem Kinderspielplatz in sexuell erniedrigender Weise beleidigte und schließlich mit einer Bierflasche, einem Holzstock und der Faust auf einen hinzukommenden Passanten einschlug. Zudem packte der Kläger am 20. November 2021 eine weitere Geschädigte, drückte diese zu Boden und umfasste deren Hals mit einem festen Würgegriff, um mit ihr den Geschlechtsverkehr auszuüben, nachdem die Geschädigte den Kläger um eine Zigarette gebeten, diesem zum Spaß im Austausch Oralverkehr angeboten und den Kläger im Schritt angefasst hatte. Im Anschluss hieran schlug der Kläger einer hinzutretenden Passantin mit der Faust auf deren Auge, wodurch diese schwere Verletzungen erlitt. Der Kläger hatte bei Tatbegehung eine Blutalkoholkonzentration von maximal 2,99%. Das Strafgericht ist von keiner eingeschränkten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit ausgegangen und stellte sowohl schädliche Neigungen als auch die Schwere der Schuld fest. Der Kläger befindet sich in dieser Sache seit dem 6. November 2023 im Jugendstrafvollzug.
4
Zuvor war gegen den Kläger mit Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 29. Januar 2020 (4a Ds 450 Js 41832/19 jug), rechtskräftig seit demselben Tag, bereits ein Freizeitarrest wegen vorsätzlicher Körperverletzung verhängt worden und dem Kläger die Zahlung eines Geldbetrags an den Geschädigten sowie die Teilnahme an einem Anti-Aggressions-Training auferlegt worden. Weitere Strafverfahren waren nach § 45 Abs. 2 JGG, § 170 Abs. 2 StPO und § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden.
5
Der Kläger wurde mit Schreiben des Landratsamtes R. (R.) vom 28. November 2023 zu einer beabsichtigten Verlustfeststellung und Abschiebung angehört. Dazu nahm der Kläger mit Schreiben vom … … … dahingehend Stellung, dass er sich in der Justizvollzugsanstalt bereits für eine Suchtberatung und eine Aggressionstherapie angemeldet habe, da er sich ändern wolle. Neben seinen Eltern, seiner Verlobten und seinem Bruder würde unter anderem ein Onkel im Bundesgebiet wohnen, der aufgrund eines Herzinfarkts auf Unterstützung angewiesen sei. Der Kläger sei bei Begehung der Straftat erst 17 Jahre alt gewesen und habe ein großes Alkoholproblem gehabt. Mit Schreiben vom … … … nahm die Verlobte des Klägers dahingehend Stellung, dass dieser einen Fehler begangen habe und darum bitte, davon abzusehen, die Familie auseinanderzureißen. In der Behördenakte ist zudem ein undatiertes Schreiben der Mutter des Klägers enthalten, in dem diese ebenfalls darum bittet, den Kläger nicht zweimal für seine Tat zu bestrafen (BA Bl. 197). Mit Schreiben vom 2. Januar 2024 zeigte die Bevollmächtigte des Klägers dessen Vertretung an und nahm ebenfalls Stellung. Mit Schreiben vom … … … übermittelte sie ferner ein Schreiben des Ausbildungsbetriebs des Klägers vom 29. Dezember 2023, in dem die stellvertretende Direktorin zusichert, den Kläger nach Haftentlassung erneut als Auszubildenden einzustellen.
