Titel:
Asylverfahren, Folgeantrag, Herkunftsland Brasilien
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
AsylG § 71
GG Art. 16a Abs. 1
AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2, §§ 3 ff.
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7 S. 1
Leitsatz:
Ein erheblicher Grund für eine Vertagung im Asylprozess liegt nicht vor, wenn ein anwaltlich vertretener Verfahrensbeteiligter wegen Krankheit verhindert ist, selbst an der Verhandlung teilzunehmen, sofern der Prozessbevollmächtigte anwesend ist. (Rn. 15)
Schlagworte:
Asylverfahren, Folgeantrag, Herkunftsland Brasilien
Fundstelle:
BeckRS 2025, 18899
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Klägerinnen sind brasilianische Staatsangehörige. Sie reisten nach Aktenlage (erstmalig) am ... August 2021 in die Bundesrepublik ein und stellten am 8. Oktober 2021 Asylanträge. Diese sowie den Asylantrag eines zwischenzeitlich volljährigen Sohnes der Klägerin zu 1. hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) nach Anhörung am 24. November 2021 mit seit 2. Februar 2022 bestandskräftigem Bescheid vom 11. Januar 2022 abgelehnt und ihnen die Abschiebung nach Brasilien angedroht.
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Nach ihrem Vortrag im gerichtlichen Verfahren reisten die Klägerinnen etwa Mitte 2024 nach Brasilien aus und kehrten zirka vier Monate später in die Bundesrepublik zurück. Am 18. November 2024 stellten die Klägerinnen einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 19. März 2025, zugestellt am 26. März 2025, hat das Bundesamt die Folgeanträge als unzulässig abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids) und auch den Anträgen auf Abänderung des Bescheides vom 11. Januar 2022 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Nr. 2 des Bescheids) den Erfolg versagt.
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Die Klägerinnen haben am 1. April 2025 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben. Sie lassen zuletzt beantragen,
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die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 19. März 2025 zu verpflichten, die Klägerinnen als Asylberechtigte im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG anzuerkennen und ihnen die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,
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die Beklagte zu verpflichten, den Klägerinnen subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
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die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte übersandte die Akten und beantragte mit Schreiben vom 7. April 2025,
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Ein ebenso am 1. April 2025 gestellter Antrag der Klägerinnen auf einstweiligen Rechtsschutz (M 31 S 25.31171) wurde mit Beschluss vom 8. April 2025 abgelehnt. Mit Beschluss vom 6. Mai 2025 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, ein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 7. Mai 2025 abgelehnt.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten im Eil- und Hauptsacheverfahren sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Das Gericht konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. Juni 2025 auch ohne Anwesenheit der Beklagten, die mit Schreiben vom 7. April 2025 auf Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet hat, entscheiden. In der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO.
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Es bestand auch kein Anlass zu einer Aufhebung oder Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung aufgrund einer Verhinderung der anwaltlich vertretenen Klägerin zu 1. Am Tag vor der mündlichen Verhandlung – dem 11. Juni 2025 – wurde zunächst direkt durch das Klinikum I. mitgeteilt, dass sich die Klägerin zu 1. seit 5. Juni 2025 in stationär psychiatrischer Behandlung befinde und daher nicht in der Lage sei, der Ladung zur mündlichen Verhandlung zu folgen. Diese Bestätigung wurde am gleichen Tag dem Gericht auch durch den Klägerbevollmächtigten übermittelt, verbunden mit einem Antrag, den Termin vom 12. Juni 2025 aufzuheben.
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Diesem Antrag war nicht nachzukommen. Auch im Asylprozess ist ein erheblicher Grund für eine Vertagung nicht bereits dann anzunehmen, wenn ein anwaltlich vertretener Verfahrensbeteiligter wegen Krankheit oder aus anderen persönlichen Gründen verhindert ist, selbst an der Verhandlung teilzunehmen. Hat der Beteiligte – wie hier die Klägerin zu 1 – einen Prozessbevollmächtigten‚ der ihn im Termin vertreten kann‚ ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör regelmäßig genügt‚ wenn dieser an der mündlichen Verhandlung teilnehmen kann. Insbesondere verlangt Art. 103 Abs. 1 GG nicht‚ dem Beteiligten neben seinem Anwalt die Möglichkeit zu persönlichen Erklärungen zu geben. Die Prozessordnung sieht auch im Asylrechtsstreit keinen generellen Anspruch des anwaltlich vertretenen Klägers auf eine persönliche Anhörung vor (BVerwG, B.v. 4.2.2002 – 1 B 313/01 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 6.6.2018 – 15 ZB 18.31230 – juris Rn. 17; aktuell z.B. BayVGH, B.v. 5.5.2025 – 22 ZB 24.727 – juris Rn. 13; OVG NRW, B.v. 2.5.2025 – 19 A 1534/24.A – juris Rn. 22).
