Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 25.03.2025 – AN 9 K 24.335
Titel:

Nachbarklage gegen einen Vorbescheid, Drittschutz, Abstandsflächenrecht, Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen, Blockrandbebauung, Würdigung nachbarlicher Interessen, Atypik

Normenketten:
BayBO Art. 71
BayBO Art. 68 Abs. 1
BayBO Art. 63
BayBO Art. 6
Schlagworte:
Nachbarklage gegen einen Vorbescheid, Drittschutz, Abstandsflächenrecht, Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen, Blockrandbebauung, Würdigung nachbarlicher Interessen, Atypik
Fundstelle:
BeckRS 2025, 20291

Tenor

1. Der Vorbescheid der Beklagten vom 8. Januar 2024 (…) wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Die Klägerin wendet sich gegen einen Vorbescheid für die „Aufstockung von Bürogebäude, Lückenschluss zwischen den Gebäuden … und …, Erstellen eines Plateaus im Innenhof mit Neubau eines Anbaus“ auf Antrag der Beigeladenen.
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Bei der Klägerin handelt es sich um die Eigentümergemeinschaft des Anwesens …, FlNr. … der Gemarkung … Weder für das Grundstück der Klägerin noch für das Vorhabengrundstück liegen planungsrechtliche Festsetzungen eines Bebauungsplanes vor. Das Grundstück der Klägerin ist mit einem Wohngebäude bebaut.
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Unter Einreichung entsprechender Formblätter und Planvorlagen, bei der Bauordnungsbehörde der Beklagten am 14. April 2022 eingegangen, beantragte die Beigeladene für das oben genannte Bauvorhaben die Erteilung eines Vorbescheids mit folgenden Fragen:
1.1: Ist die Aufstockung des Gebäudes … von aktuell vier Obergeschossen auf insgesamt fünf Obergeschosse nach § 34 BauGB bewilligungsfähig?
1.2: Wäre die Höhe des Gebäudes von ca. 16,52 m an der … nach § 34 BauGB bewilligungsfähig?
2.1: Kann der Unterschreitung der Abstandsfläche durch den Lückenschluss zwischen den Gebäuden der … und dem … mit dem Grundstück FlNr. … (Plan 001) eine Ausnahme in Aussicht gestellt werden?
3.1: Ist die Aufstockung des Gebäudes … um zwei Geschosse nach § 34 BauGB bewilligungsfähig?
4.1: Ist die Anzahl der Geschosse der Nachverdichtung (Garagenebenen + drei Geschosse) nach § 34 BauGB grundsätzlich bewilligungsfähig?
4.2: Wäre ein neues Maß der baulichen Nutzung von ca. 2,70 (Vergleich aktuell: GFZ = ca. 2,00) auf dem Flurstück Nr. … und … grundsätzlich bewilligungsfähig?
5.1: Kann eine Genehmigung für die Fällung des Baumes (Nr. 3) gemäß Baumbestandsplanes erteilt werden?
5.2: Ist es möglich alle gemäß Stellplatzsatzung für die zusätzlich entstehende Nutzfläche nachzuweisenden 28 Stellplätze abzulösen?
5.3: Kann für das Bauvorhaben (Aufstockungen, Lückenschluss und Anbau) in Bezug auf die Erhöhung der Geschossflächenzahl 2,7 eine Baugenehmigung in Aussicht gestellt werden?
