Titel:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines integrativen Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, Erhöhter Förderbedarf, Integrativer Betreuungsplatz, Heilpädagogische Leistung, Anordnungsgrund
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 22a Abs. 4
SGB VIII § 24
SGB IX § 79
SGB IX § 113
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines integrativen Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, Erhöhter Förderbedarf, Integrativer Betreuungsplatz, Heilpädagogische Leistung, Anordnungsgrund
Fundstelle:
BeckRS 2025, 18886
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses und bis zum 31. August 2025 vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von täglich mindestens fünf Stunden montags bis freitags mit einem Betreuungsumfang von werktäglich mindestens sechs Stunden nachzuweisen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung nachzuweisen.
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Bei dem am 12. August 2020 geborenen Antragsteller wurde u.a. eine globale Entwicklungsstörung (ICD-10 F83G) sowie eine Autismus-Spektrum-Störung (ICD-10 F84.0G) diagnostiziert und eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 70 festgestellt.
3
Mit E-Mail vom 20. März 2023 übersandten die Eltern des Antragstellers der Antragsgegnerin eine Bedarfsmeldung für einen Integrations- oder heilpädagogischen Betreuungsplatz (im Folgenden: HPT) ab 1. September 2023, worauf die Antragsgegnerin diesen eine Adressliste für „Inklusionskindergärten und HPTs“ übersandte. Die Eltern des Antragstellers standen im Folgenden im regelmäßigen Austausch mit der Antragsgegnerin und bemühten sich bei Einrichtungen um Zusagen. Zudem wurde durch die Antragsseite der Bezirk Oberbayern um Hilfe gebeten, welcher mit E-Mail vom 18. März 2024 auf die ausschließliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin verwies.
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Die Antragsgegnerin teilte mit E-Mail vom 8. April 2024 dem damaligen Bevollmächtigten der Antragsseite mit, dass auch die Verfahrenslotsin trotz vieler Versuche noch keinen geeigneten Betreuungsplatz finden habe könne und weitersuche. Unterschiedliche Stellen seien weiterhin auf der Suche nach einem geeigneten Unterstützungsangebot für die Familie. Auch werde man nochmals mit dem Bezirk Oberbayern in Kontakt getreten, der im Rahmen des Fallmanagements tätig werden müsse.
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In einem psychologischen Bericht des kbo-Kinderzentrums vom 27. August 2024 wurde u.a. ein heilpädagogischer Kindergarten, alternativ ein Integrationskindergarten mit Individualbegleitung empfohlen und festgestellt, dass bei dem Antragsteller aufgrund der bestehenden multiplen Entwicklungsstörung mit Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung, die soziale Integration und die Teilhabe unter gleichaltrigen Kindern eine teilstationäre Maßnahme zur Eingliederung im Sinne von § 99 SGB IX i.V.m. § 53 SGB XII, § 102 SGB IX aus kinderärztlicher und psychologischer Sicht dringend indiziert sei.
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragte beim Verwaltungsgericht München für diesen am 13. Mai 2025 zunächst, die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragssteller vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer heilpädagogischen Tageseinrichtung nachzuweisen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung nach § 24 Abs. 3 SGB VIII habe.
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Nach gerichtlichen Hinweis stellte der Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 14. Mai 2025 klar, dass die Eltern von ihrem Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII Gebrauch machen und einen Regel-Betreuungsplatz wünschen würden, gegebenenfalls mit Individualbegleitung. Es werde mit dem Antrag vom 13. Mai 2025 kein HPT-Platz begehrt.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte elektronisch vor und beantragte mit Schriftsatz vom 28. Mai 2025,
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller bisher nicht hinreichend glaubhaft gemacht habe, dass ein Anspruch auf den Nachweis eines (integrativen) Platzes nach § 24 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 22a Abs. 4 SGB VIII bestehe. Die Antragsgegnerin habe bisher versucht, einen geeigneten Platz für den Antragsteller zu finden und führe diese Bemühungen auch derzeit fort. Die bisherigen Vermittlungsversuche seien bisher erfolglos geblieben, da der Bedarf des Antragstellers nach aktuellem Stand lediglich in einer HPT gedeckt werden könne. Für die Vermittlung von HPT-Plätzen sei die Antragsgegnerin nicht zuständig.
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Mit Schriftsatz vom 11. Juni 2025 führte die Antragsgegnerin ergänzend aus, dass dem Antragsteller ein integrativer Platz in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von sechs bis sieben Stunden täglich im Rahmen der Öffnungszeiten der Einrichtung ab September 2025 angeboten worden sei. Damit sei dem Wunsch der Eltern des Antragstellers überobligatorisch nachgekommen, ihr Kind in einer Regeleinrichtung betreuen zu lassen. Im Übrigen habe sich das Verfahren dadurch erledigt.
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Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2025 erwiderte der Bevollmächtigte der Antragsseite, dass die Eltern des Antragstellers den nach Rechtshängigkeit angebotenen Platz angenommen hätten. Der Platz sei jedoch erst ab dem 1. September 2025 verfügbar; eine Erledigungserklärung könne daher nicht abgegeben werden. Der Antrag werde wie folgt geändert:
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Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerpartei vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung im Umfang von täglich mindestens 5 Stunden montags bis freitags bis zum 31.08.2025 nachzuweisen.
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Mit Beschluss vom 24. Juni 2025 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen.
15
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Der zuletzt im Verfahren gestellte Antrag hat Erfolg.
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Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Voraussetzung für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatschlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Die Voraussetzungen des § 24 Abs. 3 SGB VIII, wonach ein Kind, dass das dritte Lebensjahr vollendet hat, ohne weitere Voraussetzungen bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung sind erfüllt. Auch die Bedarfsmeldung hierfür erfolgte rechtzeitig durch die Eltern des Antragstellers.
22
Zudem hat die Antragstellerseite – entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin – hinreichend glaubhaft gemacht, dass der Bedarf des Antragstellers durch einen Betreuungsplatz nach § 24 Abs. 3 SGB VIII, ggf. in Verbindung mit einer Individualbegleitung, gedeckt werden kann.
23
Die „Förderung in einer Tageseinrichtung“ steht grundsätzlich allen, also auch Kindern mit Behinderung offen (vgl. VG München, B.v. 17.12.2024 – M 18 E 24.6808 – juris Rn. 27; VG Hannover, B.v. 12.3.2025 – 3 B 581/25 – juris Rn. 45 ff. (entgegen den dortigen Ausführungen unter Rn. 49 vertritt das erkennende Gericht insoweit in der genannten Entscheidung keine abweichende Ansicht); Wiesner/Wapler/Struck/Schweigler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 24 Rn. 62, § 22a Rn. 19 ff., beck-online; BeckOGK/Etzold, 1.6.2023, SGB VIII § 24 Rn. 47, beck-online).
24
Gemäß § 22 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII soll sich die Förderung am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethische Herkunft berücksichtigen. Sofern die Bedürfnisse bzw. der Förderbedarf des Kindes im Einzelfall, etwa aufgrund des Vorliegens einer Behinderung, erhöht ist, ist der Anspruch auf Nachweis eines Platzes, der eben diesem individuellen, qualifizierten Bedarf gerecht wird, gerichtet. § 22a Abs. 4 SGB VIII sieht dementsprechend – ebenso wie Art. 12 Abs. 1 BayKiBiG – vor, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam gefördert werden sollen, um eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. (vgl. Rixen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., § 24 SGB VIII, Stand: 01.08.2022, Rn. 28).
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Es ist daher Aufgabe der Antragsgegnerin im Rahmen ihrer Planungsverantwortung nach § 79 SGB VIII dafür zu sorgen, dass ausreichend integrative Kindertageseinrichtungen im Sinne von Art. 2 Abs. 3 BayKiBiG zur Verfügung stehen und kann sie sich daher insoweit auch nicht auf eine Kapazitätserschöpfung berufen (stRspr., VG München, B.v. 27.3.2024 – M 18 E 24.876 – juris Rn. 23 m.w.N.; grundlegend: BVerwG, U.v. 26.10.2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 35; BVerfG, U.v. 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16 – juris Rn. 134).
26
Sofern ein Kind in einer Einrichtung im Sinne von § 24 SGB VIII i.V.m. § 22a SGB VIII jedoch nicht (mehr) seiner wesentlichen Behinderung entsprechend gefördert werden kann scheidet ein Anspruch auf eine gemeinsame Betreuung mit Kindern ohne Behinderung in einer Regeleinrichtung nach § 24 Abs. 3 SGB VIII auch unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG aus (VG München, B.v. 17.12.2024 – M 18 E 24.6808 – juris Rn. 27; NdsOVG, B.v. 15.10.2013 – 4 ME 238/13; Wiesner/Wapler/Struck/Schweigler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 24 Rn. 62, § 22a Rn. 21a, beck-online; BVerfG, B.v. 10.2.2006 – 1 BvR 91/06 – juris). Vielmehr hat das Kind dann im Rahmen der Eingliederungshilfe einen Anspruch nach § 35a SGB VIII bzw. § 113 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX i.V.m. § 79 SGB IX auf den Besuch einer Einrichtung, die diesem Bedarf gerecht wird (Wiesner/Wapler/Struck/Schweigler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 24 Rn. 62, § 22a Rn. 19 ff., beck-online; Christian Grube in: Hauck/Noftz SGB VIII, 1. Ergänzungslieferung 2024, § 22a SGB VIII, Rn. 8; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 22a Rn. 14, beck-online).
