Titel:
Wohnungsrecht, Pflichtteilsergänzungsanspruch, Willen des Erblassers, Anschlußberufung, Miteigentumsanteil, Wertermittlungsanspruch, Streithelfer, Zehnjahresfrist, Erwerber, Umfassendes Nutzungsrecht, Veräußerung, Vorbehaltenes Wohnrecht, Übertragene Immobilien, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Teilurteil, Unentgeltlichkeit, Nießbrauch, Übertragung, Festsetzung des Streitwerts, Berufungsverfahren
Schlagworte:
Pflichtteilsergänzungsanspruch, Schenkung, Wohnungsrecht, Nießbrauch, Zehnjahresfrist, Grundstücksübertragung, Wertermittlung
Vorinstanz:
LG München I, Teilurteil vom 10.07.2024 – 3 O 2102/24
Fundstelle:
BeckRS 2025, 20252
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Teilurteil des Landgerichts München I vom 10.07.2024, Az. 3 O 2102/24, abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
3. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens sowie die Kosten der Nebenintervention zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Verfahren erster Instanz wird auf 53.125,00 € festgesetzt, der Streitwert für das Berufungsverfahren auf 3.000,00 €.
Entscheidungsgründe
1
Die Klägerin macht gegen die Beklagte im Wege einer Stufenklage Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend.
2
Die Klägerin ist die Tochter aus erster Ehe des H. …, der zwischen dem ... und ... 2022 in M.verstorben ist (Erblasser). Die Beklagte ist die zweite Ehefrau des Erblassers und aufgrund Erbvertrags vom 07.08.1969 seine Alleinerbin (Anlage K1). Der Erblasser hatte aus zweiter Ehe einen Sohn, den auf Seiten der Beklagten beigetretenen Nebenintervenienten R….
3
Mit notarieller Urkunde vom 06.10.2006 haben der Erblasser und die Beklagte ihren jeweils hälftigen Miteigentumsanteil am Anwesen ... in M. auf ihren Sohn R… durch Schenkung übertragen (Anlagen B2, B1, K3). Gemäß § 3 der Vereinbarung war der Erwerber berechtigt, die in dem der Notarurkunde beigefügten Plan schraffierten Flächen auf der Grundlage einer Baugenehmigung der Landeshauptstadt M. vom 03.08.2006 durch einen Um- bzw. Ausbau zu bebauen und das bestehende Haus durch einen entsprechenden Anbau zu ergänzen und zu erweitern. Der Besitz an den neu zu erstellenden Flächen sollte an den Erwerber übergehen. Bezüglich der bestehenden Flächen erhielt der Erwerber den unmittelbaren Besitz an den im Plan blau schraffierten Flächen (Teil der Garage, Wohnräume im ersten Obergeschoss sowie Kellerräume mit Ausnahme eines Raumes, Anlage B1).
4
Gemäß § 8 der notariellen Vereinbarung wurde den Veräußerem ein durch Eintragung einer Reallast gesichertes lebenslanges unentgeltliches Wohnungs- und Nutzungsrecht an den im Plan rot schraffierten Flächen (Erdgeschoss mit Teilen der Garage sowie ein Kellerraum, Anlage B1) sowie freier Umgang in Haus, Hof und Garten eingeräumt. Für das Wohnungsrecht wurde die entsprechende Geltung der §§ 18-21 AGBGB-BY vereinbart. Der Erwerber verpflichtete sich, für den Fall der Unbewohnbarkeit der vom Wohnungsrecht umfassten Räumlichkeiten gleichwertige Räume zur ausschließlichen Nutzung durch die Berechtigten zur Verfügung zu stellen. Zudem war den Veräußerem die entgeltliche oder unentgeltliche Überlassung des Wohnungsrechts an Dritte gestattet.
5
In § 9 des notariellen Vertrages war ein Rückübertragungsanspruch der Veräußerer bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen vereinbart (Vorversterben des Erwerbers ohne Vorhandensein von Abkömmlingen, Veräußerung durch den Erwerber ohne Zustimmung der Veräußerer, Einleitung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in den Vertragsgegenstand oder Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Erwerbers, Geschäftsunfähigkeit des Erwerbers). Gemäß § 11 der notariellen Vereinbarung konnte der Erwerber Grundpfandrechte in Höhe von 170.000,00 € zzgl. Zinsen in Höhe von 16 % im Rang vor dem Wohnungsrecht, der Wohnungsreallast und der Rückauflassungsvormerkung eintragen lassen.
