Titel:
Versorgung mit einem Rollstuhlzuggerät
Normenketten:
SGB V § 33 Abs. 1 S. 1 Alt. 3
SGB IX § 4 Abs. 1, § 14 Abs. 2 S. 4, § 90, § 99 Abs. 1, § 104, § 113 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 3 S. 2
UN-BRK Art. 20 Abs. 5
Leitsätze:
1. Ein behinderter Mensch hat Anspruch auf ein Rollstuhlzuggerät (zusätzlich zu dem bereits vorhandenen Aktivrollstuhl) zum Zweck des mittelbaren Behinderungsausgleichs, wenn dieses Hilfsmittel erforderlich ist, um den erweiterten Nahbereich im Sinne der neueren Rechtsprechung des BSG zum Krankenversicherungsrecht aus eigener Kraft erschließen zu können. (Rn. 17 – 24)
2. Ein solcher Anspruch besteht auch nach dem Recht der sozialen Teilhabe, wenn der behinderte Mensch ohne das Hilfsmittel seine Freizeit- und Urlaubsaktivitäten nicht wunschgemäß ähnlich wie ein vergleichbarer, nicht von einer Behinderung betroffener Mensch gestalten kann. (Rn. 25 – 30)
Schlagworte:
Hilfsmittel, Rollstuhlzuggerät, mittelbarer Behinderungsausgleich, erweiterter Nahbereich, Einsatz eigener Restkräfte, Eingliederungshilfe, soziale Teilhabe, Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung, zweitangegangener Rehaträger
Fundstelle:
BeckRS 2025, 19745
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.01.2024 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Regierung von Oberbayern vom 01.07.2024 verurteilt, die notwendigen Kosten für ein Rollstuhlzuggerät zu übernehmen.
II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Versorgung des Klägers mit einem Rollstuhlzuggerät.
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Bei dem im Jahre 1972 geborenen Kläger, einem früheren Krankenpfleger, mittlerweile erwerbsunfähig, besteht seit ca. 2018 eine chronische und tendenziell fortschreitende schwere Nervenschädigung (sensomotorische Polyneuropathie), vor allem im Bereich der Beine (siehe dazu den Arztbericht des LMU-Klinikums M-Stadt vom 24.11.2023, Blatt 24 f Gerichtsakte). Er kann nur wenige Schritte in häuslicher Umgebung gehen und ist ansonsten auf den Rollstuhl angewiesen. Der Kläger wurde durch die Beigeladene mit einem Adaptivrollstuhl versorgt.
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Den Antrag auf Übernahme der Kosten für ein Rollstuhlzuggerät, dem der Kläger eine ärztliche Verordnung vom 08.12.2022 und einen Kostenvoranschlag vom 08.02.2023 (voraussichtliche Kosten: 5.985,71 EUR) beifügte, leitete die Beigeladene mit Schreiben vom 16.02.2023 an den Beklagten weiter, mit der Begründung, das begehrte Hilfsmittel werde für die erweiterte Fortbewegung und nicht für den Nahbereich benötigt. Es sei nur für den außerhäuslichen Einsatz konzipiert und falle daher nicht in die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Mit dem am 10.01.2023 genehmigten Adaptivrollstuhl Sopur Easy Life sei eine manuelle Fortbewegung im Wohn- und Nahbereich sichergestellt. Der Kläger äußerte sich gegenüber dem Beklagten in einer Stellungnahme ohne Datum dahingehend, der Rollstuhl bringe ihm schon eine gewisse Erleichterung, zum Beispiel beim selbständigen Einkaufen und Gassi gehen mit dem Hund. Allerdings sei dadurch seine Teilhabe nicht zu 100% wiederhergestellt, da seine Kraft nicht für „Tagesausflüge, Pflastersteine, Bordsteinkanten, steinige Gehwege, Winter, schiefe Gehwege, Steigungen, Waldwege“ ausreiche. In solchen Situationen könne ihm ein Rollstuhlzuggerät eine enorme Entlastung bieten und zu einer vollständig gleichberechtigten Teilhabe beitragen. Seine Ehefrau sei gleichfalls schwer behindert und deshalb nicht in der Lage, ihn bei seiner Mobilität zu unterstützen.
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Nach Anhörung des Klägers lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 22.01.2024 mit der Begründung ab, die Ausstattung des Klägers mit einem Rollstuhlzuggerät sei nicht erforderlich, um die soziale Teilhabe des Klägers sicherzustellen. Die dazu erforderliche Mobilität könne bereits mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl und der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erreicht werden. Das beantragte Hilfsmittel diene primär der Fortbewegung und sei nicht geeignet, dem Kläger Kontakt mit seiner Umwelt zu verschaffen. Für die Mobilität im Nahbereich könne der Kläger bei Notwendigkeit mit einem elektrisch betriebenen Krankenfahrzeug als einer zweckmäßigeren und wirtschaftlicheren Alternative zum vorhandenen Rollstuhl versorgt werden.