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Mit Datum vom 8. Januar 2024 erließ die Bauordnungsbehörde der Beklagten den beantragten Vorbescheid (Ziffer 1) und erteilte unter Ziffer 2 eine Abweichung gemäß § 63 Abs. 1 BayBO von Art. 6 Abs. 2 BayBO wegen Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen des Lückenschlusses mit Aufstockung nach Süd-Ost zum Nachbargrundstück mit der FlNr. …
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In den Gründen wird hinsichtlich der Abweichung folgendes ausgeführt: Die Voraussetzungen bezüglich der Zulassung der erforderlichen Abweichung von den Abstandsflächen lägen vor. Die Abweichung sei unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar und könne unter Berücksichtigung nachbarlicher Interessen nach pflichtgemäßen Ermessen erteilt werden. Die Nichteinhaltung der Abstandsflächen sei insbesondere der Ecklage innerhalb eines Blockrandgevierts und den daraus resultierenden atypischen Grundstückzuschnitten geschuldet. Bei einer Schließung eines Blockrandes sei es teilweise unvermeidlich und typisch, dass die Abstandsflächen der Eckgrundstücke/Eckbebauungen die eigenen Grundstücksgrenzen überschreiten würden. Eine unzumutbare Beeinträchtigung von Belichtung und Belüftung des Nachbargrundstückes aufgrund der nicht eingehaltenen Abstandsfläche an der nordwestlichen Grundstücksecke im innerstädtischen Blockrandbereich sei nicht erkennbar. Die Schutzziele des Art. 6 BayBO würden weiterhin eingehalten.
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Mit bei Gericht am 15. Februar 2024 eingegangenem Schriftsatz ließ die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 8. Januar 2024 erheben und zur Begründung folgendes vortragen:
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Entgegen der Beantwortung der Fragen 1.1, 1.2, 3.1 und 4.1 füge sich das Bauvorhaben tatsächlich nicht im Sinne des § 34 BauGB ein. Eine Gemengelage, wie sie die Beklagte aus Wohnbebauung und „weißem“ innerstädtischen Gewerbe annehme, liege nicht vor. Im prägenden Umfeld herrsche vielmehr Wohnbebauung vor. So fänden sich im streitgegenständlichen Umfeld nur wenige Büros, wobei im Grunde nur die streitgegenständlichen Bürogebäude der Beigeladenen sowie das vor rund 25 Jahre errichtete Büro- und Praxisgebäude mit Eingängen … und ... (sog. …) als solcher auszumachen sei, die sich aber bislang in ihrem Erscheinungsbild, insbesondere ihrer Höhe nach und hinsichtlich der Anzahl von Vollgeschossen der Umgebung angepasst hätten. Die Klage macht des Weiteren umfangreiche Ausführungen zur Frage des Einfügens bezogen auf das Maß der baulichen Nutzung.
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Aus der Darstellung „Dachaufsicht mit Abstandsflächen“ ergebe sich beim Lückenschluss eine Unterschreitung der Abstandsfläche um über 38 m² zwischen den Gebäuden … und … auf die FlNr. … der Klägerin, wobei der Lückenschlussbau auf rund zwei Meter an die nordwestliche Ecke des klägerischen Grundstücks heranrücken würde.
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Die Richtigkeit der Angabe von 38 m² werde mit Nichtwissen bestritten. Aufgrund der unzutreffenden Bezugnahme des Höhen-Nullpunkts am … statt am relevanten Gebäude … durch die Beigeladene, wonach der „Bestand First“ bei 16,52 m Höhe, tatsächlich jedoch bei 20,24 m bis 21,31 m liege, müsse seitens der Klägerin angenommen werden, dass die Abstandsflächenbelastung deutlich über den angegebenen 38 m² liege. Durch den Lückenschluss werde zu Lasten der Nachbarn die Belüftung und Belichtung des Innenhofes signifikant reduziert und sämtlichen Wohnungen des … Frischluft und Licht signifikant genommen. Aufgrund dieser Abstandsflächenproblematik sei es bei der Errichtung des Bürogebäudes … zu der Kompromisslösung gekommen, dass seinerzeit dem Rechtsvorgänger der Beigeladenen die bis heute bestehende Verbindungsbrücke gestattet worden sei (Lückenschluss).
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Die Klägerin beantragt,
Der Vorbescheid der Beklagten vom 8. Januar 2024, Az. …, veröffentlicht im Amtsblatt Nr. … der Beklagten vom 17. Januar 2024, mit dem der Beigeladenen die gestellten Fragen zum Bauvorhaben Aufstockung der zwei Bürogebäude … und …, Lückenschluss zwischen den Gebäuden, Erstellen eines Plateaus im Innenhof des Anwesens … mit Neubau eines Anbaus, positiv beschieden wurde, wird aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt
Klageabweisung
und führt zur Begründung im Hinblick auf die Abstandsflächen und die Abweichung folgendes aus: Erforderliche Abstandsflächen lägen – bis auf den Bereich des Lückenschlusses – auf dem eigenen Grundstück und überschritten nicht die Mitten der Verkehrsachsen des … und der … Von dem Vorhaben gehe auch keine erdrückende oder einmauernde Wirkung zulasten der angrenzenden Bebauungen aus, da sich die geplanten Geschossigkeiten im Rahmen der Bezugsumgebung halten und sich keine wesentlichen Höhenunterschiede ergeben würden. Das Vorhaben sei nicht erheblich höher als die Nachbargebäude. Von dem Vorhaben gingen keine unzumutbaren Verschattungswirkungen zulasten der angrenzenden Bebauung aus. Zudem werde darauf hingewiesen, dass ein Verschattungseffekt als typische Folge der Bebauung insbesondere in innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Lagen bis zu einer im Einzelfall zu bestimmenden Unzumutbarkeitsgrenze in der Regel nicht rücksichtslos und hinzunehmen sei. Aufgrund der Umstände des Einzelfalls könne die Umgebungsbebauung keine über das geplante Maß hinausgehende Rücksichtnahme vom Vorhaben einfordern. Das Gebot der Rücksichtnahme diene nicht dazu, dass eine bestehende städtebauliche Blickbeziehung zugunsten eines und zulasten eines anderen Nachbarn beibehalten werde. Etwaige Veränderungen der Sichtbeziehungen seien im dicht bebauten innerstädtischen Bereich unvermeidlich und daher grundsätzlich hinzunehmen. Eine Sondersituation sei vorliegend nicht erkennbar.
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Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 63 BayBO solle die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Dies gelte insbesondere für Vorhaben, die der Weiternutzung bestehender Gebäude dienten, was mit dem streitgegenständlichen Vorhaben beabsichtigt sei. Ausweislich der Gesetzesbegründung solle mit Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ausgedrückt werden, dass die von der Rechtsprechung bislang geforderte atypische Fallgestaltung zur Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nicht mehr erforderlich sei.
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Vorliegend könnten die Abstandsflächen wegen des für das Baugrundstück ungünstigen Grundstückzuschnitts aufgrund der Ecksituation … nicht eingehalten werden. Nachbarliche Belange würden mit der Überschreitung jedoch nicht in unzumutbarer Weise beeinträchtigt. Die Abstandsflächen fielen im Eckbereich auf die Garagenhoffläche, welche dem Stellplatznachweis der baurechtlich erforderlichen Kfz-Stellplätze für das Anwesen … diene. Sie überdeckten sich jedoch nicht mit den Abstandsflächen des Bestandsgebäudes auf der FlNr. … Durch die Lage des Neubaus im Nordwesten zum Baugrundstück und die große Entfernung des neuen Baukörpers von ca. 16 bis19 m zum Bestand seien auch die Belichtung und Belüftung des Gebäudes … gewährleistet. Die Schutzziele des Art. 6 BayBO würden weiterhin erreicht. Das Baurecht für das Flurstück … werde bezüglich der Abstandsflächen nicht eingeschränkt. Aufgrund der erteilten Abweichung werde das Grundstück nicht mit Abstandsflächen belastet. Somit könnten sich bei einer evtl. Erweiterung der Bebauung auf FlNr. … keine Abstandsflächen auf dem Grundstück überlagern.
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Die Beigeladene äußerte sich im schriftlichen Verfahren nicht und stellte auch keinen Klageantrag.
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In der Sache wurde am 25. März 2025 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen. Die unter dem vorliegenden Aktenzeichen ebenfalls geführte Klage einer Sondereigentümerin im Anwesen der Klägerin wurde nach entsprechender Rücknahmeerklärung in der mündlichen Verhandlung abgetrennt (bis dahin Klägerin zu 2) und unter dem gerichtlichen Aktenzeichen AN 9 K 25.844 eingestellt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Denn der angefochtene Vorbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten, sodass er aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Rechtsgrundlage für die Erteilung des streitgegenständlichen Vorbescheids ist Art. 71 i.V.m. Art. 68 Abs. 1 BayBO. Gemäß Art. 71 Satz 1 BayBO ist auf Antrag des Bauherrn vor Einreichung des Bauantrags zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens ein Vorbescheid zu erteilen. Der Vorbescheid darf nur versagt werden, wenn dem Bauvorhaben öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, Art. 71 Satz 4 i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO.
