Inhalt

OLG München, Beschluss v. 18.06.2025 – 12 UF 539/25 e
Titel:

Rückführung des Kindes, Rückführungsentscheidung, Rückführung eines Kindes, Familiengerichte, Antragsgegner, Kindesanhörung, Körperliche oder seelische Schäden, Kosten des Beschwerdeverfahrens, Haager Übereinkommen, Rechtsbeschwerde, Jugendamt, Sorgerechtsentscheidungen, Beschwerdewert, Kindeswohlgefährdung, Beschwerde des Antragstellers, Kindeswillen, Internationale Kindesentführung, Getrenntleben, Rückgabe des Kindes, notarielle Vereinbarung

Schlagworte:
Kindesentführung, Rückführungsanordnung, Kindeswohlgefährdung, Kriegsgebiet, Kindeswille, Sorgerechtsstreit, Familiengericht
Vorinstanz:
AG München, Beschluss vom 27.04.2025 – 567 F 3228/25
Fundstelle:
BeckRS 2025, 19431

Tenor

1. Die Beschwerde des Kindsvaters gegen die Ablehnung des Antrags auf Rückführung der Kinder …, geb. …, und …, geb. …, wird zurückgewiesen.
2. Der Antragsteller und Kindsvater trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Der Verfahrenswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten über die Rückführung ihrer gemeinsamen Kinder …, geboren am … in … Ukraine, und …, geboren am … in … Ukraine, in die Ukraine gemäß Art. 12. Abs. 1 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (in Folgenden: HKÜ).
2
Die Eltern haben am … in … Ukraine geheiratet und bis zum 31.08.2024 zusammen mit den Kindern in … Ukraine gewohnt. Ihnen steht beiden die elterliche Sorge gemeinsam zu.
3
Am 01.04.2024 schlossen die Beteiligten nachfolgende, notariell beglaubigte Vereinbarung, die für die hier im Raum stehenden Fragen im Wesentlichen folgende Inhalte hat:
„(…) Wir, die unten unterzeichneten Eltern, Herr … und Frau …, sind bei gesundem Verstand und klarem Gedächtnis, im vollen Bewusstsein der Bedeutung unserer Handlungen und ohne jeglichen äußeren Zwang, in Übereinstimmung mit unserem eigenen Willen, erteilen hiermit unsere Genehmigung sowohl auf die vorübergehenden Ausreisen in die Türkei, nach Ägypten, nach Montenegro, nach Kanada, in die Vereinigten Staaten, nach Japan, nach China, in das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und in die Mitgliedsstaaten des Schengener Abkommens und der Europäischen Union, einschließlich nach Italien, nach Portugal, nach Zypern, nach Irland, in die Slowakei, nach Ungarn, nach Rumänien, nach Polen, nach Tschechien, nach Lettland, nach Litauen, nach Estland, nach Kroatien, nach Griechenland, nach Deutschland, nach Österreich und in die anderen Länder Europas, als auch auf den vorübergehenden Aufenthalt in diesen Ländern während der Auslandsreisen im Zeitraum vom 01.04.2024 (ersten April zweitausendvierundzwanzig) bis 01.04.2029 (ersten April zweitausendneunundzwanzig) unserer minderjährigen Kinder: …, geboren am …, und …, geboren am …, die Staatsangehörige der Ukraine sind.
Die Reisen ins Ausland von … und … werden in Begleitung eines der Elternteile gemeinsam oder getrennt voneinander durchgeführt, und jeder von uns übernimmt separat bei den Reisen die Verantwortung für das Leben und die Gesundheit von … und …, löst alle Fragen, die während ihrer Auslandsreisen auftreten können, und garantiert ihre Rückkehr in die Ukraine nach Ablauf der uns bekannten Aufenthaltsdauer im Ausland, der wir zustimmen.
Wir teilen hiermit mit, dass es keine Gründe gibt, die gemäß Artikel 6 des Gesetzes der Ukraine „Über die Ordnung für die Ausreise aus der Ukraine und die Einreise in die Ukraine von Bürgern der Ukraine“ das Recht unserer Kinder auf Reisen ins Ausland einschränken würden. Wir garantieren auch die Deckung aller Kosten (einschließlich Transport, Unterkunft, Verpflegung, medizinische Versorgung, sonstige Kosten) im Zusammenhang mit diesen Reisen.(…)“
4
Mit Schreiben vom 30.08.2024, eingegangen beim Antragsteller im September 2024, teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass sie sich von ihm trennt und bei Gericht eine Scheidungsklage eingereicht habe. Im Übrigen wird auf das Schreiben und dessen Darstellung im Beschluss des Amtsgerichts München Bezug genommen.
5
Am 01.09.2024 reiste die Antragsgegnerin zusammen mit den beiden Kindern aus dem Gebiet der Ukraine über Polen nach Deutschland aus. In Deutschland nahm sie zunächst Wohnsitz mit den Kindern in der … . Am 19.02.2025 meldete sie sich und die Kinder unter der Anschrift … an. Beide Anschriften teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller nicht mit.
6
Der Antragsteller leitete sodann ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in der Ukraine ein, in dessen Folge Umgangsregelungen in persönlicher Weise und mittels Audiobeziehungsweise Videokonferenz getroffen wurden sowie die Bekanntgabe der Wohnanschrift und des Aufenthalts der Kinder und deren Telefonnummern. Auf die Entscheidung des Gerichts für … und die Stadt … in …, Verf.Nr. 2-z/303/30/24 und Geschäftsnummer 303/7876/24 vom 28.11.2024 und das Berufungsurteil vom 04.02.2025, Geschäftsnummer 303/7876/24 wird Bezug genommen.
7
Mit Schreiben vom 18.10.2024 widerrief der Antragsteller die notariell beglaubigte Vereinbarung vom 01.04.2024. Zudem erstattete der Antragsteller eine Anzeige gegen die Antragsgegnerin wegen Entziehung Minderjähriger gemäß § 235 StGB bei der Staatsanwaltschaft Ingolstadt. Dieses Verfahren, Az. 11 Js 21048/24, wurde mit Verfügung vom 03.01.2025 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da eine Strafbarkeit nicht besteht.
8
Mit Antrag vom 19.03.2025 begehrte der Antragsteller den Erlass einer Rückführungsanordnung nach dem HKÜ. Zur Begründung wird vorgetragen, dass die Zurückhaltung der Kinder widerrechtlich im Sinne des Art. 12 Abs. 1 HKÜ sei. Zudem sei es unzutreffend, dass die gesamte Ukraine ein Kriegsgebiet sei. Dies ergebe sich bereits aus den Stellungnahmen der Militärverwaltung für … vom 07.02.2025, die Erklärung der Diözese … vom 28.03.2025, die Erklärung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche vom 26.03.2025, der Griechisch-Katholischen Diözese … vom 26.03.2025 und der Militärverwaltung der Region … vom 02.04.2025, auf die Bezug genommen wird.
9
Die Antragsgegnerin beantragte die Zurückweisung des Rückführungsantrags, da die Verbringung und der Verbleib der Kinder in Deutschland nicht widerrechtlich sei. Die notarielle Vereinbarung habe nicht einseitig widerrufen werden können. Zudem handele es sich bei der gesamten Ukraine um ein Kriegsgebiet.
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Zudem wurde noch ein Antrag auf Umgang gestellt und dieser durch einen gerichtlich genehmigten Vergleich geregelt.
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Die Verfahrensbeiständin und das Jugendamt des Landkreises … haben erstinstanzlich Stellungnahmen abgegeben.
12
Mit Beschluss vom 27.04.2025 wurde der Rückführungsantrag des Antragstellers zurückgewiesen. Das Amtsgericht München führte dabei aus, dass bereits im Verlassen des Staatsgebiets der Ukraine eine Verletzung des Mitsorgerechts des Antragstellers erfolgt sei, so dass es auf den einseitig erklärten Widerruf der Vereinbarung vom 18.10.2024 nicht ankäme. Letztlich läge nach dem zulässigen Widerruf ab dem 18.10.2024 ein unzulässiges Zurückhalten vor.
13
Das Amtsgericht München lehnte die Rückführung jedoch gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ ab, weil es davon ausging, dass die Rückführung der Kinder mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder/und seelischen Schadens verbunden sei.
14
Das gesamte Staatsgebiet der Ukraine sei als Kriegsgebiet anzusehen. Hierbei bezog sich das Amtsgericht München, unter Ablehnung der Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln vom 17.07.2023, auf die Entscheidungen des Thüringer Oberlandesgerichts vom 04.04.2023 und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 13.10.2022, die davon ausgehen, dass das gesamte Staatsgebiet der Ukraine als Kriegsgebiet anzusehen sei. Zudem nahm es Bezug auf allgemein zugängliche Quellen, wie die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes (Stand: 24.04.2024) und entsprechende Veröffentlichungen der deutschen Nachrichtenpresse.
15
Weiter wurde auf die Ausführungen der Kinder in ihrer Anhörung vom 25.04.2025 Bezug genommen und auch darauf, dass diese nicht mehr in die Ukraine zurückkehren möchten. Zudem wurde auf die Stellungnahmen des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin Bezug genommen, die sich aus Gründen des Kindeswohls gegen eine Rückführung der Kinder in die Ukraine ausgesprochen hatten.
16
Zuletzt stützte das Amtsgericht München die Entscheidung auch auf Art. 13 Abs. 2 HKÜ, da sich beide Kinder einer Rückführung widersetzt hätten, weshalb auch aus diesem Grund ihre Rückführung abzulehnen sei.
17
Auf das erstinstanzliche Vorbringen, die Protokolle und die Entscheidung wird Bezug genommen.
18
Mit Beschwerde vom 12.05.2025 beantragte der Antragsteller die Aufhebung der Entscheidung vom 27.04.2025 und die Rückführung der Kinder in die Ukraine, wie am 19.03.2025 bereits beantragt.
19
Der Antragsteller macht geltend, die Kinder seien an ihren bisherigen Wohnort, zumindest in diesen Verwaltungsbezirk (…) zurückzuführen. Dort gebe es kein Kriegsgebiet, auch kein Kriegsrecht und keine kriegsbedingten Belastungen. Es seien keine Gründe erkennbar, die eine Gefährdung des Kindeswohls erkennen ließen. Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes widersprächen dem nicht. Kriegshandlungen seien mehrere 100 km von dem ursprünglichen Aufenthaltsort der Kinder entfernt. Etwaige andere Aussagen der Kinder würden lediglich dokumentieren, dass die Kinder manipuliert würden. Raketeneinschläge und Stromausfälle habe es in der Region seit längerer Zeit nicht mehr gegeben. Zudem führten Stromausfälle nicht zu einer Kindeswohlgefährdung.
20
Die Beurteilung des Amtsgerichts München zu Art. 13 Abs. 1 lit. b) und Abs. 2 HKÜ sei unzutreffend. Zudem widerspreche der geäußerte Kindeswille nicht einer Rückführung, da dieser erkennbar manipuliert sei. Es sei gerade nicht der innerstaatliche Maßstab eines Sorgerechtsverfahrens anzusetzen, wie es die Verfahrensbeiständin und das Jugendamt in ihren Stellungnahmen getan hätten.
21
Es gehe nicht an, es bei dem Auslegungsumfang der Ausnahmevorschrift des Art. 13 Abs. 1 lit b HKÜ mit pauschalen Erwägungen zu dem Umstand, dass die gesamte Ukraine Kriegsgebiet sei, zu belassen, ohne eine konkrete Güterabwägung dazu vorzunehmen, welche Konsequenzen der Umstand der Nichtrückführung der Kinder für diese habe. Die Mutter isoliere die Kinder in Deutschland; deren Schulausbildung sei gefährdet.
22
Der Antragsteller beantragt daher, 
die Entscheidung des Amtsgerichts München vom 27.04.25 aufzuheben und, wie in der Antragsschrift vom 19.03.25 und der mündlichen Verhandlung am 25.04.25 beantragt, gemäß der Anträge zu Ziffer 1-4 mit der Maßgabe zu erkennen, dass die Kinder in die Ukraine, in den … (Verwaltungsbezirk) … zurückzuführen sind.
23
Zudem wird beantragt, für den Fall, dass das Gericht der Beschwerde nicht stattgibt, die Rechtbeschwerde zum BGH zuzulassen. Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde des Antragstellers gegen die Erstentscheidung des Amtsgerichtes München kostenpflichtig zurückzuweisen.
24
Das Erstgericht habe zutreffend darauf erkannt, dass der Rückführung der Kinder der Beteiligten in die Ukraine nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens wegen der Kampfhandlungen in der Ukraine derzeit die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ entgegenstehe. Entgegen der Ansicht des Antragstellers bestehe eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für seine Kinder auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine und daher auch am ehemaligen Wohnort der Kinder und Wohnort des Antragstellers.
25
Kriegshandlungen seien unkalkulierbar. Dementsprechend gehe die Rechtsprechung zutreffend davon aus, dass es sich bei dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine seit dem 24.02.2022 um ein Kriegsgebiet handele; auch … unterliege seit dem 24.02.2022 dem Kriegsrecht. Zudem sei es zuletzt im November 2024 zu einem Raketenabsturz unweit des Wohnortes gekommen.
26
Die Verfahrensbeiständin hat am 25.05.2025 eine Stellungnahme im Beschwerdeverfahren abgegeben, das Jugendamt, Landratsamt …, durch Frau … am 10.06.2025. Beide bleiben jeweils bei ihrer bereits in erster Instanz abgegebenen Einschätzung.
27
Der Senat hat mit Hinweisbeschluss vom 21.05.2025 darauf hingewiesen, dass die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg habe und daher zurückgenommen werden sollte. Im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
28
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.
29
1. Die Beschwerde des Antragstellers ist gemäß § 40 Abs. 2 IntFamRVG in Verbindung mit §§ 58 ff. FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgemäß (§ 40 Abs. 2 IntFamRVG) eingelegt und begründet worden.
30
2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.
31
a) Grundlage für eine Rückführungsanordnung ist das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen vom 25.10.1980 (nachfolgend HKÜ). Das HKÜ gilt sowohl für die Bundesrepublik Deutschland als auch für die Ukraine, beide Staaten sind Mitgliedsländer. Der nach Art. 1 HKÜ erforderliche Auslandsbezug ist gegeben, weil die Kinder von einem Vertragsstaat in einen anderen Vertragsstaat verbracht worden sind, der personelle Anwendungsbereich ist eröffnet, weil der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes in einem Vertragsstaat belegen ist (Ukraine) und dieses das 16. Lebensjahr nicht vollendet hat, Art. 4 Satz 2 HKÜ.
32
Das Gericht hat nach Art. 12 Abs. 1 HKÜ die sofortige Rückführung des Kindes anzuordnen, wenn die Person das Kind widerrechtlich im Sinne des Art. 3 HKÜ, nämlich gegen den Willen des anderen Elternteils und unter Verletzung seines tatsächlich ausgeübten Mitsorgerechts nach Deutschland verbracht hat oder – wie hier seit Widerruf der Zustimmung zur vorübergehenden Ausreise – dort zurückhält.
33
Die Voraussetzungen des Art. 3 HKÜ sind gegeben. Das ukrainische Recht behandelt die elterlichen Rechte gleich, unabhängig davon, ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder waren und ob sie mit dem Kind zusammen oder – wie vorliegend – getrennt leben (Art. 141 ff. FamGB der Ukraine).
34
Durch den Verbleib der Kinder in Deutschland gegen den Willen des Kindesvaters hat die Kindesmutter auch das Sorgerecht im Sinne von Art. 3 Satz 1 a) HKÜ verletzt. Dem Sorgerechtsinhaber (Antragsteller) wurde es tatsächlich unmöglich gemacht, alle oder einzelne Befugnisse oder Verpflichtungen, die sich aus dem Sorgerecht ergeben, wahrzunehmen. Der Antragsteller ist offensichtlich gewillt, seine sorgerechtlichen Befugnisse auszuüben.
35
Der Antrag auf Rückführung ist am 19.03.2025 gestellt worden, also vor Ablauf der in Art. 12 Abs. 1 HKÜ benannten Jahresfrist ab Zurückhalten des Kindes durch die Antragsgegnerin, das seit 01.09.2024 beziehungsweise spätestens seit 24.10.2024 mit dem Widerruf der Vereinbarung andauert.
36
b) Die Rückführung der Kinder ist jedoch abzulehnen, weil die (Ausnahme-)Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ vorliegen. Das Gericht ist dann nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
37
Der Senat folgt der zutreffenden und ausführlichen Begründung des Amtsgerichts – Familiengerichtes – München, wonach die aktuellen Kriegshandlungen in der Ukraine die Gefahr eines schwerwiegenden Schadens für die Kinder begründen.
38
(1) Die Ausnahmebestimmung des Art. 13 HKÜ ist grundsätzlich restriktiv auszulegen. Denn die Rückgabe des Kindes nach dem HKÜ verfolgt den Zweck, die Lebensbedingungen für das Kind zu verstetigen, eine sachnahe Sorgerechtsentscheidung am ursprünglichen Aufenthaltsort sicherzustellen und Kindesentführungen allgemein entgegenzuwirken. Deswegen rechtfertigt nicht schon jede Härte eine Anwendung der Ausnahmeklausel, vielmehr stehen nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls, die sich als besonders erheblich und aktuell darstellen, einer Rückführung entgegen (vgl. BVerfG, FamRZ 1999, 641, juris Rn. 23; Thüringer OLG, FF 2024, 373 Rn. 26).
39
Diese engen Voraussetzungen sind jedoch regelmäßig erfüllt, wenn ein Kind in ein Kriegsgebiet zurückgeschickt werden soll (vgl. OLG Hamm, FamRZ 1999, 948; Heidel/Hüßtege/Mansel/Noack/ Erb-Klünemann, BGB Allgemeiner Teil / EGBGB 4. Aufl. 2021, HKÜ Art. 13 Rn. 27; Hausmann, Internationales und europäisches Familienrecht, 3. Auflage 2024, U Rn. 242, mit Hinweis insbesondere auf die Ukraine).
40
Da die Rückführung des Kindes nicht an einen bestimmten Ort, sondern in den Staat stattfindet, müssen die durch Krieg ausgelösten Beeinträchtigungen den gesamten Staat betreffen. Dies ist vorliegend der Fall.
41
Der Senat schließt sich dem Amtsgericht – Familiengericht – München in seinem Beschluss vom 27.04.2025 an und geht auch davon aus, dass nach wie vor eine das gesamte Staatsgebiet der Ukraine betreffende, konkrete schwerwiegende Gefahr im Sinne des Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ besteht, die es im Kindesinteresse abzuwenden gilt (vgl. auch OLG Stuttgart, FamRZ 2023, 139‚ juris Rn. 41; Thüringer OLG, FF 2024, 373 Rn. 29; Thüringer OLG, FamRZ 2024, 1224 Rn. 37 ff.).
42
Folgende Reisewarnung des Auswärtigen Amtes (Stand 17.06.2025) gilt seit 22.11.2022 unverändert und führt zur „Innenpolitischen Lage“ in der Ukraine aus: Am 24. Februar 2022 haben russische Streitkräfte die Ukraine angegriffen. Unter „Aktuelles“ wird ausgeführt: „Vor Reisen in die Ukraine wird gewarnt. Deutsche Staatsangehörige sind dringend aufgefordert, das Land zu verlassen. … In der Ukraine finden Kampfhandlungen, Raketen- und Luftangriffe statt. Der Luftraum ist geschlossen. Ein- und Ausreisen ist nur auf dem Landweg möglich. In Kyjiw und anderen Orten werden bei Bedarf – auch kurzfristig – Ausgangssperren verhängt.
Die deutsche Botschaft hat den Dienstbetrieb in Kyjiw in eingeschränkter Form wiederaufgenommen. Derzeit wahrgenommene konsularische Aufgaben können der Rubrik Visa und Konsularservice der deutschen Vertretungen in der Ukraine entnommen werden. Das Generalkonsulat in Donezk (mit Sitz in Dnipro) ist weiterhin geschlossen.
Männlichen ukrainischen Staatsbürgern im Alter von 18 bis 60 Jahren ist seit der Generalmobilmachung die Ausreise aus der Ukraine verboten. Weitere Staatsangehörigkeiten der Betreffenden werden von den ukrainischen Behörden in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt.
43
Allgemein- und senatsbekannt wird seit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine am 24.02.2022 ein Abnutzungskrieg geführt. Zahlreiche Kriegsverbrechen wurden bereits dokumentiert. Bereits nach wenigen Wochen hatte der Krieg zehntausende Todesopfer gefordert, darunter auch zahlreiche Opfer aus der Zivilbevölkerung. Der Krieg hat zwischenzeitlich die größte Fluchtbewegung seit dem 2. Weltkrieg in Gang gesetzt. Ein Ende der militärischen Auseinandersetzung ist derzeit nicht absehbar. Im Hinblick auf diese – unschwer auch zahlreichen aktuellen Presseberichten zu entnehmende – gravierende Gefährdung kann die Rückführung der Kinder derzeit nicht angeordnet werden. Warnen inländische Behörden vor Reisen in das betreffende Land, bedeutet dies nicht automatisch, dass das Kind dort nicht ohne Gefahr leben könnte. Gleichwohl sieht der Senat eine umfassende Gefährdungslage auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine durch die fachliche Einschätzung zur Lage in der Ukraine bestätigt (vgl. auch OLG Stuttgart, FamRZ 2023, 139, juris Rn. 45 ff., unter Bezugnahme auf Medienberichte), die sich zum Beispiel in folgenden Berichten widerspiegelt:
„Angesichts des andauernden russischen Angriffskriegs ist die humanitäre Situation in der Ukraine bedrückend: Insgesamt sind 17,7 Millionen Menschen im Land in Not, schätzt die UN. Etwa ein Drittel der Ukrainer:innen mussten ihren Heimatort verlassen – knapp sieben Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, weitere 7,3 Millionen haben Zuflucht in den europäischen Nachbarländern gesucht. Laut ukrainischem Wirtschaftsministerium haben 5 Millionen der Binnengeflüchteten ihre Arbeit verloren. Von den Binnengeflüchteten sind knapp eine Million derzeit in Sammelunterkünften, sogenannten »Collective Centers«, untergebracht. Die UNHCR geht zudem von etwa 13 Millionen Ukrainer:innen aus, die in unsicheren Orten gestrandet sind und diese aufgrund der Sicherheitslage und zerstörten Infrastruktur, kaputten Brücken und Straßen, nicht verlassen können“ (Igor Mitchnik (Berlin) Ukraine-Analyse Nr. 274 vom 03.11.2022; https://www.laenderanalysen.de/ukraine-analysen/274/der-nahende-winter-und-gezielte-russische-angriffe-auf-die-kr itische-infrastruktur-verschaerfen-die-humanitaere-krise-in-der/).
„Zerstörte Kliniken, kein Strom, verletzte und traumatisierte Menschen, Millionen Binnenflüchtlinge – neben militärischer dürfe humanitäre Hilfe nicht vergessen werden“ (Maksym Dotsenko, Generalsekretär des Ukrainischen Roten Kreuzes, 28.01.2023; https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-rotes-kreuz-101.html).
„Der seit einem Jahr andauernde Krieg in der Ukraine ist für Millionen Familien ein endloser Albtraum. Jedes einzelne Kind in der Ukraine ist vom Krieg betroffen. Ein Jahr Krieg bedeutet für die Kinder 365 Tage Angst, Bombardierungen, zerstörte Schulen und zerrissene Familien. In vielen Regionen fehlt es weiterhin am Nötigsten: an Lebensmitteln, Medikamenten, sauberem Trinkwasser und Hygiene. Mindestens 1.280 Kinder (Stand: Ende Dezember 2022) wurden bereits bei Angriffen getötet oder verletzt. Viele Schulen und Gesundheitseinrichtungen wurden beschädigt oder zerstört. Millionen Ukrainer*innen sind auf der Flucht, darunter viele Mütter mit ihren Kindern.
Der Tod von Angehörigen und Freunden, die ständige Angst vor neuen Angriffen und der Verlust ihres gewohnten Alltags belasten viele Kinder schwer. Der Winter hat die Lage der Kinder in der Ukraine weiter verschärft: Durch gezielte Angriffe auf die Infrastruktur haben unzählige Familien keinen Strom, kein Gas oder Wasser mehr. Millionen Kinder brauchen Schutz vor den eisigen Temperaturen und die Chance, weiter zur Schule zu gehen.“ (https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/krieg-in-der-ukraine).
„Ein Jahr nach der russischen Invasion in der Ukraine sind immer noch mehr als 13 Millionen Menschen vertrieben – insgesamt knapp acht Millionen Flüchtlinge in ganz Europa und etwa fünf Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine. Ihre Aussichten auf eine baldige Rückkehr werden durch die anhaltenden Feindseligkeiten, die Unsicherheit und die Zerstörung in ihren Heimatregionen getrübt, wie aus zwei neuen Berichten hervorgeht, die heute von UNHCR, dem UN-Flüchtlingshilfswerk, veröffentlicht wurden.
'Das menschliche Leid und die Not, die der Krieg verursacht hat, sind unfassbar. Ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung musste fliehen, und die Lage bleibt unberechenbar. Wir müssen weiterhin auf die Bedürfnisse der Vertriebenen eingehen und ihre Sicherheit gewährleisten, bis sie in ihre Heimat zurückkehren können', sagte UNHCR-Europadirektorin Pascale Moreau.“
(https://www.unhcr.org/dach/de/88237-ein-jahr-nach-der-russischen-invasion-sindein-drittel-der-ukrainer-fluechtlinge-oder-binnenvertriebene.html).
44
Ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen ist derzeit nicht absehbar. Nach Einschätzung der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen etwa kann angenommen werden, dass eine neue Phase des Krieges bevorsteht. „Nach Einschätzungen sowohl aus Kyjiw, wie auch aus Moskau, stehen wir vor einer neuen Phase des Krieges, in der neueste technische Mittel eingesetzt werden. In Moskau werden Angriffe tausender fliegender Drohnen und dutzender Unterwasser-Drohnen erwartet. In der Ukraine werden Angriffe mächtiger iranischer Raketen erwartet, und neue Vorstöße russischer Panzer. Dass Moskau für das Frühjahr oder den Sommer einen Vormarsch vorbereitet, wird nicht verhohlen. Das verschleiert womöglich einen Schlag, der am Ende des Winters erfolgen könnte. […] Dieser Krieg wird lange dauern. Und wir sollten unsere Prognosen und Handlungen realistisch und langfristig und nicht auf optimistische Aussichten ausrichten“ (Nikolay Mitrokhin (Bremen) Ukraine-Analyse Nr. 279 vom 23.02.2023; https://www.laender-analysen.de/ukraineanalysen/279/unerwartete-kriegsverlaeufe/).
45
Das Amtsgericht – Familiengericht – München führt zu Recht aus: Trotz der durch Russland erklärten „Waffenruhe zu Ostern“ waren der deutschen und internationalen Presse in der jüngsten Vergangenheit beispielhaft folgende russische Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu entnehmen:
- 04.04.2025 Angriff in Krywyi mit 9 getöteten Kindern
- 13.04.2025 IAAEO stellt Beschädigungen des Schutzmantels am Atomkraftwerk Tschernobyl fest,
- 13.04.2025 Raketenangriff auf Sumy mit 30 zivilen Toten
- 16.04.2025 Angriff in Dnipro mit drei zivilen Toten, darunter 1 Kind
- 20.04.2025 Angriff in Cherson trotz angekündigter Waffenruhe Russlands
- 22.04.2025 Angriff auf einen Bus in Marhanez mit 9 zivilen Toten
- 23.04.2025 Angriff auf Kiew mit 9 zivilen Toten Ergänzend kann weiter ergänzt werden:
- 17.06.2025 Mindestens 9 Tote bei Luftangriffen auf Kiew (tagesschau.de)
(vgl. OLG Stuttgart, Beschluss v. 13.10.2022 – 17 UF 186/22 –, FamRZ 2023, 139, juris Rz. 35; OLG Thüringen, Beschluss v. 4.4.2023 – 1 UF 54/23 –, FamRZ 2024, 1224, juris Rz. 34 ff., jew. m. näherer Begründung).
46
Nach der bislang veröffentlichten Rechtsprechung der Fachgerichte (mit Ausnahme des OLG Köln, NJW 2024, 296) wird die Lage in der gesamten Ukraine so eingeschätzt, dass das gesamte Land Kriegsgebiet ist und deswegen aufgrund der Gefahr für das höchste Rechtsgut Leben des Kindes eine Rückführung eines Kindes in die Ukraine wegen Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ ausscheidet (BVerfG FamRZ 2024, 1218 Rn 30). Dem schließt sich der Senat an.
47
(2) Zudem widerspricht eine Rückführung der Kinder auch dem Kindeswillen und damit letztlich auch dem Kindeswohl. Das BVerfG hat verlangt, dass sich die Begründung einer Rückführungsentscheidung mit dem durch das Kind, den Verfahrensbeistand und das Jugendamt vermittelten Kindeswillen befassen muss, wenn diese wegen des Kriegsgeschehens und der Zerstörungen nicht in die Ukraine zurückkehren zu wollen (BVerfG, FamRZ 2024, 1218 Rn. 31).
48
Das Amtsgericht – Familiengericht – München hat sich mit dem Kindeswillen der Kinder …, geboren am …, und …, geboren am …, befasst und insoweit festgestellt, dass diese in ihrer Anhörung am 25.04.2025 selbst angegeben haben, dass es an ihrem Wohnort in der Ukraine immer wieder zu Stromausfällen gekommen ist, der Schulbetrieb durch Luftalarme täglich/oft unterbrochen wurde und sie jeweils einen Bunker aufsuchen mussten. Weiter haben sie selbst von Raketeneinschlägen in ihrer näheren Umgebung erfahren, dass es viele Flüchtlinge in ihrer Umgebung gab und dass sie auch wegen des Krieges nicht in die Ukraine zurückkehren wollen. In seiner weiteren Würdigung hat das Amtsgericht etwaige Widersprüche zu den eingereichten Darstellungen des Antragstellers gewürdigt (Seite 40 bis 42 des Beschlusses des Amtsgerichts München).
49
Der Antragsteller beruft sich lediglich darauf, dass die Kinder durch die Antragsgegnerin manipuliert worden seien. Er legt Stellungnahmen verschiedener kirchlicher Verbände und der Militärregierung vor, dass aktuell keine Kriegshandlungen in der Region des Aufenthalts des Antragstellers gegeben seien. Der Kindeswille müsse daher von der Antragsgegnerin manipuliert worden sein. Vorliegend überzeugen die Ausführungen des Antragstellers nicht, da sowohl die Verfahrensbeiständin als auch das Jugendamt einen eigenen Willen der Kinder feststellen.
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Das Jugendamt hat in seiner Stellungnahme vom 08.04.2025 ausgeführt, dass eine Kindeswohlgefährdung bei Rückführung der Kinder angenommen wird (Bl. 54 d.A. Amtsgericht München).
51
Die Verfahrensbeiständin hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Kinder … und … einen stabilen, autonom gebildeten, zielorientierten sowie intensiven Kindeswillen geschildert haben. Den Fokus stellte dabei je nach Setting die persönliche Emotionslage von … und …, das Verhältnis zu ihrem Vater sowie in der gerichtlichen Kindesanhörung die derzeitigen politischen Unruhen. Das problematische Verhältnis zum Vater wurde auch vom Jugendamt bestätigt.
52
Die Verfahrensbeiständin führt zudem aus, dass sich die Kinder … und … in diversen Settings diversen Fachkräften gegenüber geäußert haben, dass sie sich aktiv gegen eine mögliche Rückführung wehren und sprachen offen über ihre Ängste davor, was ihnen mitnichten leichtgefallen ist. Mit zehn und zwölf Jahren sind beide Kinder schlichtweg zu alt, als dass ihr Wille übergangen werden könne, ohne kindeswohlgefährdende Folgen in Kauf zu nehmen.
53
In der gerichtlichen Kindesanhörung vor dem Amtsgericht München haben sich beide Kinder eindeutig gegen eine Rückkehr in die Ukraine ausgesprochen. Dieser Kindeswille ist auch im Rahmen der Abwägung des Art. 13 Abs. 1 lit b) HKÜ zu beachten (BVerfG, FamRZ 2024, 1218 Rn. 31).
54
Darauf, ob ein sich widersetzen der Kinder im Sinne von Art. 13 Abs. 2 HKÜ vorliegt, wie vom Amtsgericht – Familiengericht – München in seiner Entscheidung angenommen, kommt es somit letztlich nicht an.
III.
55
Von einer nochmaligen Erörterung der Angelegenheit mit den Beteiligten in einem Termin sieht der Senat § 14 Nr. 2 IntFamRVG, § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG ab, da hiervon keine zusätzlichen entscheidungserheblichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Das Familiengericht hat sich einen persönlichen Eindruck von den beiden Kindern verschafft, so dass von einer Wiederholung der Kindesanhörung abgesehen werden kann. Auch dem Antragsteller ist umfänglich die Gelegenheit eingeräumt worden, seine Sichtweise darzulegen. Hiervon hat er mit seinen drei Schreiben vom 12.05.2025, 30.05.2025 und 03.06.2025 Gebrauch gemacht hat. Eine zwingende persönliche Anhörung sieht das Gesetz nicht vor; § 26 Abs. 1 IntFamRVG.
IV.
56
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus §§ 26 Abs. 4, 20 Abs. 3 Satz 2, Abs. 2 IntFamRVG, § 81 FamFG. Die Entscheidung berücksichtigt die Wertung des § 84 FamFG, nach dem der Beteiligte die Kosten eines ohne Erfolg bleibenden Rechtsmittels trägt, der es eingelegt hat.
57
Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus einer analogen Anwendung des § 45 Abs. 1
58
FamGKG (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 19.02.2019 – 2 UF 6/19 –, juris Rn. 74; OLG Hamm, Beschluss vom 04.06.2013 – 11 UF 95/13 –, juris Rn. 64).
V.
59
Nach § 40 Abs. 2 Satz 4 IntFamRVG findet die Rechtsbeschwerde gegen den vorliegenden Beschluss nicht statt.