6
Mit Bescheid des Landratsamtes vom 17. Januar 2024, zugestellt am 26. Januar 2024, wurde der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt (Ziff. 1). Es wurde eine Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und auf die Dauer von drei Jahren ab dem Tag der Ausreise befristet (Ziff. 2). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von einem Monat nach Unanfechtbarkeit dieser Entscheidung zu verlassen (Ziff. 3). Andernfalls wurde ihm die Abschiebung unter anderem nach Rumänien angedroht (Ziff. 4). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Verlustfeststellung sei getroffen worden, da vom Kläger eine tatsächliche und hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausgehe, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dies ergebe sich aus der Art und Schwere der begangenen Straftat. Die negative Prognose zur Wiederholungsgefahr ergebe sich daraus, dass der Kläger bereits im Alter von 15 Jahren im Jahr 2019 sein erstes schweres Körperverletzungsdelikt begangen habe. Im Juli und November 2021 habe er in der Intensität schwerwiegendere Straftaten begangen. Allein die Straffreiheit nach der letzten Tatbegehung und die erstmalige Haftverbüßung seien kein Indiz dafür, dass der Kläger nicht erneut straffällig werde. Die Entwicklung des Klägers sei noch völlig offen, es könne derzeit von keinem Einstellungswandel ausgegangen werden. Dies ergebe sich aus der fehlenden Schuldeinsicht und Reue und den vom Strafgericht festgestellten schädlichen Neigungen, angelegten Persönlichkeitsmängeln sowie der inneren Einstellung zur Gewaltanwendung. Bei den Taten im Jahr 2021 habe es sich nach den Feststellungen des Strafgerichts jeweils um spontan ausgeführte Taten ohne jegliche Provokation oder Anlass gehandelt, die der Kläger mit enormer Aggressivität und Gewalt sowie erheblichem Kraftaufwand ausgeübt habe. Der Kläger sei zwar in Deutschland gut integriert und könne einen überdurchschnittlichen schulischen und beruflichen Werdegang nachweisen, dies habe ihm jedoch nicht genügend Struktur vermitteln können, um ein Leben fern von Straftaten führen zu können. Der Kläger habe bis zu seinem 15. Lebensjahr in Rumänien gelebt, sodass davon auszugehen sei, dass er der rumänischen Sprache mächtig ist. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde aufgrund der ungünstigen Sozialprognose und der Bindungen im Bundesgebiet auf drei Jahre befristet.
7
Dagegen hat der Kläger am 22. Februar 2024 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und beantragen lassen,
8
den Bescheid vom 17. Januar 2024 aufzuheben.
9
Zur Begründung wird mit Schriftsatz vom … … … im Wesentlichen vorgetragen, eine Wiederholungsgefahr und die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts lägen nicht vor. Das Ermessen sei einseitig, ausschließlich zu Lasten des Klägers ausgeübt worden. Weder das jugendliche Alter bei Tatbegehung noch die erstmalige Haftverbüßung seien ausreichend berücksichtigt worden. Die rumänischen Sprachkenntnisse des Klägers seien auf dem Stand eines Elfjährigen, da er seit diesem Alter im Bundesgebiet lebe. Der Kläger nehme in der Haft an einer Einstiegsqualifizierung zum Koch teil. Der Kläger sei zudem verlobt. Sämtliche Angehörige bis auf seine Großmutter würden im Bundesgebiet leben. Die Straftaten seien auf die Unreife des Klägers zurückzuführen. In seiner erstmaligen Haft führe er sich vorbildlich und beanstandungsfrei. Vorgelegt wurde unter anderem eine Bescheinigung der … … … … … … über die Teilnahme an einer Einstiegsqualifizierung zum Ausbildungsberuf des Kochs.
10
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11. Juli 2024 die Behördenakten vorgelegt und beantragt,
12
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, auch die weitere Entwicklung bestätige, dass vom Kläger weiterhin eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgehe. Der Kläger habe sich nach der abgeurteilten Tat vom 20. November 2021 nicht straffrei verhalten. Am 6. Februar 2024 sei der Kläger aufgrund Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie Beleidigung auf sexueller Grundlage von der Polizeiinspektion R. angezeigt worden. Es sei nicht von Belang, dass es aufgrund der Tat zu keiner weiteren strafrechtlichen Verurteilung gekommen sei. Der Kläger habe bei der angezeigten Tat im November 2023 einen Blutalkoholwert von 2,55 Promille gehabt. Auch bei der begangenen Tat im November 2021 habe er ähnlich hohe Blutalkoholwerte gehabt. Der Beklagte verkenne nicht, dass der Kläger bereits seit 2015 im Bundesgebiet lebe.