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Eine gegen den Vorbescheid gerichtete Anfechtungsklage kann ausgehend davon daher nur dann Erfolg haben, wenn der Vorbescheid rechtswidrig ist, weil öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt werden, die Gegenstand des beantragten Vorbescheids waren. Darüber hinaus muss für den Erfolg der Anfechtungsklage eines Dritten die Rechtswidrigkeit aus der Verletzung einer Rechtsvorschrift resultieren, die nicht nur Ausdruck eines Allgemeininteresses ist, sondern gerade auch dem Schutz eines Individualinteresses zu dienen bestimmt ist. Im Bereich des öffentlichen Baurechts muss es sich also um eine nachbarschützende Vorschrift handeln, in welche in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise eingegriffen wird.
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1. Der angefochtene Vorbescheid verletzt zum Nachteil der Klägerin drittschützendes Abstandsflächenrecht. Die übrigen von der Klage aufgeworfenen Gesichtspunkte betreffend die absolute Höhe der geplanten Aufstockung, die Anzahl der Vollgeschosse und das vorgesehene Maß des Vorhabens im Verhältnis zur Umgebungsbebauung sind nicht nachbarschützend und daher im Rahmen der vorliegenden Nachbaranfechtungsklage unbeachtlich. Soweit die Klage die (möglicherweise) geplante Büronutzung als nicht genehmigungsfähig ansieht, da diese sich nicht einfüge, wird dies ausweislich der Fragen zum Vorbescheid, welche nur den Korpus, nicht aber dessen Nutzung betreffen, nicht vom Vorbescheid geregelt und ist damit vorliegend nicht streitgegenständlich.
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2. Die unter Ziffer 2 des angefochtenen Vorbescheids erteilte „Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO von Art. 6 Abs. 2 BayBO wegen Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen des Lückenschlusses mit Aufstockung nach Süd-Ost zum Nachbargrundstück mit der FlNr. …“ erweist sich nach Auffassung der erkennenden Kammer als nachbarrechtswidrig.
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Gemäß Frage 2 des Vorbescheidsantrags ist verfahrensgegenständlich die Frage, ob hinsichtlich „der Unterschreitung der Abstandsfläche durch den Lückenschluss zwischen den Gebäuden der … und dem … mit dem Grundstück Flurnummer … (Plan 001) eine Ausnahme in Aussicht gestellt werden kann“.
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2.1 Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen freizuhalten. Die Abstandsflächen müssen nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO grundsätzlich auf dem Baugrundstück selbst liegen. Die Tiefe einer Abstandsfläche bemisst sich nach der Wandhöhe des Gebäudes. Das sich ergebende Maß ist H (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 und 5 BayBO). Die Tiefe der Abstandsfläche beträgt vorliegend 0,4 H, mindestens 3 Meter (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 Abstandsflächensatzung der Beklagten vom 11. Juli 2016).
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2.2 Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO, wonach eine Abstandsfläche nicht erforderlich ist vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf, ist – jedenfalls bezüglich der inmitten stehenden hinteren Grundstücksgrenze – nicht anwendbar. Denn vorliegend ist die städtebauliche Situation dadurch geprägt, dass die Grundstücke im rückwärtigen Bereich nicht bebaut sind, eine planungsrechtliche Norm dahingehend, dass an die rückwärtige Grenze gebaut werden darf oder muss, für die zu betrachtende Umgebungsbebauung demnach nicht besteht. Während an den vorderen und seitlichen Grundstücksgrenzen in dem durch die …, … und … begrenzten Dreieck fast durchgängig keine Abstandsflächen eingehalten werden, ist dies an den hinteren Grundstücksgrenzen in der Regel dort nicht der Fall.