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Dieser Entscheidung widersprach der Kläger und trug zur Begründung insbesondere vor, er könne aufgrund seiner Kraftminderung bereits den Nahbereich seiner Wohnung nicht allein mit dem Aktivrollstuhl erschließen. Insoweit könne er nicht auf einen elektrisch betriebenen Krankenfahrstuhl verwiesen werden, da die aktive Fortbewegung mit dem vorhandenen Rollstuhl positive Effekte auf seinen Gesundheitszustand habe. Als aktiver Mensch habe der Kläger das nachvollziehbare Bedürfnis, sich aus eigener Kraft an der frischen Luft fortzubewegen und dabei unabhängig von fremder Hilfe zu sein.
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Mit Bescheid vom 01.07.2024 wies die Regierung von Oberbayern den Widerspruch zurück. Mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl sei die Mobilität des Klägers ausreichend und zweckmäßig sichergestellt. Die gleichzeitige Gewährung eines Aktivrollstuhls und eines elektrisch betriebenen Mobilitätshilfsmittels würde das Maß des Notwendigen übersteigen und somit gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen.
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Dagegen richtet sich die am 01.08.2024 beim Sozialgericht München eingegangene Klage, zu deren Begründung der Kläger im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt hat; die ausführliche Klagebegründung im Detail ist Blatt 17 ff der Gerichtsakte zu entnehmen. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 02.07.2025 hat der Kläger ergänzend vorgebracht, aufgrund seiner chronischen Erkrankung sei sein Immunsystem erheblich geschwächt, weshalb er die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel so weit wie möglich vermeide. Er besitze keinen eigenen Pkw und sei auch nicht in der Lage, einen solchen zu führen. Seine Ehefrau verfüge über einen Pkw, den sie unter der Woche für ihre Erwerbstätigkeit benötige.
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Der Kläger stellt den Antrag aus der Klageschrift vom 01.08.2024, mit der Maßgabe, dass sich die Klage auf die Übernahme der notwendigen Kosten eines Rollstuhlzuggeräts richtet.
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Der Beklagte beantragt,
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Die begehrte Maßnahme sei bereits nicht erforderlich. Entweder sei die Erschließung des Nahbereichs durch den vorhandenen Rollstuhl bereits sichergestellt, oder dieser müsse gegen ein elektrisch betriebenes Krankenfahrzeug ausgetauscht werden. Ausgehend davon sei auch der Anspruch des Klägers auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erfüllt, da der Kläger öffentliche Verkehrsmittel nutzen könne. Ein Anspruch auf eine optimale Teilhabe bestehe nicht. Zudem komme vorrangig die Ausstattung mit einer Brems- und Schiebehilfe zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Beklagte ergänzend argumentiert, wenn der Kläger Probleme bei der Fortbewegung im offenen Gelände habe, könne er seine Ausflugsziele so auswählen, dass er die damit verbundenen Wege mit dem vorhandenen Rollstuhl bewältigen könne und sich also z. B. weitgehend auf befestigte bzw. geteerte Wege beschränken.
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Die Beigeladene hat sich mit Schriftsatz vom 04.02.2025 geäußert; insoweit wird auf Blatt 64 der Gerichtsakte verwiesen.
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Dem Gericht lagen die Behördenakten des Beklagten bei seiner Entscheidung vor.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der Kläger hat Anspruch auf Übernahme der notwendigen Kosten für die Beschaffung eines Rollstuhlzuggeräts.
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Die Klage ist nicht deshalb unzulässig, weil der Kläger in der Klageschrift den Beklagten falsch bezeichnet und dies erst nach Ablauf der Klagefrist (Monatsfrist) gem. § 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) korrigiert hat. Denn es handelt sich hier nicht um einen gewillkürten Parteiwechsel auf Beklagtenseite im Sinne einer Klageänderung nach § 99 Abs. 1 und 2 SGG, sondern nur um eine schlichte Berichtigung des Passivrubrums im Verhältnis von Widerspruchs- und Ausgangsbehörde, die auch noch nach Ablauf der Klagefrist zulässig ist (vgl. Bundessozialgericht – BSG, Urteil vom 10.03.2011, B 3 P 1/10 R, Rn. 12, in: juris).
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Der Beklagte als zweitangegangener Träger im Sinne von § 14 Abs. 2 Satz 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und somit leistender Rehabilitationsträger gem. § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat den Anspruch des Klägers zu Recht unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten geprüft. Denn die Weiterleitung des Antrags durch den erstangegangenen Träger (hier: die Beigeladene) bewirkt, dass sich die Leistungspflicht des zweitangegangenen Trägers nicht mehr allein nach „seinem“ Leistungsgesetz und der vom gegliederten System vorgegebenen materiell-rechtlichen Zuständigkeit bestimmt, sondern – in Durchbrechung von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IX – auf alle Anspruchsgrundlagen des Sozialgesetzbuchs erstreckt, die in der jeweiligen Bedarfssituation in Betracht kommen. Eingeschlossen ist hierbei insbesondere auch das Leistungsrecht des erstangegangenen Trägers, da dem Antragsteller durch das grundsätzliche Verbot der nochmaligen Weiterleitung keine Ansprüche verloren gehen dürfen. Eine Ablehnungsentscheidung kann daher rechtmäßig nur noch dann ergehen, wenn der Anspruch des Antragstellers nach keinem sozialrechtlichen Leistungsgesetz begründet ist (siehe Ulrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 4. Aufl. (Stand: 01.10.2023), § 14 SGB IX, Rn. 91).
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Im vorliegenden Fall spricht aus der Sicht des Gerichts viel dafür, dass sich ein Anspruch des Klägers bereits aus § 33 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ergibt.
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Bei einem Rollstuhlzuggerät handelt es sich um ein Hilfsmittel im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V; weder stellt dieses einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar, noch liegt ein Fall von § 34 Abs. 4 SGB V vor. Das Gerät dient im Falle des Klägers, legt man die neuere höchstrichterliche Rechtsprechung zum Krankenversicherungsrecht zugrunde, auch der Sicherstellung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und ist dazu erforderlich.
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Ein Hilfsmittel zum „mittelbaren Behinderungsausgleich“ ist nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Aufnehmen der Nahrung, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, Urteil vom 18.05.2011, B 3 KR 12/10 R, Rn. 13). Dieses umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich. Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs der Wohnung ist grundsätzlich der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Dies entspricht dem Umkreis, der mit einem vom behinderten Menschen selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann (BSG, a. a. O., Rn. 15).
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Der für die originäre Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung beim mittelbaren Behinderungsausgleich im Bereich der Mobilität maßgebende Raum bestimmt sich – in der Abgrenzung von den Aufgabenbereichen anderer Rehabilitationsträger und der Eigenverantwortung der Leistungsberechtigten – anhand der Wege, die, räumlich, einen engen Bezug zur Wohnung der Leistungsberechtigten haben – deren Nahbereich – und, sachlich, einen Bezug zu den Grundbedürfnissen der physischen und psychischen Gesundheit bzw. der selbständigen Lebensführung aufweisen, weil dort die für die üblichen Alltagsgeschäfte erforderlichen Wege zurückzulegen sind. Dazu gehören neben den allgemeinen Versorgungswegen wie beim Einkauf oder bei Post- und Bankgeschäften und den gesundheitserhaltenden Wegen beim Aufsuchen von Ärzten, Therapeuten, Apotheken auch Wege, die von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind, nämlich Entfernungen zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung des für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraums, sog. Freizeitwege (siehe BSG, Urteil vom 18.04.2024, B 3 KR 13/22 R, Rn. 26, in: juris). Dagegen hat die gesetzliche Krankenversicherung beim mittelbaren Behinderungsausgleich grundsätzlich nicht für Hilfsmittel zum Zurücklegen längerer Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer, aufzukommen, soweit nicht Integrationsinteressen von Kindern und Jugendlichen betroffen sind (BSG, a. a. O., Rn. 27).
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Dabei ist das Bedürfnis des behinderten Menschen zu respektieren, die Alltagsverrichtungen in dem so umschriebenen Bereich nach Möglichkeit unter Einsatz eigener (Rest-) Kräfte bewältigen zu können. Dies ist nicht nur Ausdruck der von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschützten persönlichen Autonomie des behinderten Menschen, sondern folgt auch aus der Teilhabeorientierung des SGB IX, dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) und dem Recht auf persönliche Mobilität nach Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (BSG, a. a. O., Rn. 21). Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass der Kläger nicht auf die Benutzung eines elektrisch betriebenen Krankenfahrzeugs verwiesen werden darf.
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Ob der Nahbereich der Wohnung nur mit einer motorunterstützten Mobilitätshilfe zumutbar mit eigener Körperkraft erschlossen werden kann, bestimmt sich regelhaft nach den örtlichen Gegebenheiten der wesentlichen Wege zur Versorgung und Gesunderhaltung, auch dann, wenn diese über die von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen üblicherweise zu Fuß zurückgelegte Entfernung hinausreichen (BSG, a. a. O., Rn. 25).
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Hierzu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 02.07.2025 für die Kammer überzeugend argumentiert, es sei ihm wichtig, in seinem privaten Wohnumfeld einen größeren Aktionsradius von mehreren Kilometern aufrechtzuerhalten, um Ärzte, Apotheken und diverse Einkaufsmöglichkeiten aufsuchen und seine sozialen Kontakte pflegen zu können. Dies sei ihm mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl nicht uneingeschränkt möglich, sondern nur abhängig von seiner körperlichen Tagesform und den jeweiligen Witterungsverhältnissen. Erst mit einem Rollstuhlzuggerät werde er in die Lage versetzt, in diesem räumlichen Bereich autonom zu agieren, zum einen aufgrund des großen Vorderrades, mit dem er Unebenheiten des Bodens, Bordsteinkanten etc. besser ausgleichen und leichter in öffentliche Verkehrsmittel einsteigen könne, zum anderen aufgrund der Kraftverstärkung. Dabei sei zu beachten, dass er öffentliche Verkehrsmittel wegen seines krankheitsbedingt geschwächten Immunsystems nur in eingeschränktem Umfang nutzen könne, vor allem nicht in Zeiten mit erhöhter Infektionsgefahr. Dies sind aber häufig eben gerade die Zeiten, in denen der Kläger witterungsbedingt auch Probleme mit der Fortbewegung außerhalb seiner Wohnung hat. Zudem ist der Wunsch des Klägers, möglichst viele und auch längere Wege „aus eigener Kraft“ zurückzulegen, auch unter dem Gesichtspunkt seiner persönlichen Autonomie zu respektieren, zumal dies dem Kläger hilft, seine behinderungsbedingten Einschränkungen, die ihn aus seinem bisherigen tätigen Leben gerissen haben, akzeptieren und auch seelisch besser bewältigen zu können.
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Nach alledem erscheint das begehrte Hilfsmittel bereits als unentbehrlich im Sinne von § 4 Abs. 1 SGB IX für den Kläger, um den Nahbereich um seine Wohnung erschließen und den mittelbaren Behinderungsausgleich sicherstellen zu können. Eine entsprechende Versorgung widerspricht auch nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V, weil gleich geeignete kostengünstigere Alternativen nicht vorhanden sind und die dafür anfallenden Kosten nicht außer Verhältnis zum individuellen Nutzen für den Kläger stehen. Inwiefern die Ausstattung des Klägers mit einer „Brems- und Schiebehilfe“ eine gleich geeignete Alternative darstellen könnte, hat der Beklagte auch in der mündlichen Verhandlung vor dem SG nicht hinreichend konkret darzulegen vermocht; das Gericht sieht somit keine Veranlassung zu entsprechenden Ermittlungen „ins Blaue hinein“.
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Ein Anspruch des Klägers ergibt sich aber jedenfalls (auch) aus dem Recht der Eingliederungshilfe gem. § 90 Abs. 1, Abs. 5, § 91 Abs. 1, § 102 Abs. 1 Nr. 4, § 104 Abs. 1, § 113 Abs. 2 Nr. 8, Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit § 84 Abs. 1 Satz 1 SGB IX.
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Der Kläger gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis gem. § 99 Abs. 1 SGB IX; darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Der Antrag des Klägers (vgl. § 108 SGB IX) zielt auch auf den Bereich der sozialen Teilhabe im Sinne von § 113 Abs. 1 SGB IX ab. Dem lässt sich von Seiten des Beklagten nicht mit Erfolg entgegenhalten, der Teilhabewunsch des Klägers – speziell soweit es dem Kläger darum gehe, Ausflüge in die Natur und entlang der oberbayerischen Seen zu unternehmen – beziehe sich nicht schwerpunktmäßig darauf, Kontakt mit anderen, nicht behinderten Menschen aufzunehmen. Denn die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erfassen auch Leistungen, denen als Teilhabeziel das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zu Grunde liegt (siehe BSG, Urteil vom 19.05.2022, B 8 SO 13/20 R, BSGE 134, 149 ff, SozR 4-3500 § 19 Nr. 7, SozR 4-3250 § 78 Nr. 1, Rn. 13, in: juris), grundsätzlich unabhängig davon, welche Art der Freizeitgestaltung der Antragsteller bevorzugt. Die Vorstellungen und Wünsche des Klägers bezüglich seiner Freizeitgestaltung sind im Übrigen nicht ungewöhnlich und entsprechen denen vieler anderer Menschen in Deutschland, ob bei ihnen eine Behinderung besteht oder nicht. Das hier streitige Rollstuhlzuggerät ist gem. § 90 Abs. 1, Abs. 5 SGB IX zu diesem Zweck geeignet, weil es den Aktionsradius des Klägers, speziell auf Waldwegen und unebenen Strecken und bei jeder Witterung, beträchtlich vergrößert und dem Kläger die Möglichkeit zu Unternehmungen mit dem Rollstuhl erschließt, zu denen er ohne das Hilfsmittel nicht imstande wäre.
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Aus der Sicht des Gerichts ist das begehrte Hilfsmittel auch erforderlich im Sinne von § 4 Abs. 1, § 104 Abs. 1 SGB IX, um den Bedarf des Klägers an sozialer Teilhabe unter Berücksichtigung seines Wunsch- und Wahlrechts (vgl. § 104 Abs. 2 SGB IX) sicherzustellen.
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Nach diesen Bestimmungen ist im Einzelfall jede geeignete Eingliederungsmaßnahme darauf zu untersuchen, ob sie unentbehrlich zum Erreichen der Leistungsziele ist. Maßstab für berechtigte, das heißt angemessene (vgl. § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) und den Gesetzeszwecken und -zielen entsprechende Wünsche sind die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen. Dies beurteilt sich in erster Linie nach dem Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierbei gilt ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung regelmäßig entgegensteht; die Vorstellungen des Trägers der Eingliederungshilfe sind insoweit unerheblich (BSG, a. a. O., Rn. 18).
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Davon ausgehend, entspricht das vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 02.07.2025 geäußerte Argument, es sei dem Kläger zuzumuten, sich für seine Ausflüge barrierefreie Wege zu suchen, insbesondere asphaltierte Straßen, auf denen er auch ohne zusätzliche Hilfen mit dem Rollstuhl fahren könne, nicht den gesetzlichen Vorgaben, erst recht nicht im Lichte des geltenden Verfassungsrechts, insbesondere von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, sowie Art. 30 Abs. 5 der UN-BRK. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beinhaltet einen Förderauftrag und vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Alltagsleben, wozu auch Urlaub und Freizeit rechnen. Eine Teilhabeleistung zielt nach diesem Verständnis auf den Ausgleich einer Benachteiligung wegen einer Behinderung ab, wenn andernfalls einem Menschen wegen einer Behinderung Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die anderen offenstehen (siehe BSG, a. a. O., Rn. 16). Genau darum geht es aber hier: Das streitige Hilfsmittel soll es dem Kläger ermöglichen, seine Urlaubs- und Freizeitgestaltung ähnlich frei vornehmen zu können, wie dies einem nicht behinderten Menschen möglich ist. Dies ist im Falle des Klägers ohne das Rollstuhlzuggerät nicht gegeben, ungeachtet der Tatsache, dass seine Ehefrau über einen Pkw verfügt. Denn zum einen benötigt die Ehefrau des Klägers ihren Pkw unter der Woche, um ihre Arbeitswege zurückzulegen, sodass er dem Kläger, der im Übrigen selbst kein Kfz führen kann, nicht zur Verfügung steht; zum anderen ist der Kläger auch dann, wenn er mit Hilfe des Pkws den Ort seiner Freizeitaktivitäten erreicht hat, für eine ausreichende Mobilität an diesem Ort auf das Hilfsmittel angewiesen, wie oben näher ausgeführt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Ehefrau des Klägers wegen einer eigenen Körperbehinderung nicht in der Lage ist, den Kläger im erforderlichen Maße bei seiner Mobilität zu unterstützen. Ein günstigeres, gleich geeignetes Mittel, um dem Kläger die erforderliche Mobilität zu ermöglichen, ist nicht zu erkennen.
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Die Wünsche des Klägers in Bezug auf seine Freizeitgestaltung sind schließlich auch angemessen im Sinne von § 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX. Wie oben bereits dargelegt, stehen die dafür anfallenden Kosten nicht außer Verhältnis zum individuellen Nutzen für den Kläger. Soweit der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung beklagt hat, dass die Kosten für ein Rollstuhlzuggerät auf dem regulären Beschaffungsweg um ein Vielfaches höher seien, als wenn man sich ein solches Gerät über das Internet bestelle, kann dies nicht zulasten des Klägers ins Feld geführt werden. Vielmehr wäre es ggf. die Aufgabe der politisch Verantwortlichen, geeignete Maßnahmen zur Senkung dieser Kosten zu ergreifen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG; das Klageverfahren ist gerichtskostenfrei (§ 183 SGG).