27
Ein solcher Anspruch richtet sich in Bayern gemäß Art. 64 AGSG unabhängig von der Art der Behinderung gegen den Träger der Eingliederungshilfe nach den Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, folglich den Bezirken, Art. 66d Abs. 1 Satz 1 AGSG. Die Ausführungen des VG Hannover vom 12. März 2025 (a.a.O., Rn. 53 ff.) zum Anspruch eines Kindes auf Nachweis eines heilpädagogischen Betreuungsplatzes gegen das Jugendamt sind hingegen auf Grund des abweichenden Landesrechts vorliegend nicht übertragbar.
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Es bedarf daher vorliegend für einen Anspruch nach § 24 SGB VIII gegen den Träger der Kinder- und Jugendhilfe einer Betrachtung des individuellen Bedarfes des Antragstellers. Sofern dieser so wesentlich ist, dass eine Bedarfsdeckung in einer Regeleinrichtung (wozu auch integrative Einrichtungen zählen, s.o.) ggf. auch mit unterstützenden Leistungen nicht mehr geleistet werden kann, besteht auch kein Anspruch gegen den Jugendhilfeträger nach § 24 i.V.m. § 22a SGB VIII.
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Der Antragsteller hat vorliegend hinreichend glaubhaft gemacht, dass sein Förderbedarf zumindest nicht ausschließlich über einen heilpädagogischen Betreuungsplatz, sondern auch durch einen integrativen Betreuungsplatz ggf. mit Individualbegleitung gedeckt werden kann, so dass (unabhängig von einem möglicherweise ebenfalls bestehendem Anspruch auf eine HPT-Platz gegenüber dem Bezirk Oberbayern) ein Anspruch auf den Nachweis eines solchen integrativen Platzes nach § 24 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 22a Abs. 4 SGB VIII besteht.
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Das Gericht verkennt hierbei nicht den deutlich erhöhten Förderbedarf des Antragstellers, welcher auch zu mehrfachen Absagen von Kindertagesstätten geführt hat. Allerdings kann insbesondere aus dem ausführlichen Gutachten des kbo-Kinderzentrums vom 27. August 2024 nicht geschlossen werden, dass der Antragsteller so wesentlich behindert ist, dass sich ausschließlich eine Betreuung in einer heilpädagogischen Betreuungseinrichtung als bedarfsdeckend darstellt.
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Der Antragsteller befand sich vom 28. Mai 2024 bis 25. Juni 2024 gemeinsam mit seiner Mutter stationär in im kbo-Kinderzentrum. Dort erfolgte eine medizinische und psychologische Diagnostik und Therapie, Eltern-Kind-Interaktionsanleitung, begleitende psychologische Gespräche, Ergotherapie, Musiktherapie, Montessori-Therapie sowie Sozialdienst. Aus den Schilderungen des stationären Verlaufs ergibt sich, dass der Antragsteller positive Entwicklungen gezeigt hat, es ihm zunehmend gelang, sich auf Neues einzulassen, sich zurechtzufinden und sich sein Abwehrverhalten reduzierte. So gelang es, dass der Antragsteller bis zum Ende des Klinikaufenthalts ganz ohne den Kinderwagen lief und spielte. Er nicht mehr panisch reagierte und sich auf das Spielen einließ. Seine motorischen Tätigkeiten konnten immer mehr verfeinert werden, sodass er am Ende feinmotorische Arbeiten meistens alleine erledigen konnte. Die auf dieser über vier Wochen dauernden stationären Behandlung beruhende Empfehlung der Klinik für einen heilpädagogischen Kindergarten, alternativ einen Integrationskindergarten mit Individualbegleitung scheint vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Zudem davon auszugehen, dass der Antragsteller seit diesem Klinikaufenthalt vor nunmehr einem Jahr weitere, erhebliche Fortschritte gemacht hat, insbesondere da die Eltern des Antragstellers im Rahmen des Klinikaufenthalts ebenfalls umfassend beraten und angeleitet wurden. Aus alledem ergibt sich für das Gericht kein Bild, dass der Antragsteller so wesentlich behindert ist, dass eine Bedarfsdeckung in einer Regeleinrichtung gegebenenfalls mit weiteren unterstützenden Maßnahmen nicht möglich erscheint.
32
Der bereits seit 13. August 2023 bestehende Anspruch des Antragstellers wurde durch den Nachweis eines Betreuungsplatzes zum 1. September 2025 im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für den Zeitraum bis dahin nicht erfüllt, sodass ein (auf den 1. September 2025 befristeter) Anordnungsanspruch weiterhin besteht.
33
Zudem hat der Antragsteller auch (noch) einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
34
Ein Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung.
35
Das Gericht hält im Verfahren nach § 123 VwGO zum Nachweis eines Betreuungsplatzes nach § 24 SGB VIII – wie vorliegend – regelmäßig alleine das irreversible Nichterfüllen des Anspruchs für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes als ausreichend (so auch SächsOVG, B.v. 7.7.2017 – 4 B 100/17 – juris Rn. 10; VG Hannover, B. v. 12.3.2025 – 3 B 581/25 – juris, Rn. 38 ff.) und folgt nicht der Ansicht, dass insoweit der Betreuungsbedarf des Kindes mit Blick auf die Arbeitssituation der Eltern eine besondere Rolle spielt (so aber VGH BW, B.v. 27.9.2024 – 12 S 883/24 – juris Rn. 26 m.w.N).
36
Denn die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs dürfen mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht über das hinausgehen, was für ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren gefordert werden könnte, wenn effektiver Rechtsschutz nur im Wege einer einstweiligen Anordnung geleistet werden kann. Das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG deshalb dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, d. h. wenn die zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht (BVerfG, B. v. 28.11.2009 – 1 BvR 1702/09 – juris Rn. 14 ff.).
37
Der dem Kind zustehende Anspruch nach § 24 Abs. 3 SGB VIII dient maßgeblich der Förderung des Kindes hinsichtlich seiner sozialen, emotionalen, körperlichen und geistigen Entwicklung, § 22 Abs. 3 SGB VIII. Dieser umfassende Anspruch auf Förderung würde bei einer Verneinung des Anordnungsgrundes irreversibel – und in aller Regel langfristig bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren – verloren gehen. Insbesondere unter Berücksichtigung der umfangreichen Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern im hier maßgeblichem Lebensalter führt das primäre Abstellen auf den reinen Betreuungsbedarf des Kindes mit Blick auf die Arbeitssituation der Eltern zu einer erheblichen Reduzierung dieses umfassenden Förderanspruchs des Kindes (so auch VG Hannover, B. v. 12.3.2025 – 3 B 581/25 – juris, Rn. 38 ff.), worin das Gericht regelmäßig einen erheblichen und unzumutbaren Nachteil sieht.
38
Das Gericht sieht daher vorliegend, auch trotz der geringen Zeitspanne des Regelungsbedarfs, den Anordnungsgrund als noch gegeben an.
39
Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Anspruch des Antragstellers bereits seit fast zwei Jahren durch die Antragsgegnerin nicht erfüllt wurde und diese auch weiterhin davon ausgeht, dass sie nicht zum Nachweis nach § 24 Abs. 3 SGB III verpflichtet ist, sondern lediglich ab 1. September 2025 „überobligatorisch“ leiste. Die Betreuung und insbesondere Förderung des schwerbehinderten Antragstellers in einer geeigneten Einrichtung ist jedoch dringlich. Mit jedem weiteren Zuwarten bleiben erhebliche Entwicklungsmöglichkeiten des Antragstellers – über die er entsprechend dem Bericht des kbo-Kinderzentrums in erheblichem Umfang verfügt – ungenutzt. Dies führt zu einem unzumutbaren Nachteil für den Antragsteller. Der Anordnungsgrund ist daher vorliegend zu bejahen, auch wenn ein sofortiges Betreuungsangebot möglicherweise einen Einrichtungswechsel zum 1 September 2025 zur Folge hätte (vgl. allg. hierzu: OVG NW, B.v. 1.7.2024 – 12 B 528/24 – juris Rn. 15).
40
Der Antragsgegnerin ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. VG München, B.v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 44 m.w.N.).
41
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
42
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.