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2.3 Ausweislich der eingereichten Planung hält der sog. „Lückenschluss“ die Abstandsflächen nicht ein, sondern fällt mit einer Fläche von 38m² auf das Grundstück der Klägerin. Die Abstandsflächen wurden korrekt berechnet und in den Abstandsflächenplan eingezeichnet. Ein Fall, bei dem die Beigeladene gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO berechtigt wäre, die Abstandsflächen auf das Grundstück der Klägerin erstrecken zu dürfen, liegt nicht vor. Der Umstand, dass auf dem klägerischen Grundstück im Bereich der Abstandsfläche durch den Lückenschluss ein Stellplatz nachgewiesen wurde, erfüllt den Tatbestand der rechtlichen oder tatsächlichen Sicherung, dass die Fläche nicht überbaut wird, nicht. Vielmehr handelt es sich dabei um eine stets veränderbare Planung, denn fehlt es an einer dinglichen oder vergleichbaren Sicherung, welche die Bebaubarkeit auf Dauer ausschließen würde.
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2.4 Die erteilte Abweichung gemäß Art. 63 BayBO ist somit zwar folgerichtig, erweist sich jedoch nach Auffassung der erkennenden Kammer als rechtswidrig.
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Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO in der seit 1. Januar 2025 gültigen Fassung soll die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und bei Würdigung sowohl gesetzlich definierter überragender öffentlicher wie auch öffentlich-rechtlich geschützter nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind. In der bis 31. Dezember 2024 gültigen Fassung hieß es: Die Bauaufsichtsbehörde soll Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 vereinbar sind.
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Betreffend die durchzuführende Würdigung (nicht etwa „Berücksichtigung“, vgl. (Molodovsky/ Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Art. 63 BauO BY, juris Rn. 34) der widerstreitenden nachbarlichen Belange handelt es sich der Sache nach nicht um eine hier maßgebliche Änderung. Durch die in Art. 63 Abs. 1 BayBO n.F. eingefügte Bezugnahme auf „gesetzlich definierte überragende öffentliche Interessen“ wird in erster Linie auf § 2 Satz 1 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) Bezug genommen (LT-Drs. 19/3617, S. 17). Eine Änderung der Qualität der zu würdigenden nachbarlichen Interessen geht damit nicht einher. Des Weiteren handelt es sich nach wie vor nicht mehr wie in der bis zum 31.7.2023 gültigen Fassung um eine „Kann“-Bestimmung, sondern um eine „Soll“-Vorschrift.
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Inmitten stehen vorliegend die nachbarlichen Interessen im Hinblick auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange wie Belichtung, Belüftung und Wohnfrieden. Diese zu gewährleisten und gleichzeitig sicherzustellen, dass Flächen für Nebenanlagen frei bleiben, wird vollends nur erreicht, wenn die Abstandsflächen in Gänze eingehalten werden (BeckOK BauordnungsR Bayern/Weinmann, 32. Ed. 1.2.2025, BayBO Art. 63, beck-online Rn. 40 unter Hinweis auf BayVGH, BeckRS 1994, 17348 = VGHE BY 48, 24). Eine Kompensation unter gleichzeitiger Erreichung des Schutzzwecks ist anders als bei technischen Vorgaben beispielsweise im Bereich des Brandschutzes ausgeschlossen. Durch die inmitten stehende Verkürzung der Abstandsflächen zulasten des klägerischen Grundstücks würden sich die Belichtung und die Belüftung für das klägerische Grundstück verschlechtern. Aber auch der durch die Abstandsflächen an sich geschützte Wohnfrieden wäre gefährdet, da in einer ohnehin schon eher beengten Grundstückssituation Nutzungseinheiten näher aneinanderrücken, als dies vom Gesetzgeber eigentlich vorgesehen ist.
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Vorliegend ist kein Fall des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO einschlägig, wonach für bestimmte Vorhaben „insbesondere“ eine Abweichung erteilt werden soll, nämlich, wenn es sich um Vorhaben handelt, die der Weiternutzung bestehender Gebäude dienen (Nummer 1), für Abweichungen von den Anforderungen des Art. 6, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Gebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird (Nummer 2), für Vorhaben zur Energieeinsparung und Nutzung erneuerbarer Energien (Nummer 3), und für Vorhaben zur Erprobung neuer Bau- und Wohnformen (Nummer 4).
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Auf Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO lässt sich die erteilte Abweichung nicht stützen, weil es insoweit an einer atypischen Situation fehlt, welche auch weiterhin Voraussetzung für die Erteilung einer Abweichung von drittschützenden Abstandsflächenvorschriften ist. Die Kammer schließt sich insoweit der folgenden Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes an (BayVGH, B. v. 18.3.2025 – 1 ZB 24.142 – juris Rn. 17): „Nach Auffassung des Senats erfordert die Zulassung einer Abweichung von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts auch nach der Einfügung von Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO a.F. (= Art. 6 Abs. 1 Satz 5 BayBO n.F.) und Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO noch eine sogenannte Atypik, um dem Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO entsprechen zu können (vgl. BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – NVwZ-RR 2023, 977). Mit der zwischenzeitlich erfolgten Erweiterung des Katalogs der Regelbeispiele in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO hat der Gesetzgeber lediglich weitere atypische Situationen konkret festgelegt, unter denen eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden soll (vgl. BayVGH, B.v. 15.4.2024 – 15 CS 24.337 – juris Rn. 15; zur Einfügung des ersten Regelbeispiels BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – NVwZ-RR 2023, 977). Die seit 1. August 2023 geltende Ausgestaltung von Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO als Soll-Vorschrift betrifft – auch nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. LT-Drs. 18/28882, S. 34: ‚Bei inhaltlich unveränderten tatbestandlichen Voraussetzungen‘) – allein die Rechtsfolgenseite der Norm, so dass hierdurch das (ungeschriebene) Tatbestandsmerkmal der Atypik nicht berührt wurde. Insofern sind für eine Abweichung von den Regeln des Abstandsflächenrechts nach wie vor Gründe erforderlich, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die etwa bewirkten Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (vgl. BayVGH, U.v. 30.5.2018 – 2 B 18.681 – VGHE BY 71, 38 m.w.N.; U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – BayVBl 2015, 347). Eine solche Atypik kann sich – außer aus den in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO beispielhaft genannten Sachverhalten – etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – BauR 2007, 1858).“
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Ausgehend davon lässt sich eine die Abweichung indizierende bzw. rechtfertigende Atypik vorliegend nicht feststellen. So liegt zwar aufgrund der Straßenführung der … und des … ein insofern „besonderer“ Grundstückszuschnitt vor, als die Grundstücksgrenzen nicht rektangulär zueinander liegen. Allerdings ist der Grundstückszuschnitt nicht derart speziell, dass eine Bebauung schlechterdings ausgeschlossen wäre. Vielmehr ist der gewünschte „Lückenschluss“ möglich, aber eben nur unter Einhaltung der Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin.
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Dass der Gesetzgeber einen solchen Fall wie den vorliegenden, in dem die benachbarten Grundstücke relativ spitzwinklig zueinander liegen, nicht als einen derart atypischen Fall wertet, dass eine Abweichung von den Abstandsflächen erteilt werden „soll“, wird auch anhand der Regelung in Art. 6 Abs. 3 Halbsatz 2 Nr. 1 BayBO deutlich. Demnach gilt das Verbot der Überdeckung von Abstandsflächen nicht für Außenwände, die in einem Winkel von mehr als 75 Grad zueinanderstehen. Zwar geht es vorliegend nicht um die Überdeckung der Abstandsflächen von Außenwänden. Dennoch lässt die Regelung den Schluss zu, dass ein Winkel von unter 75 Grad keine die nachbarlichen Interessen überwiegende Grundstückssituation darstellt, welche im Regelfall einer Abweichung zugänglich wäre.
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Nach alledem hält die erteilte Abweichung der gerichtlichen Prüfung nicht stand, weil sie die nachbarlichen Interessen nicht ausreichend würdigt und keine atypische Grundstückssituation vorliegt. Der angefochtene Vorbescheid ist daher aufzuheben.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO. Die Beigeladene trägt billigerweise gemäß § 162 Abs. 3 VwGO ihre außergerichtlichen Kosten selbst, da sie keinen Antrag gestellt hat und sich damit keinem Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 9.7.1, 9.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.