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Etwas anderes ergibt sich nur dann, wenn besondere Gründe substantiiert vorgetragen werden, die die persönliche Anwesenheit eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zur Aufklärung des Sachverhalts oder zur effektiven Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung als erforderlich erscheinen lassen (vgl. BVerwG, U.v. 30.9.1982 – 9 C 1.91 – juris Rn. 12). Dies gilt auch im Asylprozess. Dabei ist nach den Umständen des Einzelfalles zu prüfen, ob der Beteiligte, der verhindert ist, selbst an der Verhandlung teilzunehmen, in seinen Möglichkeiten beschränkt würde, sich in dem der Sache nach gebotenen Umfang zu äußern. Wenn ein Kläger sein persönliches Erscheinen vor Gericht trotz anwaltlicher Vertretung für unerlässlich hält, bedarf es der substantiierten Darlegung, aus welchen Gründen die entsprechenden tatsächlichen Aspekte bzw. Umstände nicht vom Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten vorgetragen werden können (vgl. zusammenfassend m.w.N. aktuell OVG NRW, B.v. 2.5.2025 – 19 A 1534/24.A – juris Rn. 22 ff.).
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Solche besonderen Umstände, die es geboten erscheinen lassen, die mündliche Verhandlung vom 12. Juni 2025 nur in Anwesenheit der Klägerin (zu 1.) durchzuführen, sind nicht ersichtlich. Weder der Verlegungsantrag des Klägerbevollmächtigten vom 11. Juni 2025 enthielt zur Notwendigkeit einer solchen Verfahrensgestaltung Angaben noch erfolgten seitens des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung dahingehende Ausführungen. Dies genügt nicht, um das Vorliegen besonderer Umstände, die eine persönliche Anwesenheit der Klägerin gebieten würden, annehmen zu können; solche sind auch im Übrigen nicht ersichtlich. Das bloße Anwesenheitsinteresse der Klägerin zu 1. ist durch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör gerade nicht geschützt (vgl. BVerwG, B.v. 31.5.1990 – 7 CB 31.89 – juris Rn. 9).
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2. Die Klage ist teilweise bereits unzulässig.
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Die Klage ist unzulässig, soweit ein Verpflichtungsantrag auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder (hilfsweise) des subsidiären Schutzstatus gestellt wird; dieser Antrag ist nicht statthaft.
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Statthaft gegen die Unzulässigkeitsentscheidung im streitgegenständlichen Bescheid vom 19. März 2025, mit der der Folgeantrag der Klägerinnen abgelehnt wird, ist lediglich die Anfechtungsklage. Im Fall der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung hätte das Bundesamt eine Sachentscheidung über den Asylantrag des Klägers zu treffen (BVerwG, U.v. 15.11.2023 – 1 C 7.22 – juris Rn. 9; U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 16 ff.). Auch und gerade in Ansehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, U.v. 8.2.2024 – C-216/22 – juris Rn. 55 ff.) gilt nichts anderes (hierzu eingehend und aktuell VG Sigmaringen, U.v. 21.2.2025 – A 13 K 189/24 – juris Rn. 35 ff.).
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Daneben ist die Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen, bzw. die Ablehnung der Anträge auf entsprechende Abänderung des Bescheids vom 11. Januar 2022, weiterhin (hilfsweise) durch eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage zur verwaltungsgerichtlichen Prüfung zu stellen. Denn insoweit hat sich das Bundesamt nach § 31 Abs. 3 AsylG sachlich mit dem Schutzbegehren zu befassen (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 20).
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3. Soweit die Klage zulässig ist (Anfechtungsklage, hilfsweise Verpflichtungsklage hinsichtlich des Bestehens von Abschiebungsverboten), ist sie nicht begründet. Der angefochtene Bescheid vom 19. März 2025 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) als rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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a) Das Bundesamt hat den Folgeantrag der Antragstellerinnen zu Recht als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG abgelehnt.
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aa) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist der Asylantrag unzulässig, wenn im Fall eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG bestimmt, dass bei erneuter Antragstellung nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen, oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind und der Ausländer ohne eigenes Verschulden außerstande war, die Gründe für den Folgeantrag im früheren Asylverfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
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Elemente und Erkenntnisse im Sinne von § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG sind Tatsachen und Umstände, die insbesondere zur Begründung des Folgeantrags vom Ausländer vorgebracht werden (BT-Drs. 20/9463, S. 59). Zu den maßgeblichen Elementen zählen der Vortrag des Ausländers und alle ihm zur Verfügung stehenden einschlägigen Unterlagen oder andere Nachweise über sein Alter, seinen Lebenshintergrund und den seiner Familienangehörigen, seine Identität, seine Staatsangehörigkeit, den Ort des vorhergehenden Aufenthalts und des Wohnsitzes, frühere Asylanträge, Reiserouten, Reisedokumente sowie Gründe für den Asylantrag. Erkenntnisse sind Informationen zu der persönlichen Situation oder der Situation im Herkunftsland (vgl. BT-Drs. aaO).
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Allein das Vorliegen neuer Elemente und Erkenntnisse genügt jedoch nicht, damit ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn die neuen Elemente und Erkenntnisse auch den Schluss zulassen, dass diese mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen (BT-Drs. aaO). Für eine „erhebliche Wahrscheinlichkeit“ im Sinn des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG reicht aus, dass die neuen Elemente und Erkenntnisse für die Beurteilung der Begründetheit eines Folgeantrags relevant sind bzw. maßgeblich erscheinen und deshalb die Möglichkeit einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung besteht. Hingegen ist nicht erforderlich, dass vieles oder gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine günstigere Entscheidung spricht (BayVGH, B.v. 24.7.2024 – 13a ZB 24.30535 – juris Rn. 17).
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Dabei genügt die pauschale Behauptung einer Änderung der Sachlage nicht. Vielmehr bedarf es eines schlüssigen und substantiierten Vortrags, aus dem sich eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zum Sachverhalt im früheren Asylverfahrens tatsächlich ergibt (SächsOVG, U.v. 15.3.2022 – 4 A 506/19.A – juris Rn. 25). Dies erfordert wiederum eine substantiierte Darlegung entsprechender Tatsachen (vgl. BVerwG, U.v. 25.6.1991 – 9 C 33.90 – juris Rn. 13). Schließlich muss die Änderung der Sachlage für den im früheren Asylverfahren ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserhebliche Voraussetzungen betreffen, so dass diese Änderung im Asylfolgeverfahren eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder zumindest ermöglicht (vgl. BVerwG, U.v. 10.10.2018 – 1 C 26.17 – juris Rn. 18 m.w.N.). Hierbei liegen die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens insbesondere dann nicht vor, wenn das Vorbringen im Verwaltungsverfahren pauschal und substanzlos ist (VG Ansbach, U.v. 11.5.2016 – AN 3 K 16.30256 – juris Rn. 24; VG Münster, B.v. 12.4.2000 – 7 L 414/00.A – juris Orientierungssatz 3). Ein solcher Vortrag ist nicht geeignet, die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Folgeantrags in Frage zu stellen (VG München, B.v. 31.5.2016 – M 11 S 16.31098 – juris Rn. 23).
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bb) Daran gemessen liegen keine neuen Elemente und Erkenntnisse vor, die zu einer für die Klägerinnen günstigeren Entscheidung beitragen könnten.
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Der Vortrag der Klägerin zu 1. im Folgeverfahren erschöpfte sich vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids vom 19. März 2025 in einem pauschalen und unbelegten Verweis auf Probleme ihres Sohnes mit der Polizei wegen Drogen. Im gerichtlichen Verfahren lässt sich nur mittelbar einer fachärztlich psychiatrischen Begutachtung sowie aus einer von dritter Seite – einer Asylberatungsstelle – erfolgten Einsendung weiteres Vorbringen der Klägerin zu 1. entnehmen.
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Danach vertieft sie zunächst das bereits im Erstverfahren Vorgetragene, wonach Grund für den 2021 gestellten Asylantrag ein Konflikt ihres älteren Sohnes mit der Mafia wegen Geldschulden gewesen sei, in dessen Zuge sie und ihre Kinder bedroht worden seien. Im Einzelnen über den Vortrag im Erstverfahren hinausgehend sei insbesondere ihr jüngerer Sohn mit der Pistole am Kopf bedroht worden, ferner sei die Klägerin zu 1. auf die Straße gelockt und angeschossen worden. Im Rahmen der fachärztlich psychiatirischen Begutachtung wurde festgestellt, dass die Klägerin auf der linken Brust eine Narbe trage, die, „soweit beurteilbar“ wie eine Schusswunde aussehe (S. 6 des Gutachtens vom 21.5.2025).
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Nach Abschluss des Erstverfahrens sei sie nach Brasilien ausgereist und habe sich drei bis vier Monate bei ihrer Großmutter versteckt. Eine Erkrankung ihrer Tochter, der Klägerin zu 2., habe einen Krankenhausbesuch notwendig gemacht, bei dem sie ein Cousin begleitet habe. Dieser sei vor dem Krankenhaus durch eine unbekannte Frau auf die Klägerinnen angesprochen worden und habe sie (die Klägerinnen) dabei identifiziert. Drei Tage später sei ihr Cousin in einem Park vor seinem Haus erschossen worden. Die Tat sei durch zwei Männer ausgeführt worden, die mit dem Motorrad erschienen. Einer habe auf dem Motorrad gewartet, der andere sei abgestiegen und habe den Cousin erschossen. Der Klägerin zu 1. lägen hierzu Videos von Überwachungskameras vor. Ihre Tante – wohl die Mutter des Ermordeten – sei danach angerufen worden und es sei nach den Klägerinnen gefragt worden. Der Mörder sei durch die Polizei ermittelt, indes aufgrund seiner Minderjährigkeit nicht belangt worden. Die Klägerin zu 1. geht – wie auch durch den Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung bestätigt – davon aus, dass ihr Cousin erschossen wurde, weil er ihren Aufenthaltsort nicht preisgeben wollte. Die unmittelbar am folgenden Tag stattfindende Beerdigung des Cousins habe die Klägerin zu 1. aus Sicherheitsgründen aus einem Auto mit verdunkelten Scheiben verfolgt. Nach einer weiteren Zeit, in der die Klägerinnen bei Bekannten versteckt gelebt haben, seien sie erneut nach Deutschland geflüchtet.
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Im Rahmen der fachärztlich psychiatrischen Begutachtung wird zu der Darstellung ausgeführt, dass der auffallend abweichende, detailarme bis nahezu fast fehlende Vortrag unmittelbar durch Klägerin zu 1. im Rahmen des Verfahrens beim Bundesamt auf ein Vermeidungsverhalten der Klägerin zu 1. und damit letztlich auf ihre psychiatrische Erkrankung zurückgehe.
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Es kann zunächst offen bleiben, inwieweit das hier nahezu ausschließlich erst im gerichtlichen Verfahren erfolgte – und zudem nur mittelbar über Dritte eingereichte und aus einer fachärztlich psychiatrischen Begutachtung zu entnehmende – Vorbringen der Klägerin zu 1. insgesamt bzw. dem Grunde nach zu berücksichtigen ist. Gemäß § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylG hat der Ausländer in dem Folgeantrag u.a. die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ergibt. In einer zeitlichen Dimension wirft dies die Frage auf, inwieweit die – nahezu ausschließliche – Geltendmachung der Tatsachen erst im gerichtlichen Verfahren mit den vorgenannten gesetzlichen Anforderungen in Einklang zu bringen ist (in diese Richtung möglicherweise Dickten, in: BeckOK AuslR, 44. Ed. 1.10.2024, § 71 AsylG Rn. 15: „müssen schon im Antrag selbst abschließend und substantiiert dargetan werden“). Hierzu steht freilich § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG in einem Spannungsfeld, wonach das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abstellt. Darum wird gleichwohl von diesem Zeitpunkt als dem entscheidenden für das Vorliegen der neuen Sachlage i.S.d. § 71 Abs. 1 AsylG ausgegangen (so ausdrücklich Camerer, in: BeckOK MigR, 21. Ed. 1.5.2025, § 71 AsylG Rn. 14 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 16.3.2000 – A 14 S 2443/98 – juris Rn. 24).
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Dem braucht indes nicht weiter nachgegangen werden. Denn zunächst handelt es sich bei dem Vortrag im gerichtlichen Verfahren zur Überzeugung des Gerichts nicht um einen glaubhaften, schlüssigen und substantiierten Vortrag, aus dem eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zum Sachverhalt im früheren Asylverfahren folgt. So bleiben Anlass und Hintergrund der vorgetragenen Verfolgung durch „die Drogenmafia“ sehr allgemein. Als wesentliche Erläuterung dieser Bedrohung wird eine frühere Tätigkeit des älteren Sohnes der Klägerin zu 1. bei der Drogenmafia genannt, wobei diese kriminelle Organisation nie näher beschrieben, identifiziert oder eingeordnet wird, so dass der Darstellung bereits generell und gerade vor dem Hintergrund der in Brasilien durchaus verbreiteten organisierten Kriminalität eine gewisse Beliebigkeit anhaftet. Zudem ist der Ausgangspunkt der in dieser Hinsicht nicht weiter erläuterten Darstellung der Klägerin zur 1., wonach sie aufgrund der Handlungen ihres älteren Sohnes von einer kriminellen Organisation bedroht und verfolgt werde, nach der Erkenntnismittellage in diesem Zusammenhang ohne nähere Hintergründe nicht plausibel. Danach werden Familienmitglieder von durch organisierte kriminelle Gruppen bedrohten Personen im allgemeinen gerade nicht auch zum Ziel einer Verfolgung (ausdrücklich und aktuell Home Office UK, Country Policy an Information Note, Brazil: Organised criminal groups, März 2025, S. 8 und 57). Die im Rahmen des Folgeverfahrens nunmehr bei Gericht eingegangenen Einzelheiten, wonach nach Rückkehr der Klägerinnen nach Brasilien in 2024 der Cousin der Klägerin zu 1. erschossen worden sei, erscheinen auch vor diesem Hintergrund kaum lebensnah. Selbst das Ereignis als solches unterstellt – wobei in dem fachärztlich psychiatrischen Gutachten darauf hingewiesen wird, dass zu der Echtheit der im Rahmen der Begutachtung durch die Klägerin zu 1. vorgelegten Fotos und Kameraaufnahmen keine Aussage getroffen werden könne – ist ein Zusammenhang mit der vorgebrachten Bedrohung der Klägerinnen kaum nachzuvollziehen und zur Überzeugung des Gerichts nicht glaubhaft. Dass der Cousin (nur) deshalb erschossen worden sei, weil er den Aufenthaltsort der Klägerinnen nicht habe preisgeben wollen, erscheint auch vor dem Hintergrund der vorgenannten Erkenntnismittel zur Frage der Bedrohung von Familienangehörigen kaum plausibel, zumal es sich dabei ausdrücklich lediglich um eine Vermutung der Klägerin zu 1. handelt (vgl. Einsendung der C. Asylverfahrensberatung vom 23.5.2025, S. 4, bei der Gerichtsakte). Die weiter seitens der Klägerin zu 1. gegenüber der C. Asylverfahrensberatung dargestellten Details, wie etwa ihre Teilnahme an der Beerdigung des Cousins in einem „Auto mit verdunkelten Scheiben“ aus Sicherheitsgründen oder die wiedergegebenen Sprachnachrichten der Drogenmafia („Wenn die Söhne etwas falsch machen, müssen die Mütter zahlen.“, Einsendung vom 20.5.2025, S. 4) wirken gesteigert, vom asyltaktischen Bemühen geprägt, eine Bedrohungssituation darzustellen und damit unglaubhaft.
35
Unabhängig davon und selbst unter Zugrundelegung des erst im gerichtlichen Verfahren und nur mittelbar bekannt gewordenen Vortrags rechtfertigt dieser nicht im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Denn zunächst handelt es sich weder qualitativ noch in der Intensität um neue Elemente im Sinne der genannten Vorschrift. Im Kern macht die Klägerin zu 1. in ihrem Vortrag wie bereits im Zusammenhang ihres Erstantrags eine Verfolgung durch eine kriminelle Bande oder Organisation („Mafia“) geltend, die letztlich auf Geldschulden ihres älteren Sohnes zurückgehe. Dabei handelt es sich letztlich nach ihrem eigenen Vortrag um die Fortsetzung der bereits in ihrem Erstantrag geltend gemachten Bedrohung. Auch eine Veränderung oder Steigerung der Intensität dieser Bedrohung ist – erneut nach eigenem Vortrag der Klägerin – nicht festzustellen. So wurde bereits im Rahmen des Erstantrags eine Bedrohung der Klägerinnen mit Waffengewalt vorgetragen (vgl. Anhörungsniederschrift vom 24. November 2021, S. 7), nach der nunmehr im gerichtlichen Verfahren übermittelten Einlassung der Klägerin zu 1. (Schreiben der C. Asylverfahrensberatung vom 23. Mai 2025 bei der Gerichtsakte) sei sie selbst nach ihrer Rückkehr nach Brasilien wohl nicht mehr bedroht, allerdings ihr Cousin erschossen worden.
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Daneben und weiter unabhängig davon tragen diese Elemente nicht mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung bei. Es fehlt jedenfalls bereits im Sinne der oben ausgeführten Rechtsprechung zu § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG an einer Relevanz für die Beurteilung der Begründetheit eines Folgeantrags. Denn selbst im Falle einer Wahrunterstellung der wesentlichen Angaben der Klägerin zu 1. würde daraus kein Verfolgungsgrund resultieren, da es sich allein um kriminelles Unrecht handelte, das von privater Seite gegen sie begangen worden wäre und keine Anknüpfung an die für die Flüchtlingseigenschaft oder Asylberechtigung maßgeblichen Merkmale i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG bzw. Art. 16a Abs. 1 GG erkennen lässt. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Verfolgung durch einen gemäß § 3c AsylG relevanten Akteur zu befürchten wäre. Es besteht zur Überzeugung des Gerichts auf Grundlage der aktuellen Auskunftslage in Brasilien keine Situation im Sinne des § 3c Nr. 2 AsylG, wonach Parteien oder Organisationen den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen. Auch wenn organisierte Kriminalität ein landesweites Phänomen ist, so erreicht diese aber nicht ein solches Niveau, dass davon auszugehen wäre, dass der brasilianische Staat seine hoheitlichen, insbesondere exekutiven Eingriffsmöglichkeiten in einem so wesentlichen Umfang und Ausmaß verloren hätte, dass von einem flüchtlingsrechtlich maßgeblichen staatlichen Beherrschungsverlust auszugehen wäre. Gerade nach dem eigenen Vortrag der Klägerin zu 1. wurde im Übrigen der Täter des vorgetragenen tödlichen Anschlags auf ihren Cousin durch die Polizei ermittelt. Den vorliegenden Erkenntnismitteln ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass Sicherheitsbehörden generell nichts willens oder unfähig seien, einen zumindest (gerade noch) ausreichenden Schutz der Bürger vor kriminellen Übergriffen zu garantieren (vgl. Home Office; Country Policy and Information Note Brazil: Organised criminal groups, Stand: März 2025, S. 4).
37
Mithin geht die Beklagte zutreffend davon aus, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist, sodass sich der streitgegenständliche Bescheid insoweit im Ergebnis als rechtmäßig erweist.
38
b) Die Klägerinnen haben auch keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG.
39
aa) Nach § 31 Abs. 3 Satz 1, § 24 Abs. 2 AsylG hat das Bundesamt auch in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge – wie hier – festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Nach § 31 Abs. 3 Satz 3 AsylG kann von der Feststellung nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG abgesehen werden, wenn das Bundesamt in einem früheren Verfahren über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG entschieden hat – wie hier – und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des VwVfG nicht vorliegen. Davon geht das Bundesamt vorliegend aus und hiergegen ist dem Ergebnis nach nichts zu erinnern, zumal das Bundesamt auch geprüft und festgestellt hat, dass ein Wiederaufgreifen bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG im weiteren Sinn nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48 oder 49 VwVfG nicht in Betracht kommt. An der Rechtmäßigkeit der hierin zum Ausdruck kommenden Feststellung des Bundesamts, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (nach wie vor) nicht vorliegen, bestehen im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts auf der Grundlage des Vorbringens der Klägerinnen, der sich sonst aus den Akten ergebenden Sachlage und nach Auskunftslage keine Zweifel.
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bb) Im Hinblick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass die Lage des Betroffenen und seine Lebensumstände im Fall einer Aufenthaltsbeendigung erheblich beeinträchtigt würden, allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, U.v. 27.5.2008 – 26565/05 – NVwZ 2008, 1334; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris; B.v. 25.10.2012 – 10 B 16/12 – juris). Unabhängig davon, in welchen Fällen existenzbedrohende Armut im Sinne von Art. 3 EMRK relevant sein kann, liegen Anhaltspunkte hierfür nicht vor. Die Klägerin zu 1. ist volljährig und jedenfalls im Allgemeinen arbeitsfähig. Hinweise darauf, dass die Klägerin zu 1. nach ihrer Rückkehr – allein oder gegebenenfalls mit familiärer Unterstützung, namentlich durch die im Heimatland lebende Familie – nicht in der Lage sein wird, das Existenzminimum für sich und die Klägerin zu 2. zu sichern, sind auch im Übrigen nicht ersichtlich.
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cc) Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Danach soll von einer Abschiebung abgesehen werden, wenn im Zielstaat für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
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Bei den in Brasilien vorherrschenden Lebensbedingungen handelt es sich um eine Situation, der die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist, weshalb Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausschließlich durch eine generelle Regelung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt wird. Eine extreme Gefährdungslage, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausnahmsweise dann nicht greift (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris), wenn ein Einzelner gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, liegt nach dem vorstehend Ausgeführten nicht vor.
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Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG), wenn also die Gefahr einer wesentlichen Verschlimmerung der Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für dessen Leib oder Leben führt (vgl. BVerwG, B.v. 12.7.2016 – 1 B 84.16 – juris Rn. 4 m.w.N.; BayVGH, B.v. 20.10.2021 – 9 ZB 21.31227 – juris Rn. 6). An die Gefahrenprognose hinsichtlich der Erheblichkeit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist der Maßstab der hohen Wahrscheinlichkeit anzulegen, der dann erfüllt ist, wenn der Ausländer bei einer Rückkehr in den Abschiebungszielstaat einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42/18 – juris Rn. 13 m.w.N.), aufgrund der er gewissermaßen sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11 m.w.N.). Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert‚ weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist, § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch dann vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG).
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Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kann sich trotz an sich im Heimatland verfügbarer medikamentöser oder ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib oder Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar grundsätzlich zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. insgesamt hierzu: BVerwG, U. v. 22.3.2012 – 1 C 3/11 – juris Rn. 34; U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris Rn. 13 ff.; B.v. 24.5.2006 – 1 B 118/05 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 20.10.2021 – 9 ZB 21.31227 – juris Rn. 6; B.v. 19.3.2019 – 10 ZB 18.33190 – juris Rn. 10; U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris Rn. 15; B.v. 24.8.2010 – 11 B 08.30320 – juris Rn. 26).
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Im Falle einer Erkrankung ist die konkrete Gefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG mittels einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung glaubhaft zu machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände enthalten, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben.
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Dies zugrunde gelegt liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung alsbald wesentlich verschlechtern würde. Insbesondere das seitens des Klägerbevollmächtigten vorgelegte fachärztlich psychiatrische Gutachten vom 21. Mai 2025 lässt keinen abschließenden Schluss hierauf zu.
