Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 15.07.2025 – AN 17 K 21.30933, AN 17 K 21.30935
Titel:

Subsidiärer Schutz, Verwaltungsgerichte, Abschiebungsverbot, Offensichtlichkeitsurteil, Asylantrag, Jordanische Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsurkunden, Prozeßbevollmächtigter, Rechtsschutzbedürfnis, Abschiebungsandrohung, Offensichtlich unbegründet, Asylverfahren, Befähigung zum Richteramt, Offensichtlichkeitsausspruch, Aufschiebende Wirkung, Asylbewerber, Innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Flüchtlingseigenschaft, Ärztliches Attest, Rechtsschutzinteresse

Normenketten:
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 2 (a.F.)
AsylG § 4
Leitsätze:
1. Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet durch das Bundesamt nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a.F.) wegen Täuschung über die wahre Staatsangehörigkeit ist rechtswidrig, wenn der Asylbewerber bis zum Ende der (inhaltlichen) Anhörung den Irrtum freiwillig aufklärt – auch wenn sich die Anhörung über mehrere Termine erstreckt.
2. Dem Kläger fehlt in der Hauptsache hinsichtlich der Anfechtung des Offensichtlichkeitsurteils nicht das Rechtsschutzbedürfnis, wenn das Verwaltungsgericht im Eilverfahren das Offensichtlichkeitsurteil bereits aufgehoben hat. Er ist nämlich weiterhin durch die mit dem Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a.F.) einhergehende Titelerteilungssperre belastet.  
3. Kein Anspruch auf subsidiären Schutz wegen Blutrache in Jordanien. Verweis auf internen Schutz.
Schlagworte:
Asylverfahren, Offensichtlichkeitsurteil, Identitätstäuschung, Subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Rechtsschutzbedürfnis, Verfahrenskosten
Fundstelle:
BeckRS 2025, 20284

Tenor

1. Die Bescheide der Beklagten vom 18. November 2021 werden jeweils insoweit aufgehoben, als die Ablehnung der Asylanträge der Kläger in den jeweiligen Ziffern 1 bis 3 nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a.F.) als offensichtlich unbegründet erfolgt ist.
Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
2. Die Kläger tragen 4/5, die Beklagte 1/5 der Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.  

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich mit ihrer Klage gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als offensichtlich unbegründet und begehren die Zuerkennung subsidiären Schutzes und hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.
2
Der am … 1981 in … (Jordanien) geborene Kläger zu 1), die am … 1980 in … (Irak) geborene Klägerin zu 2) und deren Kinder, die am … 2008 in … (Jordanien) geborene Klägerin zu 3) und der am … 2011 in … (Jordanien) geborene Kläger zu 4) sowie die am … 2019 in Deutschland geborene Klägerin des Verfahrens AN 17 K 21.30935 sind jordanische Staatsbürger, arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Bekenntnisses. Die Klägerin zu 2) hat daneben die irakische Staatsbürgerschaft. Die Kläger des Verfahrens AN 17 K 21.30933 reisten bereits im Jahr 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten dort am 17. Juli 2014 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). Für die Klägerin des Verfahrens AN 17 K 21.30935 wurde nach der Geburt ein Asylantrag gestellt.
3
Im damaligen Asylverfahren hatten der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) dem Bundesamt gegenüber bei einer Befragung zur Vorbereitung der Anhörung am 17. Juli 2014 angegeben, sie stammten aus Syrien und seien von dort über die Türkei nach Bulgarien gereist, wo sie bereits Asyl beantragt hätten.
4
In einem Fragenkatalog der Regierung von Mittelfranken vom 2. Juni 2014 wiederholten sie diese Aussagen.
5
Bei ihren Anhörungen vor dem Bundesamt jeweils am 3. September 2014 wiederholten sie ihre Aussagen, dass sie aus … in Syrien stammten, wo sie als Bauern gearbeitet hätten. Sie seien von bewaffneten Gruppierungen überfallen und bedroht worden.
6
Mit Bescheid vom 8. Januar 2015 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger des Verfahrens AN 17 K 21.30933 als unzulässig ab und drohte ihnen die Abschiebung nach Bulgarien an, da sie dort bereits internationalen Schutz erhalten hätten.
7
Mit Urteil vom 20. Januar 2016 (AN 11 K 15.50012) hob das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach diesen Bescheid auf. Mit Beschluss vom 7. Mai 2021 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag des Bundesamts auf Zulassung der Berufung ab, da keine Zulassungsgründe vorlägen.