6
Die Klägerin hat vor dem Landgericht die Auffassung vertreten, der Fristlauf des § 2325 Abs. 3 BGB habe noch nicht begonnen, weshalb sie gegen die Beklage einen Anspruch auf Wertermittlung der Immobilie im Zustand des Übertragungszeitpunkts zu den Stichtagen der Übertragung am 06.10.2006 sowie zum Erbfall am 23.03.2022 habe. Das Wohnungsrecht sei insbesondere durch die Möglichkeit der entgeltlichen Überlassung an Dritte vergleichbar einem Nießbrauch ausgestaltet, der Erblasser habe bei der Übertragung der Immobilie seine Rechtsstellung als Eigentümer nicht endgültig im Sinne der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgegeben.
7
Die Beklagte hat erstinstanzlich vorgebracht, die Zehnjahresfrist des § 2325 Abs. 3 BGB habe mit der Übergabe der Immobilie im Jahr 2006 zu laufen begonnen. Pflichtteilsergänzungsansprüche sowie Wertermittlungsansprüche bestünden daher nicht.
8
Auf die tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils und die dort gestellten Anträge wird ergänzend Bezug genommen.
9
Mit Teilurteil vom 24.04.2024 hat das Landgericht der Klage auf der ersten Stufe teilweise stattgegeben und die Beklagte zur Wertermittlung der an R… übertragenen Immobilie zum Stichtag 23.03.2022 (Tod des Erblassers) verurteilt. Einen Wertermittlungsanspruch zum Zeitpunkt der Übertragung der Immobilie hat es abgelehnt und die Klage insoweit abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Zehnjahresfrist des § 2325 Abs. 3 BGB habe mit der Überschreibung der Immobilie im Jahre 2006 nicht zu laufen begonnen, da sich der Erblasser ein umfassendes Wohnungsrecht an über 50 % des Wohnanteils des Hauses sowie freien Umgang in Haus, Hof und Garten vorbehalten habe, eine unentgeltliche und entgeltliche Überlassung des Wohnungsrechts an Dritte gestattet gewesen sei und sich der Erblasser ein Rückforderungsrecht vorbehalten habe. Die Belastung der Immobilie durch den Erwerber mit Rangvorbehalt sei nur bis zu einem Betrag von 170.000,00 € möglich gewesen, der Wert der Immobile habe zum Zeitpunkt der Übertragung aber 650.000,00 € betragen. Der Erblasser habe auf sein Nutzungsrecht nicht im Wesentlichen verzichtet, die Schenkung gelte daher als nicht geleistet.
10
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie rügt die fehlerhafte Anwendung von § 2325 Abs. 3 BGB und wiederholt und vertieft ihr Vorbringen zum Ablauf der dortigen Zehnjahresfrist. Ein Ausnahmefall im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung liege mit Blick auf das lediglich teilweise vorbehaltene Wohnungs- und Nutzungsrecht nicht vor, das Wohnungsrecht habe auch nicht mehr als 50 % der Wohnfläche betragen.
11
Die Klägerin hat in der Berufungsinstanz mit Schriftsatz vom 18.03.2025 R… den Streit verkündet, der dem Rechtsstreit am 17.04.2025 auf Seiten der Beklagten beigetreten ist.
12
Die Beklagte und der Streithelfer beantragen,
das Teilurteil des Landgerichts München I vom 10.07.2024, Az. 3 O 2102/24, abzuändern und die Klage abzuweisen.
13
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
14
Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Das vertraglich vorbehaltene Wohnungsrecht sei „nießbrauchsähnlich“ ausgestaltet. Dies zeige sich insbesondere an der Berechtigung zur entgeltlichen Vermietung durch die Veräußerer, der vereinbarten analogen Anwendung der §§ 18-21 AGBGB-BY und der Pflicht des Erwerbers zur Beschaffung anderer Räumlichkeiten bei Unbewohnbarkeit der vom Wohnungsrecht umfassten Räumlichkeiten. Die vom Wohnungsrecht erfasste Fläche beinhalte mehr als 50 % des Wohnanteils des Hauses, zudem habe sich der Erblasser freien Umgang in Haus, Hof und Garten vorbehalten. Tatsächlich handle es sich um einen „Nießbrauch im Schafspelz“, der Erblasser habe den Genuss an der Immobilie nicht endgültig aufgegeben.
15
Die Klägerin ist zudem der Auffassung, das Landgericht habe ihren Antrag, den Wert des hälftigen Miteigentumsanteils auch zum Schenkungszeitpunkt zu ermitteln, zu Unrecht abgewiesen. Der Klägerin stünde aus § 2314 BGB ein Anspruch auf sachverständige Wertermittlung auch zum Zeitpunkt der Übertragung im Jahr 2006 zu.