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Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin zu 1. zwei schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen vorliegen, namentlich eine schwere depressive Episode sowie eine posttraumatische Belastungsstörung. Festgestellt wird zusammenfassend, dass eine Rückführung nach Brasilien mit einer erheblichen dauerhaften Gefährdung des Gesundheitszustandes durch Retraumatisierung und damit Zunahme der Suizidalität verbunden wäre (S. 18 des Gutachtens). Das Gutachten genügt nur zum Teil, insbesondere hinsichtlich der Grundlage und Methodik der fachlichen Beurteilung im Allgemeinen den gesetzlichen Mindestanforderungen (§§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG), zumal sich auch im Einzelnen Schreib- oder Übertragungsfehler sowie inhaltliche Unstimmigkeiten zeigen. So wird bei der Feststellung der posttraumatischen Symptomatik nach DSM V ersichtlich sachverhaltsfremd von „Hinweisreizen wie schon alleine die serbokroatische Sprache“ (S. 13 des Gutachtens) gesprochen. Weiter stimmt die in der abschließenden Beurteilung getroffene Aussage, die Klägerin zu 1. habe „über viele Jahre keinerlei spezifische psychotherapeutische Unterstützung“ erhalten, nicht mit dem Vortrag der Klägerin überein, die im Erstantragsverfahren bei ihrer Anhörung angab, sie sei (in Brasilien) in psychologischer Behandlung gewesen (Anhörungsniederschrift vom 24.11.2021, S. 4).
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Jedenfalls gibt das Gutachten allenfalls ansatzweise Auskunft darüber, auf welche Art der Behandlung die Klägerin konkret angewiesen ist, insbesondere welcher psychotherapeutische bzw. psychiatrische Behandlungsbedarf und ggf. welche medikamentöse Behandlung künftig erforderlich ist, letzteres zumal das Gutachten selbst die aktuelle Medikation der Klägerin zu 1. im Einzelnen erhebt (S. 8 des Gutachtens). Ausgeführt wird lediglich, die Erkrankungen benötigten „dringend einer fachspezifischen Behandlung“, zu Beginn stationärer Art und von ausreichender Dauer in eine für die Klägerin zu 1. als ausreichend sicher empfundenen Umgebung (S. 18 f. des Gutachtens), die örtlich durch das Gutachten allerdings nicht näher eingegrenzt ist.
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Ferner ist die Feststellung insbesondere mit Blick auf die Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Rückführung „nach Brasilien“ allzu pauschal, unklar bleibt insbesondere, inwieweit diese Gefahr jeden Ort innerhalb des Herkunftslandes betrifft. Mithin lässt sich auf dieser Grundlage nicht feststellen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die festgestellte Gefahr einer Retraumatisierung örtlich bezogen ist oder nicht (vgl. zur entsprechenden Differenzierung OVG LSA, U.v. 27.2.2020 – 2 L 16/18 – juris Rn. 25 f.).
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Daneben lassen die Schlussfolgerungen des fachärztlich psychiatrischen Gutachtens vom 21. Mai 2025 auch maßgebliche Umstände des (vorgetragenen) Geschehensablaufs außer Betracht. Zwar gibt es für medizinische Fachfragen (Diagnose von Art und Schwere der Erkrankung, Einschätzung des Krankheitsverlaufs bzw. der gesundheitlichen Folgen je nach Behandlungssowie Therapiemöglichkeiten im Heimatland) keine eigene, durch entsprechenden medizinischen Sachverstand vermittelte Sachkunde des Richters (BVerwG, B.v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 – juris Rn. 4; aktuell etwa BayVGH, B.v. 12.9.2023 – 23 ZB 23.30669 – juris Rn. 27). Festzustellen ist indes, dass im Rahmen der abschließenden Stellungnahme des Gutachtens eine Auseinandersetzung mit dem – erneut durch das Gutachten in der Anamnese selbst erhobenen – Umstand fehlt, dass die Klägerin im Jahr 2024 und damit jedenfalls zum Teil nach den die posttraumatische Symptomatik auslösenden Ereignissen wie die vorgebrachte „Bedrohung durch die Mafia in Wort und Tat“ (S. 12 des Gutachtens) für mehrere Monate nach Brasilien ausgereist ist. Die gutachterlich getroffene Feststellung, dass eine Rückführung nach Brasilien mit einer erheblichen dauerhaften Gefährdung des Gesundheitszustandes durch Retraumatisierung und damit Zunahme der Suizidalität verbunden wäre (S. 18 des Gutachtens) lässt mithin den Umstand außer Acht bzw. wird durch den auf der Hand liegenden Umstand relativiert, dass die Klägerin zu 1. vor – zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – weniger als einem Jahr mehrere Monate in Brasilien verbracht hat. Auch ist die Klägerin nach eigener Angabe „seit Jahren schwer psychisch erkrankt“ (Schreiben der C. Asylverfahrensberatung vom 23. Mai 2025 bei der Gerichtsakte, S. 4). Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass die Klägerin zu 1. nach ihrer Rückkehr nach Brasilien mit dem Tod ihres Cousins ein weiteres traumatisierendes Ereignis erlebt habe, fehlt eine Auseinandersetzung mit diesem Geschehensablauf und dessen (möglicher) Folgen für eine Rückführung nach Brasilien.
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Schließlich ist festzustellen, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nach der Rechtsprechung nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik erfordert. Der Nachweis des Ereignisses ist nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es ist ausschließlich Sache des Tatrichters, sich selbst die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen (vgl. BayVGH, B.v. 17.11.2020 – 13a ZB 19.31718 – juris Rn. 6). Insbesondere dass es sich bei der nach der Rückkehr der Klägerinnen nach Brasilien im Jahr 2024 dort erschossenen Person um den Cousin der Klägerin zu 1. handle und diese Tötung weiter im Zusammenhang mit der behaupteten Bedrohung der Klägerin zu 1. durch die Mafia stehe, stellt sich, wie ausgeführt, für das Gericht als nicht glaubhaft dar. Auch das fachärztlich psychiatrische Gutachten geht im Übrigen davon aus, dass bezüglich der „Glaubwürdigkeit und Echtheit“ der seitens der Klägerin zu 1. im Zusammenhang der Untersuchung vorgespielten Video- und Bilddateien zu einem entsprechenden Mordanschlag nur Vermutungen angestellt werden könnten (S. 7, 17), wenngleich die Gutachterin insgesamt aufgrund der Reaktion der Klägerin zu 1. von einer Glaubwürdigkeit ausgeht.
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Die wiedergegebene zusammenfassend getroffene Beurteilung des fachärztlich psychiatrischen Gutachtens lässt mithin keine gesicherten Rückschlüsse zu, ob die konkrete erhebliche Gefahr besteht, dass sich die Krankheit der Klägerin zu 1. alsbald nach einer Rückkehr in ihr Herkunftsland – gegebenenfalls an einen anderen Ort als ihren letzten Wohnort – wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird.
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Unabhängig davon – und selbständig die vorliegende Entscheidung tragend – ist eine erhebliche bzw. lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin zu 1. im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auch deswegen nicht zu erwarten, weil die geltend gemachten Erkrankungen in Brasilien behandelbar sind. Nach der aktuellen Erkenntnismittellage verfügt Brasilien mit dem Sistema Único de Saúde (SUS) über ein kostenloses und universelles öffentliches Gesundheitssystem (vgl. Bertelsmann-Stiftung, BTI 2022 Country Report Brazil, S. 24). Das SUS ist eines der größten und komplexesten öffentlichen Gesundheitssysteme der Welt, das von der einfachen bis hin zur komplexen Versorgung reicht und einen vollständigen, universellen und freien Zugang für die gesamte Bevölkerung des Landes gewährleistet (ZIRF/IOM, 1. Quartal 2020, Medizinische Versorgung). Mit einer sog. SUS-Karte, die auf Antrag erteilt wird, kann die Gesundheitsversorgung in den Gesundheitsinstituten und Krankenhäusern Brasiliens als Teil des SUS-Netzwerks genutzt und Arzneimittel kostenlos erhalten werden (ZIRF/IOM, aaO). Zwar ist der öffentliche Sektor hinsichtlich personeller, apparativer, logistischer und z. T. hygienischer Ressourcen insbesondere in ländlichen Regionen nicht selten defizitär strukturiert. Das öffentliche Netz ist für Notfälle jedoch oft recht gut eingerichtet. Im privaten Sektor ist das medizinische Versorgungsangebot zumindest in den großen Städten überwiegend auf westeuropäischem Standard (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Brasilien, Stand 19.7.2023, S. 18 f.). Konkret mit Blick auf die Betreuung psychisch kranker Personen in Brasilien ist festzustellen, dass in Brasilien Verbesserungen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen im allgemeinen und insbesondere für Patienten mit psychischen Störungen zu beobachten waren. Insbesondere existieren unterschiedliche soziale Hilfsprogramme zur unterstützungsbedürftiger Menschen (MEDCOI II, Brasilien, U.a. stationäre und ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung, BDA-20121213-BR-0001, S. 3).
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Dafür, dass die geltend gemachten psychischen Erkrankungen der Klägerin in Brasilien behandelbar sind, spricht schließlich auch der Umstand, dass die Klägerin nach ihren eigenen Angaben (Anhörungsniederschrift vom 24.11.2021, S. 4) bereits in Brasilien für psychische Erkrankungen behandelt wurde, zumal sie nach eigenen Angaben bereits psychische Probleme seit der Eheschließung mit ihrem mittlerweile getrennten Mann habe (Fachärztlich psychiatrisches Gutachten, S. 3). Es ist vor diesem Hintergrund und aufgrund der individuellen Lebenssituation der Klägerin auch nicht davon auszugehen, dass diese nicht im Stande sein sollte, eine entsprechende Behandlung zu erlangen. Auch sind sonstige Gründe dafür, dass der Klägerin die grundsätzlich zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten in Brasilien tatsächlich nicht zugänglich seien, nicht ersichtlich. Insbesondere lässt sich den vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht entnehmen, dass die Klägerin aufgrund der geltend gemachten psychischen Erkrankungen nicht in der Lage wäre, die theoretisch vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten tatsächlich in Anspruch zu nehmen.
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Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen bleibt es bei der gesetzlichen Vermutung des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, wonach der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen.
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Sonach war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.