8
Am 3. Mai 2016 erklärte der Kläger zu 1) gegenüber dem Ausländeramt des Landratsamts …, dass er und seine beiden Kinder, die Kläger zu 3) und 4), tatsächlich in Jordanien geboren seien, seine Frau, die Klägerin zu 2), stamme tatsächlich aus dem Irak. Über Identitätspapiere verfügten sie nicht, da ihnen diese von den Schleusern abgenommen worden seien.
9
Am 8. Juni 2021 wurden die Kläger vom Bundesamt ergänzend zu ihrer Anhörung am 3. September 2014 angehört. Die Klägerin zu 2) trug vor, sie selbst stamme aus dem Irak und habe dessen Staatsbürgerschaft, ihr Mann stamme aus Jordanien, ihre Kinder, die Kläger zu 3) und 4), seien auch in Jordanien geboren. Sie und ihr Mann hätten 2004 in Jordanien geheiratet, weshalb sie zusätzlich die jordanische Staatsbürgerschaft erworben habe. Sie habe einen jordanischen Personalausweis, einen Reisepass und eine Staatsangehörigkeitsurkunde besessen. Die Personaldokumente befänden sich zum Teil bei Verwandten im Ausland. Bei der Reise nach Europa hätten ihnen die Schleuser ihre jordanischen Reisepässe abgenommen und ihnen Kopien syrischer Personalausweise mit syrischen Namen gegeben, die sie dann im Asyl- und im Gerichtsverfahren vorgelegt hätten. Auf die Wahrheitspflicht hingewiesen gab sie an, sie schäme sich, damals gelogen zu haben und habe den Fehler schon länger aufklären wollen. Den Irak habe sie schon im Kindesalter (10 bis 11 Jahre) verlassen, Jordanien im Jahr 2013. Nach ihrem persönlichen Verfolgungsschicksal befragt, trug sie vor, ihr Mann und dessen Bruder seien bei einer Hochzeitsfeier in Jordanien gewesen, bei der auch Freudenschüsse in die Luft abgegeben worden seien. Dabei habe der Bruder ihres Mannes aus Versehen einen Schuss abgegeben, der einen anderen Hochzeitsgast tödlich getroffen habe. Ihr Mann sei daher – obwohl er den Schuss nicht abgegeben habe – der Blutrache durch die Familie des Getöteten verfallen. Aussöhnungsversuche zwischen den betroffenen Familien seien erfolglos gewesen. Die Angehörigen des Getöteten wollten den Tod ihres Mannes. Der Getötete habe … geheißen. Ihr Mann habe damals noch seine Mutter in Jordanien gehabt, die zwischenzeitlich verstorben sei, sowie etwa 20 Onkel und Tanten, denen es gut gehe. Die Asylgründe würden auch für ihre Kinder gelten.
10
Der Kläger zu 1) trug am selben Tag bei seiner ergänzenden Anhörung vor, er habe sich in Deutschland schlimme Verbrennungen am Rücken zugezogen, die er mit Bestrahlungen, Salben und hin und wieder mit Schmerzmitteln behandeln müsse. Er befinde sich deswegen auch in psychiatrischer Behandlung. Auf der Reise nach Europa hätten die Schleuser der Familie Kopien syrischer Ausweisdokumente gegeben, die sie im Asylverfahren in Bulgarien vorgelegt hätten. Tatsächlich sei er jordanischer Staatsbürger. Die Wahrheit über seine Identität habe er eigentlich schon früher aufklären wollen. In Jordanien habe er neun Schwestern und zahlreiche Onkel und Tanten, denen es gut gehe. Zu seinem persönlichen Verfolgungsschicksal befragt, berichtete er, er und sein Bruder seien in ihrem Dorf auf einer Hochzeit gewesen. Sein Bruder habe einen Freudenschuss abgefeuert, durch den eine Person zu Tode gekommen sei. Versöhnungsversuche zwischen den Familien seien in der Folgezeit gescheitert, daher habe er sich zunächst einige Monate bei den Verwandten seiner Frau aufgehalten und dann Jordanien aus Angst vor der Blutrache verlassen. Der angeschossene Mann gehöre zum Stamm … Die Personen, die ihn damals ins Krankenhaus begleitet hätten, hätten die Todesnachricht den Verwandten des Klägers zu 1) mitgeteilt, die es dann ihm gesagt hätten. Die Nachricht habe sich daraufhin verbreitet. Man nehme Rache an allen Personen der Familie, die über 14 Jahre alt seien. Wenn seine Tochter 14 Jahre werde, werde sie als Ersatz für ihn genommen. Nach den Versöhnungsversuchen befragt, gab er an, man habe dem anderen Stamm zuerst Sühnegeld angeboten, seine Mutter wäre bereit gewesen, ihr Haus zu verkaufen. Auch sein Stamm habe Geld gesammelt. Die Versöhnung sei aber gescheitert. Wenn sein Bruder nicht erreicht werden könne, werde man Rache an ihm nehmen. Die Verwandtschaft werde immer über den Vater vermittelt, die Kinder seiner Schwestern seien daher nicht gefährdet. Die ersten Versöhnungsversuche habe man einen Monat nach dem Vorfall, dann 2014 und zuletzt nach dem Tod seiner Mutter im Dezember 2019 unternommen, jeweils erfolglos, da die Sühneangebote von der Familie des Getöteten nicht angenommen worden seien. Warum dies genau gescheitert sei, wisse er jedoch nicht. In seinem Heimatland habe er keinen Schutz bei der Polizei oder den Behörden gesucht. Die Behörden würden ihn höchstens in Schutzhaft nehmen. Er könne auch nicht in einen anderen Teil Jordaniens zurückkehren, da die Familie des Getöteten ihn überall finden werde. Seine Asylgründe würden auch für seine Kinder gelten. Nach der Verbrennung befragt, gab er an, der Schleuser sei der Mann der Tochter der Schwester seiner Frau (der Mann seiner Nichte). Dieser habe ihm – so meint er – in Deutschland beim Grillen Benzin über den Rücken gegossen und ihn angezündet. Eine Anzeige habe zu nichts geführt. Der Vorfall sei als Unfall gewertet worden.
11
In der beigezogenen Bundesamtsakte befinden sich mehrere ärztliche Atteste, in denen die Verbrennungen des Klägers zu 1) bescheinigt werden.
12
Mit Bescheid vom 18. November 2021 lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger zu 1) bis 4) auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 4) und forderte die Kläger zu 1) bis 4) auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, da sie ansonsten nach Jordanien abgeschoben würden. Sie könnten auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, selbst bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags sei nicht von einer Verfolgung durch einen tauglichen Verfolger i.S.d. § 3c AsylG auszugehen, sondern von den Übergriffen privater Dritter, die nicht an asylrelevante Merkmale anknüpften und gegen die staatlicher Schutz im Herkunftsland in Anspruch zu nehmen sei. Auch sei es den Klägern zumutbar gewesen, sich in einem anderen Landesteil Jordaniens niederzulassen. Das Offensichtlichkeitsurteil wurde mit der Täuschung der Kläger über ihre Staatsbürgerschaft begründet (§ 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a.F.)). Der Bescheid wurden den Klägern nach Angaben ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten am 24. November 2021 zugestellt.
13
Mit Bescheid ebenfalls vom 18. November 2021 traf das Bundesamt im Falle der Klägerin im Verfahren AN 17 K 21.30935 inhaltlich dieselbe Entscheidung. Der Bescheid wurde der Klägerin nach Angabe ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten am 23. November 2021 zugestellt.
14
Mit Schriftsätzen jeweils vom 30. November 2021, bei Gericht jeweils am selben Tag eingegangen, erhoben die Kläger gegen diese Bescheide jeweils Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach und beantragen in dem Verfahren AN 17 K 21.30933:
1. Der Bescheid des Bundesamts vom 18. November 2021, zugestellt am 24. November 2021, Az. … wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zu gewähren, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
In dem Verfahren AN 17 K 21.30935 wird beantragt,
1. Der Bescheid des Bundesamts vom 18. November 2021, zugestellt am 23. November 2021, Az. …, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zu gewähren, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
15
Die Beklagte beantragt in beiden Verfahren:
Die Klage wird abgewiesen.