16
Mit der Anschlussberufung beantragt sie,
das Teilurteil des Landgerichts München I in Ziffer I. wie folgt zu fassen:
Die Beklagte wird auf erster Stufe verurteilt, den Wert des hälftigen Miteigentumsanteils am Anwesen … (Grundbuch des AG München …-Wohnhaus mit Büro, Garten, Nebengebäude, Hofraum, 840 qm), soweit es am 06.10.2006 bereits errichtet war, im Zeitpunkt 23.03.2022 (Tod des Erblassers H. … sowie im Zeitpunkt 15.12.2006 durch einen unparteiischen Sachverständigen auf Kosten des Nachlasses ermitteln zu lassen und das Gutachten der Klägerin vorzulegen.
17
Die Beklagte und der Streithelfer beantragen,
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
18
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 30.06.2025 Bezug genommen.
19
Die zulässige Berufung ist in der Sache begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Pflichtteilsergänzungsanspruch gemäß § 2329, § 2325 BGB und damit auch kein Wertermittlungsanspruch zu, da die 10-Jahres-Frist des § 2325 Abs. 3 Satz 2 BGB im Zeitpunkt des Erbfalls bereits abgelaufen war. Das landgerichtliche Urteil war daher aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen, die Anschlussberufung war zurückzuweisen.
20
1. Zwischen den Parteien des Rechtsstreits sind weder die Pflichtteilsberechtigung der Klägerin noch die grundsätzliche Einstandspflicht der Beklagten als Alleinerbin oder die im Wege der Schenkung erfolgte Übertragung des hälftigen Miteigentumsanteils an der Immobilie durch den Erblasser an den Streithelfer im Streit. Einzig die Frage, ob die 10-Jahresfrist des § 2325 Abs. 3 Satz 2 BGB zu laufen begonnen hat, wird unterschiedlich beurteilt.
21
2. Gemäß § 2325 Abs. 1 BGB kann der Pflichtteilsberechtigte, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht hat, als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird. Allerdings bleibt eine Schenkung gemäß § 2325 Abs. 3 Satz 2 BGB unberücksichtigt, wenn zwischen der Leistung des Schenkungsgegenstandes und dem Eintritt des Erbfalls mehr als zehn Jahre vergangen sind, wobei die Frist grundsätzlich erst mit dem Eintritt des Leistungserfolges zu laufen beginnt (BGH, Urteil vom 17.09.1986, IVa ZR 13/85, NJW 1987, 122; BGH, Urteil vom 19.07.2011, X ZR 140/10, NJW 2011, 3082 f.; Burandt/Rojahn/Horn Erbrecht 4. Auflage 2022, § 2325 BGB Rn. 96). Bei einer Grundstücksschenkung tritt dieser Leistungserfolg erst mit der Umschreibung des Grundstücks im Grundbuch ein (BGH, Urteil vom 19.07.2011, X ZR 140/10, NJW 2011, 3082 f.). Nach dem Parteivortrag war dies unstreitig im Dezember 2006 (Anlage K3). Bis zum Erbfall am 22./23.03.2022 sind mithin mehr als 10 Jahre verstrichen.
22
3. Allerdings hat der Bundesgerichtshof in seinem Grundsatzurteil vom 27.04.1994 (IV ZR 132/93, ZEV 1994, 233) entschieden, dass eine Leistung im Sinne von § 2325 Abs. 3 Hs. 1 BGB in der bis zum 31.12.2009 geltenden Fassung erst dann vorliegt, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenkten Gegenstand – sei es aufgrund vorbehaltener dinglicher Rechte oder durch Vereinbarung schuldrechtlicher Ansprüche – im Wesentlichen weiterhin zu nutzen. Der Gesetzgeber habe von dem fiktiven Nachlass, aus dem der Pflichtteilsergänzungsanspruch berechnet werde, nur solche Schenkungen ausnehmen wollen, deren Folgen der Erblasser längere Zeit hindurch zu tragen und in die er sich einzugewöhnen habe. Darin habe der Gesetzgeber eine gewisse Sicherheit vor „böslichen“ Schenkungen gesehen. Deshalb gelte eine Schenkung nicht als geleistet, wenn der Erblasser den „Genuss“ des verschenkten Gegenstands nach der Schenkung nicht auch tatsächlich entbehren müsse. Werde bei einer Schenkung daher der Nießbrauch uneingeschränkt vorbehalten, sei der „Genuss“ des verschenkten Gegenstands nicht aufgegeben worden. An dieser Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof auch nach der Neufassung des § 2325 Abs. 3 BGB zum 01.01.2010 festgehalten (BGH, Urteil vom 29.06.2016, IV ZR 474/15, ZEV 2016, 445).