13
Mit Schriftsatz vom 21. Mai 2025 übermittelte die Klägerbevollmächtigte eine Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Traunstein vom … … …, aus der sich ergibt, dass wegen eines Vorfalls am 5. November 2023 ein Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Vorwurfs der Körperverletzung nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde und hinsichtlich des Tatvorwurfs des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen wurde. Zudem wurde eine Stellungnahme einer externen Suchtberatung vom … … … vorgelegt, aus der sich ergibt, dass der Kläger eigenständig Kontakt zur Suchtberatung aufgenommen habe und bislang 13 Gespräche stattgefunden hätten.
14
Mit Schriftsatz vom 30. Mai 2025 übermittelte die Bevollmächtigte des Klägers Stellungnahmen der … … … … … … … … …, aus denen sich ergibt, dass der Kläger disziplinarisch bislang nicht belangt worden sei, sich im zweiten Ausbildungsjahr befinde und mit ersten Vollzugslockerungen begonnen werden könne, sowie ein Gutachten eines psychologischen Psychotherapeuten und forensischen Sachverständigen vom … … … Der Gutachter S. führt hierin aus, dass eine Persönlichkeitsstörung trotz relevanter dissozialer Anteile nicht vorliege. In der Gesamtschau könne rückblickend von einer moderaten Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen sowie aktuell von einer beginnenden Alkoholabhängigkeit mit derzeitiger Abstinenz in beschützender Umgebung ausgegangen werden. Laut Prognoseverfahren und klinisch-forensischer Einschätzung liege ein im Vergleich mit anderen Gewalttätern überdurchschnittliches Rückfallrisiko für Gewaltdelikte und weitere Straftaten vor. Insbesondere die Alkoholabstinenz müsse langfristig gesichert werden. Es sei durch die Behandlungsmaßnahmen jedoch eine Verbesserung der ursprünglich stark negativen Basisprognose erzielt worden und die Entwicklung in Haft sei positiv zu beurteilen.
15
Am 2. Juni 2025 übermittelte das Landratsamt einen Führungsbericht der … … vom … … …, aus dem sich ergänzend ergibt, dass der Kläger seit dem 23. Oktober 2024 regelmäßig Einzelgespräche bei einem externen Diplom-Psychologen führe, an einem Anti-Gewalt-Training sowie am 29. Mai 2025 an einem ersten Ausgang teilgenommen habe und regelmäßig Kontakt zu seinen Eltern und seiner Verlobten habe. Die Justizvollzugsanstalt habe sich gegenüber dem zuständigen Vollstreckungsrichter für eine Entlassung nach Ablegen des zweiten Teils der Zwischenprüfung im Juni 2025 ausgesprochen.
16
Das Gericht hat am 5. Juni 2025 mündlich zur Sache verhandelt. Die Bevollmächtigte des Klägers hat darauf hingewiesen, dass der Kläger nach Haftentlassung eine Arbeitsstelle als Koch in Aussicht habe. Zudem habe er am … … … eine deutsche Staatangehörige geheiratet. Der Vertreter des Beklagten hat erklärt, auch im Hinblick auf die Ehe des Klägers an den Ermessenserwägungen aus dem Schriftsatz vom 11. Juli 2024 festzuhalten. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit dem Übergang in das schriftliche Verfahren erklärt.
17
Mit Schriftsatz vom 10. Juli 2025 legte die Klägerbevollmächtigte eine Stellungnahme des Psychologen K. vom … … … vor, in dem dieser sich den Diagnosen des Gutachters S. in dessen Bericht vom … … … anschließt. Der Kläger zeige sich seit Beginn des Behandlungszeitraums therapiemotiviert und mit glaubhaftem Leidensdruck. Er habe Hilfestellungen für ein Leben in Abstinenz wie beispielsweise einen Notfallplan zur Rückfallprophylaxe hoch motiviert entgegengenommen. Der Kläger verfüge über ein relativ stabiles Familienumfeld und Partnerschaft. Er sei von zukünftiger Gewalttätigkeit klar distanziert und wünsche sich nach Entlassung eine Möglichkeit, die Therapie fortsetzen zu können. Die Problembereiche ließen sich zu den vier Faktoren Arbeit, selbstunsichere Persönlichkeit, Alkoholsucht und Gewalt zusammenfassen. Der Kläger nehme seine Alkoholsucht ernst und habe diese nach besten Möglichkeiten bearbeitet. Die Bevollmächtigte beantragte für den Fall, dass das Gericht dennoch von einer vorliegenden Wiederholungsgefahr ausgehen sollte, ein psychiatrisches und psychologisches Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, dass vom Kläger keine gegenwärtige Gefahr ausgehe.
18
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegte Behördenakte und die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am 5. Juni 2025 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
19
Über die Klage konnte ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten hierauf verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
20
1. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
21
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr, vgl. etwa BVerwG, U.v. 16.12.2021 – 1 C 60.20 – juris Rn. 15). Die Beurteilung, ob der Unionsbürger einen gemäß § 6 Abs. 4 oder Abs. 5 FreizügG/EU erhöhten Ausweisungsschutz genießt, richtet sich hingegen nach dem Zeitpunkt des Erlasses der Verlustfeststellung (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020, – 11 S 995/19 – juris Rn. 76 m.w.N.).
22
1.1 Die Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist rechtmäßig.
23
1.1.1 Als rumänischer Staatsangehöriger und damit freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger hat der Kläger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Die Feststellung des Verlusts dieses Rechts erfolgte vorliegend nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.
24
Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu begründen. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen berücksichtigt werden, und diese nur insoweit, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Erforderlich ist nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist – anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht – nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 24).
25
Sofern der Betroffene ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU erworben hat, darf eine Verlustfeststellung nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Da der Kläger zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung bereits über acht Jahre im Bundesgebiet gelebt hat und somit gemäß § 4a FreizügG/EU ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat, findet § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vorliegend Anwendung. Nach 6.4.1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU liegen „schwerwiegende Gründe“ vor insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Durch das Tatbestandsmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 32 m.w.N.).
26
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei Verlustfeststellungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, B.v. 22.11.2024 – 19 ZB 22.1546 – juris Rn. 12 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 10.10.2022 – 19 ZB 22.1660 – juris Rn. 9.).
27
Ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung hat nur begrenzte Aussagekraft für das Verhalten nach der Haftentlassung, weil der Betroffene unter der Kontrolle der Therapieeinrichtung und unter dem Druck des Verlustfestellungsverfahrens stand und steht. Es lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (stRspr, vgl. etwa BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10.) Ferner kann bei einem Erstverbüßer von Freiheitsstrafe nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass bereits der Vollzug der Strafe den beabsichtigten Erfolg, nämlich den Ausschluss der Wiederholungsgefahr habe. Zwar kann die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr einer neuen Straffälligkeit mindern (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 39). Der Kläger steht unter einem starken Legalbewährungsdruck, unter dem das gegenwärtige Wohlverhalten zu würdigen ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn. 31).
28
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2021 – 10 ZB 21.935 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 11.9.2024 – 10 ZB 24.216 – juris Rn. 5).
29
Hieran gemessen hat der Beklagte zu Recht dargelegt, dass sich aus dem bisherigen Verhalten des Klägers und aus den gegen ihn ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung und eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die Grundinteressen der Gesellschaft berührt, sowie schwerwiegende Gründe für eine Verlustfeststellung ergeben. Der Kläger hat mehrere Straftaten im Bereich der Körperverletzungsdelikte begangen. Er wurde deswegen zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren verurteilt. Der Straftatbestand der schweren Körperverletzung stellt ein schweres Vergehen dar und wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft. Die Art und Weise der Tatbegehungen war jeweils von enormer Aggressivität und einer niedrigen Gewaltanwendungsschwelle geprägt. Angesichts der brutalen Vorgehensweise, der Tatsache, dass die Taten aus nichtigem Anlass und in alkoholisiertem Zustand begangen worden sind und teilweise schwerwiegende Folgen für die Geschädigten hatten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die erstmalige Hafterfahrung den Kläger künftig von der Begehung weiterer Straftaten im Bereich der Gewaltdelikte abschrecken wird.