16
Die Kläger stellten gleichzeitig Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO. Mit Beschluss vom 19. April 2023 (AN 17 S 21.30932) und mit Beschluss vom 19. April 2023 (AN 17 S 21.30934) ordnete das Gericht jeweils die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die Abschiebungsandrohung aus Nr. 5 der Bescheide des Bundesamts vom 18. November 2021 an. Der Beschluss machte ausschließlich Ausführungen zu der Frage des Offensichtlichkeitsurteils aufgrund der Identitätstäuschung. Das Offensichtlichkeitsurteil könne auf diese nicht gestützt werden, da die Kläger noch rechtzeitig, nämlich bis zum Ende der Anhörung vor dem Bundesamt, ihre wahre Staatsangehörigkeit vorgetragen und den Irrtum über ihre Identität damit noch rechtzeitig aufgeklärt hätten.
17
In der mündlichen Verhandlung am 4. Juli 2025 wurden die Verfahren AN 17 K 21.30933 und AN 17 K 21.30935 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die Kläger und ihr Prozessbevollmächtigter waren nicht anwesend. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogenen Bundesamtsakten, die Gerichtsakten in beiden Verfahren und auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

18
Die Klagen, über die nach § 102 VwGO trotz Nichterscheinens der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte, sind zulässig und teilweise begründet. Sie sind insoweit begründet, als mit ihnen die Ablehnung der Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes durch das Bundesamt als offensichtlich unbegründet angegriffen werden, im Übrigen sind sie unbegründet und bleiben insoweit ohne Erfolg.
19
1. Die Klagen sind zulässig. Die Klagefrist ist eingehalten. Den Klagen fehlt – soweit mit ihnen die jeweilige Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet angegriffen wird – insbesondere nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Grundsätzlich kann das Rechtsschutzbedürfnis für eine solche Anfechtungsklage entfallen, wenn das Gericht im Eilverfahren bereits den Offensichtlichkeitsausspruch aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat, da der aus dem Offensichtlichkeitsausspruch folgende Sofortvollzug der Abschiebungsandrohung (§ 75 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG) dann entfallen ist und der Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens nicht abgeschoben werden darf. Daher kann er seine Rechtsposition durch Anfechtung des Offensichtlichkeitsausspruchs im Hauptsacheverfahren hinsichtlich des Schutzes vor einer (sofortigen) Abschiebung nicht mehr verbessern. Im vorliegenden Verfahren hat die Beklagte die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet indes ausdrücklich auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a. F.) gestützt. Ist ein Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 bis 6 AsylG (a.F.) als offensichtlich unbegründet abgelehnt, darf nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in der nach § 104 Abs. 19 AufenthG maßgeblichen bis zum 27. Februar 2024 gültigen Fassung ein Aufenthaltstitel vor der Ausreise nicht erteilt werden. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG) oder wenn der Ausländer die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3 AufenthG erfüllt (§ 10 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Das ist dann der Fall, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Dies ist bei den Klägern indes nicht gegeben (siehe unten). Die (Titel-) Sperrwirkung ist auch nicht dadurch entfallen, dass auf den erfolgreichen Eilantrag hin die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung angeordnet worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.11.2006 – 1 C 10.06 – juris Rn. 22). Um diese Sperrwirkung zu beseitigen, bedarf es einer Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs im Rahmen der Anfechtungsklage (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 21.11.2006 – 1 C 10.06 – juris Rn. 22), sodass im vorliegenden Fall für die Kläger diesbezüglich ein Rechtsschutzinteresse zu bejahen ist.
20
2. Die Klagen sind teilweise begründet.
21
a) Die Klagen sind – soweit mit ihnen die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet angegriffen wird – begründet. Insoweit sind die angefochtenen Bescheide vom 18. November 2021 rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Beurteilung zugrunde zu legen ist dabei abweichend von der Regel des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG gemäß der Übergangsvorschrift des § 87 Abs. 2 Nr. 6 AsylG die Fassung des § 30 AsylG in der bis zum 27. Februar 2024 geltenden Fassung, da die Ablehnung der Asylanträge durch die Beklagte bis zu diesem Tag erfolgt ist.
22
Die Voraussetzungen für das Offensichtlichkeitsurteil sind vorliegend nicht erfüllt. Nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 (a.F.) ist ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder diese Angaben verweigert. Eine Täuschung lag im vorliegenden Fall vor, da die Kläger zu 1) und 2) zu Beginn des Asylverfahrens wider besseren Wissens angegeben hatten, sie und ihre Kinder seien syrische Staatsangehörige, obwohl sie allesamt die jordanische Staatsangehörigkeit besaßen. Klärt der Asylbewerber den von ihm hervorgerufenen Irrtum jedoch noch rechtzeitig auf, so steht dies einer Anwendung des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a.F.) entgegen. Die Korrektur muss bis zum Ende der (inhaltlichen) Anhörung beim Bundesamt erfolgen. Sobald das Bundesamt auf anderen Wegen die Identität und Staatsangehörigkeit des Asylbewerbers herausgefunden hat, kommt seine nachträgliche Aufklärung zu spät (vgl. VG Göttingen, B.v. 3.5.2018 – 3 B 208/18 – BeckRS 2018, 8188 m.w.N.).
23
Vorliegend gaben die Kläger zwar gegenüber dem Bundesamt und damit „im Verfahren“ (vgl. Wortlaut des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (a.F.)) zunächst an, sie seien syrische Staatsbürger, sie klärten die Täuschung jedoch bei den ergänzenden Anhörungen am 8. Juni 2021 auf und belegten ihre wahre Staatsbürgerschaft durch Vorlage mehrerer jordanischer Dokumente. Die Korrektur einer Identitätstäuschung kann – wie ausgeführt – bis zum Ende der (inhaltlichen) Anhörung beim Bundesamt erfolgen. Die Anhörung vor Bescheidserlass dient der Sachverhaltsaufklärung (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Im Gesetz nicht geregelt ist, ob diese in einem oder mehreren Terminen stattfinden kann bzw. muss. Eine Erstreckung über mehrere Termine muss aber möglich sein, da dies schon aus Zeitgründen (etwa bei einem besonders langen Vortrag des Asylbewerbers) im Einzelfall nicht anders machbar sein dürfte und die Beschränkung auf einen einzelnen Termin zu einer Verkürzung des rechtlichen Gehörs führen würde. Gleiches muss gelten, wenn das Bundesamt nach der ersten Anhörung zu dem Ergebnis kommt, dass der Sachverhalt noch nicht ausreichend ermittelt und insofern der Asylantrag noch nicht entscheidungsreif ist. Die (inhaltliche) Anhörung ist dann zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Daher ist für den Zeitpunkt, bis zu dem der Asylbewerber seine wahre Staatsangehörigkeit im Asylverfahren aufdecken muss, der Abschluss des letzten Anhörungstermins beim Bundesamt maßgebend. Anerkennenswert, weil letztlich nicht mehr freiwillig, ist die Beendigung der Täuschung nur dann nicht mehr, wenn das Bundesamt zwischenzeitlich von sich aus die wahre Identität des Asylbewerbers herausgefunden hat.
24
Bei dem zweiten und letzten Anhörungstermin am 8. Juni 2021 haben die Kläger zu 1) und 2) vorliegend für sich selbst und für ihre Kinder, die Kläger zu 3) und 4) und für die Klägerin des Verfahrens AN 17 K 21.30935 die wahre Staatsangehörigkeit offengelegt. Dies geschah wohl freiwillig. Auch hatte das Bundesamt zu dem Zeitpunkt noch keine positive Kenntnis von der wahren (jordanischen) Staatsangehörigkeit der Kläger, sondern lediglich Zweifel an der bislang behaupteten syrischen. Die Korrektur ihrer Angaben zur Staatsangehörigkeit erfolgte daher noch rechtzeitig. Im Übrigen wird auf die Ausführungen in den Beschlüssen des Verwaltungsgerichts vom 19. April 2023 (AN 17 S 21.30932 und AN 17 S 21.30934) Bezug genommen, an denen das Gericht auch nach Wechsel des zuständigen Einzelrichters festhält.
25
b) Die Klagen sind jedoch insoweit unbegründet, als mit ihnen die Zuerkennung subsidiären Schutzes und hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten begehrt werden. Insoweit sind die Bescheide rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Die geltend gemachten Ansprüche stehen ihnen nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
26
aa) Subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist einem Ausländer zu gewähren, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wozu die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zählen (§ 4 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG). Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 AsylG gelten auch für die Gewährung des subsidiären Schutzes die Ausschlussgründe der §§ 3c bis 3e AsylG.