23
4. Die Anwendung der dargelegten Grundsätze zur „Genussaufgabe“ hat der Bundesgerichtshof nicht nur für den uneingeschränkten Nießbrauch, sondern auch für ein durch den Erblasser gem. § 1093 BGB vorbehaltenes Wohnungsrecht angenommen. Auch wenn das Wohnungsrecht als beschränkte persönliche Dienstbarkeit im Vergleich zum Nießbrauch als umfassendem Nutzungsrecht schwächer ausgestaltet sei, könne – in Ausnahmefällen – der Fristbeginn des § 2325 Abs. 3 BGB gehindert sein. Maßgeblich seien die Umstände des Einzelfalles, anhand derer beurteilt werden muss, ob der Erblasser den verschenkten Gegenstand auch nach Vertragsschluss noch im Wesentlichen weiter nutzen konnte, wobei auf die rechtlich vereinbarte und nicht auch auf eine mögliche faktische Nutzung abzustellen ist (BGH, Urteil vom 29.06.2016, IV ZR 474/15, ZEV 2016, 445).
24
5. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze begann vorliegend entgegen der Ansicht des Landgerichts die Frist des § 2325 Abs. 3 BGB hinsichtlich des überlassenen Miteigentumsanteils mit der Eintragung des Streithelfers als Eigentümer im Grundbuch im Jahre 2006 zu laufen. Hieran ändert das vom Erblasser und der Beklagten vorbehaltene Wohnungsrecht nichts.
25
5.1 Zunächst haben sich die Eheleute ein Wohnungsrecht nicht an der gesamten zum Zeitpunkt der Schenkung bestehenden Immobilie einräumen lassen, sondern nur an einem Teil derselben, nämlich an der im Erdgeschoss liegenden Wohnung, einem Kellerraum sowie Teilen der Garage. Ihnen war freier Umgang in Haus, Hof und Garten gestattet. Das gesamte erste Obergeschoss, das als eigenständige Wohnung durch den Streithelfer genutzt wurde, die übrigen Kellerräume sowie ein Teil der Garage waren vom Wohnungsrecht nicht umfasst. Nicht entscheidend ist in diesem Zusammenhang, ob das Wohnungsrecht mehr als 50 % der Gesamtwohnfläche umfasste, da jedenfalls ein wesentlicher Teil der Räumlichkeiten vom Erwerber allein und unter Ausschluss des Erblassers genutzt werden konnte und wurde. Zudem war es dem Erwerber vertraglich gestattet, umfangreiche Um- und Anbaumaßnahmen gemäß einer bereits bestehenden Baugenehmigung durchzuführen, die zu erheblichen baulichen Erweiterungen des Wohnhauses (Ausbau des Dachgeschosses als weiterer Wohnraum, eigenständiger Anbau im Erdgeschoss) geführt haben, wobei bereits im notariellen Vertrag vorgesehen war, dass die neu entstehenden Flächen in den ausschließlichen Besitz des Erwerbers übergehen sollten. Schließlich konnte der Erwerber Grundpfandrechte im Rang vor dem Wohnungsrecht bis zu einem Betrag von 170.000,00 € zzgl. 16 % Zinsen eintragen lassen. Angesichts der nicht unerheblichen Höhe des Betrages ist entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht entscheidend, ob die Immobilie zum Zeitpunkt der Übertragung einen höheren Wert hatte. Bei Bewertung der Gesamtumstände kann der Erblasser mit Vollzug des Übergabevertrages vielmehr nicht mehr als „Herr im Haus“ angesehen werden (vgl. BGH, Urteil vom 29.06.2016, IV ZR 474/15, ZEV 2016, 445; OLG Karlsruhe, 12 U 124/07, ZEV 2008, 244; Herrler, ZEV 2008, 461, 463). Keinesfalls konnte er das Anwesen im Wesentlichen weiter nach eigenem Gutdünken frei nutzen, er war im Gegenteil von einer Nutzung desselben in großen Teilen ausgeschlossen.