30
Die Kammer verkennt das jugendliche Alter bei Tatbegehung, die positive Entwicklung des Klägers in der Jugendstrafhaft, den eingetretenen Reifeprozess sowie die wirtschaftlichen und familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet nicht. Es besteht jedoch zumindest aufgrund der bislang nicht abschließend therapierten Alkoholproblematik die Gefahr, dass der Kläger durch gleiche oder ähnliche Straftaten die öffentliche Sicherheit erneut erheblich beeinträchtigen wird.
31
Das Strafgericht hat in seinem Urteil vom 28. März 2023 festgestellt, dass der Kläger jedenfalls die Tat am 20. November 2021 in erheblich alkoholisiertem Zustand begangen hatte. Hinsichtlich des Ermittlungsverfahrens wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte wegen eines weiteren Vorfalls am 5. November 2023 erfolgte eine Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO, sodass auch diese Tat im Rahmen der Gefahrenprognose berücksichtigt werden kann. Der Kläger gab zudem in seiner Stellungnahme gegenüber dem Landratsamt vom 4. Dezember 2023 selbst an, bei Tatbegehung ein großes Alkoholproblem gehabt zu haben. Der Gutachter S. führt in seinem Bericht vom … … … aus, dass der Kläger zu Beginn der Inhaftierung von körperlichen Entzugssymptomen berichtet habe. Er habe Alkohol seit dem 15. Lebensjahr regelmäßig und seit dem 18. Lebensjahr annähernd täglich konsumiert. Der Gutachter S. diagnostizierte eine beginnende Alkoholabhängigkeit mit derzeitiger Abstinenz in beschützender Umgebung. Ein klarer Zusammenhang der aktuellen Straftaten und des Alkoholkonsums sei erkennbar. Er empfahl die Therapiemaßnahmen sowie die absolute Alkoholabstinenz nach Entlassung fortzuführen. Der Psychologe K. schloss sich in seiner Stellungnahme vom … … … den Diagnosen des Gutachters S. an. Zwar berichtet er, dass sich der Kläger seit Beginn des Behandlungszeitraums therapiemotiviert und mit glaubhaftem Leidensdruck zeige, Hilfestellungen für ein Leben in Abstinenz hoch motiviert entgegengenommen habe, über ein relativ stabiles Familienumfeld und Partnerschaft verfüge, von zukünftiger Gewalttätigkeit klar distanziert sei und sich nach Entlassung eine Möglichkeit wünsche, die Therapie fortsetzen zu können. Auch der Psychologe K. benannte jedoch als einen von vier Problembereichen weiterhin den Faktor „Alkoholsucht“. Zwar berichtet er, der Kläger nehme seine Alkoholsucht ernst und habe diese nach besten Möglichkeiten bearbeitet. Hieraus ergibt sich jedoch weder, dass der Kläger in der Haft bislang eine entsprechende Therapie hinsichtlich seiner Alkoholsucht abgeschlossen noch dass er sich bereits in Freiheit bewährt hätte.
32
1.1.2 Dem Kläger kommt darüber hinaus nicht der erhöhte Schutz aus § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU zu, wonach eine Verlustfeststellung bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden darf.
33
1.1.3 Auch die vom Beklagten vorgenommene Abwägungsentscheidung ist nicht zu beanstanden. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Das Gericht kann die Ermessensentscheidung des Beklagten gem. § 114 Satz 1 VwGO und Art. 40 BayVwVfG lediglich eingeschränkt auf Ermessensfehler überprüfen. Solche sind vorliegend nicht ersichtlich.
34
Die Verlustfeststellung verstößt nicht gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK. Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK gewähren einen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Nur wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Hilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen sich als unverhältnismäßig erweisen (BayVGH, B.v. 25.4.2014 – 10 CE 14.650 – juris Rn. 6). Eine derartige Konstellation ist hier jedoch nicht gegeben. Zwar leben die Eltern, der Bruder, der Onkel und die Ehefrau des Klägers in Deutschland. Der Kläger ist jedoch volljährig. Dass er oder ein Familienmitglied aktuell auf wechselseitige Betreuungsleistungen angewiesen wären, wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht erkennbar. Die Ehe wurde während der Haft des Klägers und nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids geschlossen. Vor diesem Hintergrund kommt den familiären Belangen des Klägers kein das öffentliche Interesse an der Verlustfeststellung überwiegendes Gewicht zu.
35
Auch unter Berücksichtigung der übrigen Umstände im Sinne des § 6 Abs. 3 FreizügG/EU, insbesondere der Minderjährigkeit des Klägers zum Zeitpunkt der Tatbegehung und der positiven Entwicklung in Haft, ist die Verlustfeststellung verhältnismäßig. Insbesondere rechtfertigt der klägerische Vortrag, er habe keine Bindungen in Rumänien, kein anderes Ergebnis. Dem Kläger ist es zumutbar, seine Sprachkenntnisse zu verbessern und sich als junger Mensch in seinem Herkunftsland zurecht zu finden.
36
1.2 Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziff. 2 des streitgegenständlichen Bescheids auf drei Jahre ist ebenfalls rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gem. § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU von Amts wegen zu befristen. Die Frist ist nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles auf Grund der auf Tatsachen gestützten Annahme der künftig von einem Aufenthalt der Person innerhalb der Europäischen Union ausgehenden Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten.
37
Hieran gemessen hält sich die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte dreijährige Frist im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben. Der Beklagte hat das Gewicht des Grunds der Verlustfeststellung und den mit der Verlustfeststellung verfolgten Zweck sowie die persönlichen Interessen des Klägers zutreffend berücksichtigt. Die Festsetzung einer dreijährigen Frist ist im vorliegenden Einzelfall insbesondere auch unter Berücksichtigung der während des gerichtlichen Verfahrens geschlossenen Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen angemessen.
38
1.3 Die Androhung der Abschiebung des Klägers in Ziff. 4 des Bescheids findet ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Der Abschiebung stehen insbesondere keine familiären Belange entgegen.
39
Im Übrigen wird von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen und gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, denen das Gericht folgt.
40
2. Der von der Klägerbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 10. Juli 2025 bedingt gestellte Beweisantrag wird abgelehnt. Bei der gerichtlichen Überprüfung der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers, bei der hinsichtlich der gebotenen Gefahrenprognose nicht allein auf das Strafurteil und die diesem zugrunde liegende Straftat, sondern auf die Gesamtpersönlichkeit des Ausländers abzustellen ist und auch nachträgliche Entwicklungen einzubeziehen sind, bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 6.9.2024 – 10 ZB 24.889 – juris Rn. 22 m.w.N.). Hieran gemessen ist mit dem Beweisantrag nicht schlüssig dargetan, dass von einem derartigen Sonderfall auszugehen wäre, der die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich gemacht hätte. Aus der Stellungnahme des Psychologen K. vom … … … sowie den Ausführungen des Gutachters S. vom … … … ergibt sich gerade keine psychische Erkrankung des Klägers. Die Therapiebedürftigkeit ergibt sich aus dessen bislang nicht abschließend behandelten Alkoholabhängigkeit. Die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen hinsichtlich der Gefahrenprognose kann das Gericht in eigener Sachkunde ohne Zuziehung eines Sachverständigen treffen.
41
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.