27
Hiernach scheidet die Zuerkennung subsidiären Schutzes – auch bei vollkommener Wahrunterstellung des Vortrags des Klägers zu 1) – schon aus, da die von ihm vorgetragene Blutrache, der er und seine Familie verfallen sein sollen, nicht von einem staatlichen Akteur, sondern von einem fremden Stamm bzw. von einem fremden Familienverband ausgeht. Nach § 3c Nr. 3 i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG handelt es sich dabei nur dann um taugliche Verfolgungsakteure, wenn der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Dies ist hier nicht der Fall. Der Kläger ist zu allererst auf inländische Hilfe, namentlich die der jordanischen Polizei und der nationalen Sicherheitsbehörden zu verweisen. Für landesinterne Schutzmöglichkeiten ist § 3d Abs. 2 AsylG maßgebend, der nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei der Prüfung subsidiären Schutzes entsprechend anzuwenden ist. Danach muss der interne Schutz vor Verfolgung wirksam sein und darf nicht nur vorübergehender Art. sein. Ein solcher Schutz ist gewährleistet, wenn die entsprechenden Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Eine bloße soziale und finanzielle Unterstützung des betreffenden Asylbewerbers ist nicht geeignet, da sie nicht zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung solcher Handlungen führt. Erforderlich sind also geeignete Schutzmaßnahmen, nicht aber ein absoluter Schutzerfolg. Das Gefährdungsniveau muss beachtlich wahrscheinlich so weit unterschritten werden, dass auch im Einzelfall die Gefahr vor Verfolgung oder eines sonstigen erheblichen Schadens minimal ist. Mehr kann nicht verlangt werden (vgl. Bergmann/ Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 15. Aufl. 2025, § 3d AsylG Rn. 6). Dass die jordanischen Sicherheitsbehörden nicht willens oder nicht in der Lage sind, Hilfe zu leisten, ist nicht vorgetragen und anhand der zugänglichen Erkenntnismittel auch nicht ersichtlich (vgl. etwa Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Jordanien, Gesamtaktualisierung vom 16.4.2020). Insoweit wird auch auf die angefochtenen Bescheide des Bundesamts vom 18. November 2021 verwiesen. Der Kläger zu 1) trug bei seiner ergänzenden Anhörung selbst vor, dass ihn die jordanische Polizei in Schutzhaft nehmen würde. Dass dies unter Umständen keinen absoluten Schutz darstellen würde, schließt es – wie dargestellt – nicht aus, den Kläger auf die interne Schutzalternative zu verweisen. Die Gewährung subsidiären Schutzes scheidet damit aus. Gleiches gilt für die Kläger zu 2) bis 4) und die Klägerin in dem Verfahren AN 17 K 21.30935, die keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht haben.
28
bb) Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Anhaltspunkte dafür, dass den Klägern in Jordanien eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung drohen würde oder dass sie dort kein menschenwürdiges Leben führen könnten, sind nicht ersichtlich. Sofern man die vom Kläger zu 1) vorgetragene drohende Blutrache als eine solche unmenschliche und entwürdigende Behandlung ansehen mag, gilt das unter aa) Gesagte. Auch die hohen Anforderungen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, der eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit voraussetzt, sind nicht erfüllt. Im Verfahren hat der Kläger ärztliche Atteste vom 5. Januar 2018, vom 14. Juni und vom 29. September 2020 sowie vom 17. März und vom 17. Juni 2021 vorgelegt, in denen ihm eine posttraumatische Belastungsstörung sowie Verbrennungsnarben und daraus resultierende Funktionsbeeinträchtigungen der Schulter attestiert werden. Keines der vorgelegten Atteste (das neueste stammt aus dem Jahr 2021) kann noch Aktualität für sich in Anspruch nehmen. Angesichts der Volatilität gerade psychischer Erkrankungen wie einer posttraumatischen Belastungsstörung ist daher für das Gericht weder ersichtlich, ob und in welcher Intensität die vorgetragenen Störungen noch vorliegen, noch eine zuverlässige Prognose möglich, inwieweit mit einer – für ein Abschiebungsverbot erforderlichen – wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers zu 1) zu rechnen ist. Es wäre nach § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG seine Aufgabe gewesen, neuere Atteste unverzüglich vorzulegen.
29
Die Klagen waren nach alledem im Übrigen abzuweisen.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich § 155 Abs. 1 VwGO. Danach sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen, wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt. Im vorliegenden Fall erschien es vor dem Hintergrund, dass die Kläger mit ihrem Antrag, das Offensichtlichkeitsurteil in den angefochtenen Bescheiden aufzuheben, Erfolg haben, im Übrigen aber die (auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten beschränkten) Klagen abzuweisen waren, angemessen, den Klägern 4/5 und der Beklagten 1/5 der Verfahrenskosten aufzuerlegen.
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Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.