26
5.2 Diesem Ergebnis stehen auch die weiteren Vereinbarungen im Übergabevertrag nicht entgegen. Soweit dem Erblasser die unentgeltliche und entgeltliche Überlassung des Wohnungsrechts an Dritte gestattet wurde, bezog sich dies nur auf einen Teil des Hauses, nicht auf das gesamte Anwesen. Die in § 9 des Vertrages geregelten Konstellationen für einen Anspruch auf Rückübertragung sind ihren Voraussetzungen nach nicht vom Willen des Erblassers abhängig, sondern von dem Verhalten des Erwerbers bzw. Dritter. Die Verpflichtung des Erwerbers schließlich, im Falle der Unbewohnbarkeit der vom Wohnungsrecht umfassten Räumlichkeiten Ersatzräumlichkeiten zur Verfügung zu stellen sowie die Vereinbarung der analogen Anwendung der §§ 18-21 AGBGB-BY dienen ersichtlich der Absicherung des Veräußerers vor Wohnungslosigkeit, sie eröffnen diesem aber keine eigene Gestaltungsmöglichkeit in Bezug auf bauliche Veränderungen oder eine Einflussnahme auf die dem Erwerber gestatteten Um- und Ausbaumaßnahmen. Anders als die Klägerin meint, sind auch diese Regelungen eher Ausdruck dafür, dass der Erblasser durch die Übertragung der Immobilie ihren Genuss und die eigene freie Nutzungsmöglichkeit weitgehend und dauerhaft entbehren musste.
27
6. Der Senat setzt sich entgegen der Ansicht der Klägerin auch nicht zu seiner Entscheidung vom 08.07.2022 in Widerspruch (NJW-RR 2022, 1164), denn dieser lag eine andere Fallkonstellation zugrunde. In dem dort entschiedenen Fall durfte der Erblasser die gesamte relevante Wohnfläche des Anwesens aufgrund des vorbehaltenen Wohnungsrechts sowie die Gebäude des landwirtschaftlichen Anwesens aufgrund des eingeräumten Mitbenutzungsrechts weiter wie zuvor nutzen, während der Erwerber von einer eigenen Nutzung des gesamten Wohngebäudes ausgeschlossen war. Soweit die Berufung auf andere obergerichtliche Entscheidungen Bezug nimmt, kann sie aus diesen schon deshalb nichts für sich herleiten, weil auch dort der Beginn des Fristlaufs des § 2325 Abs. 3 BGB bejaht wurde, wenn sich der Erblasser ein Wohnungsrecht lediglich an einem Teil des Hausgrundstücks vorbehält. Zudem ergingen sämtliche Entscheidungen zeitlich vor dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 29.06.2016 (IV ZR 474/15, ZEV 2016, 445 mit Verweisen auf die obergerichtliche Rechtsprechung), das sich auch mit diesen Entscheidungen auseinandergesetzt hat.
28
7. Da kein Wertermittlungs- und Pflichtteilsergänzungsanspruch besteht und die Klage insgesamt abzuweisen war, sind Ausführungen zur Anschlussberufung der Klägerin nicht veranlasst.
29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91, § 101 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
30
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 Abs. 2 ZPO. Die zugrundeliegende Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen bei der Vereinbarung eines Wohnungs- und Nutzungsrechts ausnahmsweise die Frist gemäß § 2325 Abs. 3 Satz 1 BGB nicht zu laufen beginnt, ist höchstrichterlich geklärt. Bei der Entscheidung des Senats handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung in Anwendung der vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätze.
31
Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 GKG, § 3 ZPO. Für den Streitwert erster Instanz war gemäß § 44 GKG der Wert des höchsten Anspruchs, mithin des mit der Auskunft vorbereiteten Leistungsanspruchs heranzuziehen. Denn mit der Erhebung der Stufenklage wird die sofortige Rechtshängigkeit auch des Hauptanspruchs begründet (BGH, Beschluss vom 18.01.1995, XII ARZ 36/94, NJW-RR 1995, 513), der deshalb bereits von Beginn des Verfahrens an den Wert des Begehrens der klagenden Partei beeinflusst. Dies gilt auch dann, wenn der Leistungsantrag nicht mehr beziffert wird (vgl. OLG Düsseldorf, 24 W 83/11, NJOZ 2012, 263 m.w.N.). Der Senat hat insoweit die in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung von der Klägerin vorgetragenen Werte zugrundegelegt (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 24.04.2024, S. 2, Bl. 26 LG). Der Streitwert des Berufungsverfahrens bemisst sich nach dem Interesse der Beklagten, die Auskunft nicht erteilen zu müssen, dh nach dem insoweit voraussichtlich erforderlichen Aufwand an Zeit und Kosten, dh hier den geschätzten Kosten für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens.